Glaube an Gott und binde dein Kamel fest - Warum Religion unserer Seele guttut

von: Nossrat Peseschkian

Verlag Herder GmbH, 2011

ISBN: 9783451338762 , 280 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 7,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Glaube an Gott und binde dein Kamel fest - Warum Religion unserer Seele guttut


 

1 Ist es nicht sonderbar, dass die Menschen so gerne für die Religion fechten und so ungern nach ihren Vorschriften leben? (Lichtenberg)

Verschiedene Wissenschaftler über Religion: R. Battegay, R. M. Bonelli, U. Schaefer, H. A. Kick, W. Paris und F. Biland


Die Gotteserfahrung im Menschen

Raymond Battegay3, Basel (Schweiz)

 

Die Geschichte des Judentums umfasst über 3000 Jahre. Diese Religion rückte die bilderlose Gottesverehrung und die Zehn Gebote mit ihren fundamentalen theologischen, ethischen und sozialen Weisungen ins Zentrum des Denkens und Lebens des jüdischen Volkes. Wesentliche Erkenntnisse davon strahlten auf die weitaus größeren christlichen und muslimischen Religionsgemeinschaften aus, wie auch auf andere monotheistische Religionen. Einerseits lebt der Mensch im ständigen Bemühen, sich selbst zu finden, andererseits strebt er danach, bis an die Grenzen des Erlebbaren vorzustoßen. Er möchte letztlich, sich als Ebenbild Gottes verstehend, seine Einmaligkeit erfahren, aber auch die Gewissheit erlangen, dass eine höhere, ihm Geborgenheit und Sinn vermittelnde Macht besteht, die ihn in seinem Werden und über seinen Tod hinaus begleitet und auch die folgenden Generationen beschützt.

C.G. Jung4 sprach von einem in jedem Individuum angelegten archaischen Gottesbedürfnis, das er Gottesarchetypus nannte. In dieser Sicht möchte der Mensch Erleichterung für seine existenziellen Ängste finden und Anteil an der göttlichen Ewigkeit erlangen.

Wie der Philosoph und Psychiater Karl Jaspers5 bemerkte, vermag der Mensch seine Sterblichkeit emotional nicht zu begreifen. Er lebt unbewusst und unbedacht, trotz seiner intellektuellen Einsicht in die Begrenztheit seines Lebens, in einer Ewigkeitsillusion. Er plant und schafft Werke, als hätte er für alle Zeiten am Dasein Anteil. Versucht er, sich das Leben zu nehmen, so ist ihm, wie wir aus Abschiedsbriefen von Selbstmördern oder von Geretteten wissen, das Unwiederbringliche bei seiner Handlung nicht vollständig bewusst. Wie wir z. B. auch von Jean Améry wissen6, der in mehreren Essays über den Selbstmord nachdachte und sich schließlich auch das Leben nahm, glauben Selbstmörder bewusst oder zumindest unbewusst, dass sie trotz ihrer fatalen Handlung und nach ihrem Tod in Kontakt mit der Welt bleiben, die sie umgab. Der Akt der Selbsttötung enthält deshalb unbewusst auch die – meist aus mangelnder Selbstidentität heraus entstandene – kompensatorische Größenidee. Sie besagt, dass diese Menschen meinen, die natürlichen Schranken überschreiten zu können, die dem Menschen gesetzt sind. Sie glauben, auf irgendeine Weise mit ihrem Akt der Selbsttötung ein Jenseits in den sozialen Bezügen herbeiführen zu können, in dem ihnen keine Grenzen mehr gesetzt sind und wo sie die Gesetze der Natur überwinden und damit, gottähnlich, unbeschwert am ewigen Leben teilnehmen können7.

Nach der Schöpfungsgeschichte im Alten Testament ist jeder Mensch in seinem inneren Wesen, nicht in der äußeren Erscheinung, ein »Ebenbild Gottes«, wenn man so will, also auch ein Stück Unsterblichkeit. Das Christentum verlegte das Ebenbild Gottes auf Jesus Christus, und mit seiner Gottessohnschaft zog diese Unsterblichkeit auch in den menschlichen Bereich ein. Im Innersten des Menschen ist also die Gottesbeziehung, dieser Bezug zum Ewigen, enthalten. In der griechisch-römischen Antike und in anderen alten Kulturen verkörperten die Götter die Unsterblichkeit, nach der sich der Mensch so sehnt.

Platon8 lässt in seinem Dialog Phaidon den Sokrates wie folgt sagen: »Die Gottheit jedenfalls«, bemerkte Sokrates, »und die Idee des Lebens und wenn sich außerdem Unsterbliches noch finden sollte, wird niemals untergehen – darüber sind sich alle einig. Ja, alle«, sagte er, »bei Zeus, die Menschen und noch mehr, wie mich bedünkt, die Götter. Da nun bekanntlich das Unsterbliche auch unzerstörbar ist, muss dann nicht auch die Seele, sofern sie unsterblich ist, auch unzerstörbar sein?

Der Schluss ist zwingend, das heißt, sobald der Tod den Menschen antritt, stirbt also das, was sterblich ist, an ihm. Doch das Unsterbliche geht heil und unzerstört von dannen; ganz leise hat es sich dem Tod entzogen.«

In diesen Überlegungen ist der Wunsch des Menschen nach ewigem Leben beim Innewerden seines schwachen und vergänglichen Selbst zu erkennen. Die monotheistischen Religionen stellen die Unsterblichkeit des einen, unerfassbaren Gottes ins Zentrum ihrer Lehre. In der Unsterblichkeit seines Gottes versucht der Mensch seine Zeitlichkeit zu überwinden. Die Bereitschaft zur Gotteserfahrung der monotheistischen Religionen dürfte wohl kaum einen gewichtigen anderen Ursprung haben als jenes Gewahrwerden der menschlichen Ohnmacht angesichts der nicht erfassbaren Dimensionen des Kosmos, der den Menschen umgibt.

Wir können die Treue zu Gott und den Glauben an Gott nicht mit rational-naturwissenschaftlichen Mitteln erfassen. Und doch gibt das Göttliche dem Menschen in der unendlichen Größe des Universums – oder der heute angenommenen Universen – die Gewissheit, dass ihm ein mächtiger Begleiter zur Seite steht, der ihn beschützt, aber auch zur Bescheidenheit zwingen müsste.

Sind nicht auch die so genannten Atheisten im Grunde Gottsuchende, die allerdings vergeblich nach einer wissenschaftlich überprüfbaren und beweisbaren Gottesinstanz forschen, statt sie in ihrem Inneren zu suchen? Die unzerstörbare Gottesidee im Kern des Menschen könnte die Menschheit einen. Die ihm eigenen kompensatorischen Größenideen, die seine relative Unscheinbarkeit überbrücken sollten, lassen ihn indes oft seine Möglichkeiten überschätzen und ihn verleiten, die Ideen seiner (religiösen) Gruppe, in die er hineingeboren ist oder die durch seinen Beschluss die seine geworden ist, als die einzige Wahrheit zu interpretieren.

Der in der Bibel angekündigte messianische Friede kann indes dereinst nur dann eintreten, wenn die Menschen nach den vielen Konflikt- und Kriegserfahrungen in Vergangenheit und Gegenwart endlich erkennen, dass sie auch in und mit einem Kollektiv nicht allmächtig sind. Eine Erlösung zum allgemeinen Frieden in der Menschheit wird nur dann möglich sein, wenn die in allen Erdenbürgern schlummernde Gottessehnsucht in aller Bescheidenheit in den individuellen und kollektiven Bezügen verwirklicht wird.

Psychiatrie und Religiosität

Raphael M. Bonelli, Graz (Österreich)

 

In der Psychiatrie ist das Thema Religiosität im Kommen. Im Vergleich zu seiner gesellschaftlichen Bedeutung wurde der Faktor Religiosität in der medizinischen (und besonders in der psychiatrischen) Forschung lange Zeit vernachlässigt, ja tabuisiert9. Vor allem in den USA weckt Religion wieder wissenschaftliches Interesse. Zahlreiche US-amerikanische Autoren10 propagieren die Integration der spirituellen Dimension in den medizinischen Heilungsprozess und sind sogar überzeugt, dass praktizierte Religiosität erwiesenermaßen gesundheitsfördernd ist. In Europa dagegen wird oft allein die Fragestellung schon als unwissenschaftlich abgelehnt. Wer sich bemüht, die spirituelle Dimension in den Medizinalltag zu integrieren, muss sich manchmal den Vorwurf gefallen lassen, die vorgelegten Studien seien methodisch schwach und die Datenlage insgesamt widersprüchlich11. Kritische Stimmen meinen außerdem, die zunehmende Aufmerksamkeit der Ärzte für die Spiritualität ihrer Patienten könne zu Missbräuchen führen, weil gerade kranke Menschen besonders anfällig für Manipulation seien12.

Das Thema Religiosität in Zusammenhang mit der Psychiatrie erzeugt eine starke Ambivalenz (vergleichbar mit Themen wie »Euthanasie« oder »Intelligentes Design«), die sich am Ende auch in einer Spaltung unter den Wissenschaftlern äußert. Diese Ambivalenz könnte man mit der Angst vor einem neuen Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft deuten, die mancherorts vielleicht Erinnerungen an den Fall Galileo Galilei wecken. In der Tat findet sich für fast jede Meinung in diesem Feld irgendein »wissenschaftlicher« Beleg.

Die wohl umfangreichste und methodisch sauberste Studie wurde im Jahr 2003 von dem renommierten Psychiater Kenneth S. Kendler und Mitarbeitern im American Journal of Psychiatry veröffentlicht13. Dabei wurden 2616 Männer und Frauen anhand eines ausführlichen Fragebogens untersucht. Signifikant waren Geschlecht (Frauen religiöser als Männer), Alter (Ältere religiöser) und Bildungsstand (höhere Bildung religiöser) mit der Religiosität assoziiert. Interessanterweise waren Frauen in sechs von sieben Faktoren religiöser, nur beim Faktor »Gottesgericht« zeigten sich die Männer eifriger.

Religiosität ist mit der menschlichen Psyche und dem täglichen Leben natürlicherweise eng verwoben, was – auch durch ihren absolut privaten Charakter – die psychotherapeutischen Interventionen besonders heikel macht. Es bedarf eines in religiösen Fragen sensiblen Psychiaters, weil praktisch alle psychischen Probleme bei religiösen Patienten auch eine religiöse Dimension haben. Da es nunmehr deutliche naturwissenschaftliche Hinweise gibt, dass Religiosität einen positiven Einfluss auf den Verlauf einer psychiatrischen Krankheit hat, scheint die Wertschätzung dieser Dimension noch dringender geraten.

Diese besagte Sensibilität kann ein Facharzt in der Praxis, der...