Der Reiter formt das Pferd - Tätigkeit und Entwicklung der Muskeln des Reitpferdes

von: Udo Bürger, Otto Zietzschmann

FNverlag, 2016

ISBN: 9783885429272 , 120 Seiten

5. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 11,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Der Reiter formt das Pferd - Tätigkeit und Entwicklung der Muskeln des Reitpferdes


 

Kapitel 1

Allgemeines über Muskeltätigkeit


Die aktiven Bewegungsorgane des Körpers sind die Muskeln, die sich in sinnvoller Weise an zwei oder mehreren Knochen des Skeletts anheften und über ein oder mehrere Gelenke hinwegziehen. Man hat sich daran gewöhnt, die Skelettmuskulatur als „willkürliche“, d.h. dem Willen unterworfene, zu bezeichnen. Das ist nur bedingt richtig. Wohl wird der Beginn einer Bewegung durch den Willen ausgelöst, aber ihr Ablauf und unter Umständen eine überaus vielgestaltige Folge von koordinierten Mitbewegungen werden durch eine Reihe von geordneten Reflexen vollzogen, ohne dass die Einzelphase dieses ganzen Bewegungskomplexes vom Bewusstsein aufgenommen wird. Aus einer breiten Unterteilung dieser selbstständigen Reflexe genügt für die nachfolgenden Betrachtungen die Kenntnis, dass es allgemeine Haltungsreflexe, Bewegungsreflexe und haltungsbedingte Bewegungsreflexe gibt. Der Reiter braucht davon nur zu wissen, dass der Tonus (gleich Spannungszustand) einzelner Muskeln und ganzer Muskelgruppen durch Reflexe angeregt und erhalten wird und dass diese Reflexe einerseits in Abhängigkeit von der Körperstellung (gleich Haltung) stehen, andererseits voneinander abhängig und sehr weitgehend untereinander verkoppelt sind. Daraus ergibt sich eine Abhängigkeit des Spannungszustandes verschiedener Muskelgruppen voneinander und zwar entweder im gleichen oder im umgekehrten Sinne (Synergisten-Antagonisten).

Noch einleuchtender sind diese Abhängigkeitsverhältnisse am anatomischen Muskelpräparat zu studieren. Die Muskeln an den Gliedmaßen werden nach ihrer Lage zu den Gelenken und nach ihrer Tätigkeit in Beuger und Strecker eingeteilt. Die Tätigkeit der Rumpfmuskeln ist nicht auf einen so einfachen Nenner zu bringen. Sie heften sich über große Flächen hinweg bzw. in langen Reihen am Rumpfskelett an, und die Wirkungsgebiete verschiedener Muskelgruppen greifen ineinander; darüber hinaus sind viele unter sich mittels bindegewebiger Häute (Faszien) verbunden und somit noch in weiterem Maße voneinander abhängig. Diese Abhängigkeit hat zur Folge, dass in der Bewegung die großen Muskelgruppen in einem geordneten Zusammenspiel arbeiten müssen, und dass dieses Zusammenspiel gestört wird, wenn nur eine der großen Muskelgruppen in ihrer freien natürlichen Tätigkeit durch den Reiter behindert wird. Nur das harmonische Zusammenarbeiten der gesamten Körpermuskulatur verbindet die höchste Leistung mit Schönheit der Bewegung. Dem Reiter soll es gelingen, sich in diese Harmonie einzufühlen bzw. sie während der Ausbildung eines jungen Pferdes zu erwecken und zu erhalten, sie aber keinesfalls zu stören. Nur dann wird er über die Bewegungen und die vier Beine des Pferdes mit seinen Hilfen verfügen, als wäre er damit verwachsen.

Das Pferd ist auf Grund seines ganzen Körperbaues zum Reittier geschaffen. Sein Skelettsystem ist von jeher ein geeignetes Objekt für Untersuchungen über die Wechselbeziehungen zwischen Form und Funktion. Die einseitige Gebrauchsweise des Bewegungsapparates zum Stehen und zum mehr oder weniger beschleunigten Gang in möglichst gerader Richtung nach vorn hat deutliche Anpassungserscheinungen des Knochengerüstes an diese Art der Funktion herbeigeführt. Die Stammesgeschichte gerade des Pferdes ist ja durch Funde von Vorfahren mit ursprünglich fast voller Zahl der Fußknochen und dann folgender allmählicher Rückbildung der Zahl der Zehen- und Mittelfußknochen sowie der Elle und des Wadenbeins in fast geschlossener Reihe belegt.

In Verbindung mit der Rückbildung des Gliedmaßenskeletts bei den Pferdeahnen bis zu dessen hochgradig vereinfachter und gefestigter Form beim jetzigen Pferd musste auch der aktive Bewegungsapparat mehr oder weniger gleichzeitig sich in Form und Funktion verändern. Diese Veränderungen betreffen die Lage und den inneren Aufbau der Muskeln. Auf die Lage hier einzugehen erübrigt sich; sie wird im Einzelnen in den Sonderkapiteln angegeben. Die Veränderungen, die im inneren Aufbau der Muskeln vor sich gehen, betreffen die Anordnung und damit verbunden die Zahl und Länge der Muskelfasern. Es gibt Muskeln, die praktisch ausschließlich aus parallel zueinander angeordneten Zellen (gleich Fleischfasern) bestehen; diese Fasern durchsetzen den Muskel in seiner ganzen Länge unter annähernd parallelem Verlauf (Abbildung 1). Am Ende sich rasch verjüngend, gehen sie in dünnere Sehnenfasern aus, die alle zusammen die dem Muskelbauch gegenüber schlankere Sehne

Abbildung 1:
Lang- und geradfaseriger Muskel

bilden. Diese Sehne setzt am Knochen an, in dessen Beinhautüberzug sie sich fest verankert. Die Funktion eines solchen Muskels ist, sich kräftig zusammenzuziehen und wieder nachzugeben, d.h. sich passiv durch Gegenmuskeln (Antagonisten) wieder dehnen zu lassen. Diese langfaserigen Muskeln verkürzen sich dank der Länge ihrer Bauelemente in sehr hohem Maße (große Hubhöhe); sie führen demzufolge Bewegungen mit großem Ausschlag aus und dienen in erster Linie der Vorwärtsbewegung. In ihnen sammeln sich außerordentlich schnell Ermüdungsstoffe an, wenn sie gezwungen sind, in Dauerkontraktion (-spannung) zu verharren. Dann schwellen sie unter Austritt von Flüssigkeit (Lymphe) in den Gewebszwischenräumen an und schmerzen infolge des dadurch erzeugten Druckes auf die Nervenenden. Je rhythmischer der Wechsel zwischen Kontraktion und Dehnung, desto besser ist die Durchblutung, also auch die Abfuhr der Stoffwechselprodukte, und desto geringer die Ermüdung.

Andere Muskeln sind mehr oder weniger stark sehnig durchsetzt und überzogen. Die sehnigen Einlagerungen betreffen nur den Anfangs- oder den Endteil eines Muskels; sie können aber auch den ganzen Muskelbauch der Länge nach durchziehen, sodass sie über den Muskel hinweg Anfangs- und Endsehne miteinander verbinden. Es handelt sich dabei um sehnige Stränge von manchmal bedeutender Stärke oder um plattenförmige Einlagerungen. Ja, es kommt sogar vor, dass ein Muskel als Ganzes sich in einen Sehnenstrang verwandelt, der dann nur noch passiv als Spannband wirkt, was für die Stellung und Unterstützung der überbrückten Gelenke beim Stehen oder bei der Lastübernahme im Gang von großer Bedeutung ist. In der Funktion nimmt das zugwiderstandsfähige Sehnengewebe dem kontraktilen Muskelgewebe die rein passive Arbeit des Tragens ab. Bei all diesen mit sehnigen Sonderapparaten ausgestatteten Muskeln sind die kontraktilen Muskelfasern nicht parallel, sondern schräg zur Längsachse des Muskels angeordnet; sie können deshalb nicht den ganzen Muskelkörper durchziehen, sondern sie springen von einer sehnigen Ratte zur anderen über. Bei dieser Anordnung ist die einzelne Muskelfaser verkürzt, ihre Zahl im Gesamtmuskel aber um ein vielfaches vermehrt (Abbildung 2). Da jede Muskelfaser gleicher Dicke die gleiche Kraft zu entfalten vermag, ob sie kurz oder ob sie lang ist, so wird es verständlich, dass bei einem solchermaßen gefiederten Muskel die Hubkraft in entsprechendem Maße vermehrt sein muss. Je mehr Arbeitskräfte (Muskelfasern) in einem Muskel untergebracht sind, (je größer der physiologische Querschnitt ist), umso größer ist seine Kraft.

Abbildung 2:
Schrägfaseriger Muskel mit sehnigen Einlagerungen (Verstärkungen) Das 2. Bild stellt den schrägfaserigen M. biceps am Vorarm dar mit seiner durchgehenden Sehne und dem abstrahlenden Lacertus fibrosus.

Es wird angenommen, dass diese Bauverschiedenheiten wesentliche Unterschiede in der Leistung bedingen. Sie sollen entscheidend sein für Speed- und Stehvermögen (Schnelligkeit und Ausdauer) der Rennpferde in dem Sinne, dass Pferde, deren Muskeln in stärkerem Maße sehnig durchsetzt sind, Steher, d.h. ausdauernde Galoppierer sind, während die anderen auf kurzer Strecke höhere Geschwindigkeit erreichen können, aber früher ermüden. Es sei hier aber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein Beweis für diese Theorie nicht erbracht ist.

Aus der Kenntnis der Anatomie eines Muskels nach Lage und innerem Bau ist auf seine Aufgabe zu schließen. Die sehnig durchsetzten, kurzfaserigen Muskeln können lange Zeit als elastische Spanner haltend wirken. Sie übernehmen alle Arbeit, die für längere Dauer in gleichmäßiger Spannung oder Dehnung zu leisten ist. Sie geben als statische Organe dem Pferde die vom Reiter verlangte Haltung, und sie übernehmen es, das Reitergewicht auszubalancieren. Dagegen sind die in der Hauptsache aus langen Fasern ohne Sehneneinlagerungen bestehenden Muskeln ausschließlich für die Fortbewegung da, in schnellem Wechsel zwischen Kontraktion und Dehnung. Werden sie zum Tragen oder zum dauernden Halten beansprucht, dann werden sie frühzeitig ermüden, zuerst in krampfhaften Spannungszustand übergehen und später erschlaffend nachgeben.

Darüber hinaus muss noch auf eine bisher wenig beachtete Funktion der Muskeln an den Gliedmaßen hingewiesen werden. Bei überstarker Belastung, wie beim Landen nach dem Sprung, verhindern die Beugemuskeln ein Überstrecken der Gelenke, während die Streckmuskeln die offenen, federnden Gelenke in angemessener Beuge erhalten, das vollständige Einknicken verhindern, damit die ganze Last auffangen und elastisch ausfedern. Im Gegensatz zur aktiven Beugung und Streckung ist diese Funktion eine passive oder statische Beanspruchung der Streckmuskeln, ein Gegenhalten bis zur Dehnung. Ihr folgt die aktive Kontraktion zur Fortführung der Bewegung unmittelbar. Gerade diese Funktion hat für das Reitpferd eine ganz hervorragende Bedeutung bei der Hankenbiegung (Hankenbeugung) und beim Landen nach dem Sprung.

Die Förderung der Muskelkraft ist gleichbedeutend mit einer Anregung des Muskelwachstums. Ein Muskel wächst durch Übung nur, wenn er seiner Lage und seinem...