Arbeit und Bürgerstatus - Studien zur sozialen und industriellen Demokratie

von: Walther Müller-Jentsch

VS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV), 2009

ISBN: 9783531917900 , 310 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 35,96 EUR

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Arbeit und Bürgerstatus - Studien zur sozialen und industriellen Demokratie


 

"7 Versuch über die Betriebsverfassung – Mitbestimmung als interaktiver Lernprozess (S. 152-153)

Der wechselvollen Geschichte des Betriebsrats verdanken wir die Einsicht, dass die betriebliche Mitbestimmung, wie sie uns heute geläufig ist, das Ergebnis eines langen Lernprozesses durch Institutionen darstellt. Als eine eigenständige, gesetzlich abgesicherte Institution der Mitbestimmung wird der Betriebsrat zwar heute von Gewerkschaften wie Unternehmern weitgehend anerkannt und geschätzt, in der Vergangenheit stand er nicht selten im Widerstreit der Meinungen der an der Regelung der Arbeitsverhältnisse beteiligten Akteure. Auch in der Sphäre sozialwissenschaftlicher Reflexion erfuhren Rolle und Funktion des Betriebsrats unterschiedliche Bewertungen.

I.

In seiner Abhandlung über „Die deutsche Betriebsverfassung"" erklärt Otto Neuloh die Entstehung der betrieblichen Mitbestimmung aus drei „Handlungslinien"": der „Angebotslinie der Unternehmer"", der „Forderungslinie der Arbeiterbewegung"" und der „Gesetzgebungslinie"" (1956: 109). Anfänglich taten sich Unternehmer wie Arbeiterbewegung mit dem Problem der Betriebsrepräsentanz allerdings sehr schwer. Wenn auch die ersten Realformen „betrieblicher Mitbestimmung einigen sozial eingestellten Betriebsleitungen"" (Teuteberg 1961: 525) zu danken waren, so beharrte doch die Mehrheit der Arbeitgeber auf der ungeteilten Autoritätsausübung in ihren Unternehmen, sei es aus absolutistischer, sei es aus patriarchalischer Gesinnung (Grebing 1966: 73ff.).

Auch Gewerkschaften und Sozialdemokratie lehnten die Vorläufer des Betriebsrats, die Fabrik- und Arbeiterausschüsse, die im späten Kaiserreich ihre erste gesetzliche Verankerung fanden,68 prinzipiell ab. Der Führer der deutschen Sozialdemokratie, August Bebel, vermochte anlässlich der Reichstagsdebatte über die Einführung von Arbeiterausschüssen in ihnen nicht mehr als ein „scheinkonstitutionelles Feigenblatt"" zur Verhüllung des Fabrikfeudalismus zu erkennen (zit. n. Teuteberg 1961: 381).

Und in den Freien Gewerkschaften hatten die Erfahrungen mit den wirtschaftsfriedlichen, „gelben"" Werkvereinen, wie Heinrich Potthoff darlegt, starke Aversionen gegen eigenständige Betriebsorganisationen erzeugt (1987: 190). Mit der Burgfriedenspolitik während des Ersten Weltkriegs änderten die Freien Gewerkschaften und die Mehrheits-Sozialdemokratie indessen ihre Ansichten über betriebliche Vertretungsorgane.

Die mit dem Gesetz über den Vaterländischen Hilfsdienst von 1916 vollzogene Anerkennung der Gewerkschaften und vorgeschriebene Einrichtung von Arbeiterausschüssen in Betrieben mit über 50 Beschäftigten feierte die Gewerkschaftsführung „als wichtigen Schritt auf dem Weg zur Verwirklichung ihrer sozialpolitischen Reformvorstellungen"" (Schönhoven 1987: 260). Aber weniger die mit dem Hilfsdienstgesetz für die gesamte Wirtschaft obligatorisch gemachten Arbeiterausschüsse als die revolutionäre Rätebewegung setzte die Frage der Betriebsrepräsentanz gegen und nach Ende des Krieges auf die Tagesordnung.

Die Revolutionären Obleute und die erstmals in den Massenstreiks von 1917 und 1918 auftauchenden Arbeiterräte besetzten, „als Sprachrohr der Arbeiterschaft gegenüber Unternehmern und Staat"" ein von der Gewerkschaftsführung „nur unzureichend erschlossenes Feld"" (Potthoff 1987: 160). Von ihr verkannt wurde ebenfalls die betriebsdemokratische Bedeutung dieser Basisvertretungen, mit der Mehrheits-Sozialdemokratie hegte die ADGBFührung die Erwartung, sie würden als „politische Organe der Revolution"" bald wieder verschwinden. Statt dessen drohten, vornehmlich in der Metallindustrie und im Bergbau, „betrieblich orientierte und organisierte Räte den etablierten Verbänden den Rang abzulaufen"" (ebd.: 161)."