Der Kleinkind-Code - Wie Sie Ihr Kind besser verstehen und gelassen erziehen

von: Tovah P. Klein

Kösel, 2016

ISBN: 9783641182977 , 320 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 15,99 EUR

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Der Kleinkind-Code - Wie Sie Ihr Kind besser verstehen und gelassen erziehen


 

Einführung

Ich lebe in einem »Königreich der Knirpse«. Als Leiterin des international renommierten Barnard College Center for Toddler Development (kurz »Toddler Center« genannt), habe ich das Glück, in einem Umfeld tätig zu sein, das auf Kleinkinder ausgerichtet ist und mir immer wieder die Gelegenheit bietet, die Welt aus ihrer Warte zu betrachten. Es ist eine völlig andere und oftmals kurzweilige Weltsicht. Ich arbeite inzwischen seit annähernd zwei Jahrzehnten an diesem magischen Ort und verbringe fünf Tage in der Woche damit, die Interaktionen mit 50 Kindern zu gestalten, zu durchdenken, zu beobachten und zu analysieren.

Ich bin mit der Aus- und Weiterbildung von ErzieherInnen befasst und stehe Eltern mit Rat und Tat zur Verfügung, wenn es gilt, die Reaktionen ihrer Kinder und ihre Beweggründe zu verstehen. Darüber hinaus habe ich Projekte zur Erforschung wichtiger Aspekte der frühkindlichen Entwicklung ins Leben gerufen, beispielsweise Ablösung, Spiel oder Schlaf, wobei der Schwerpunkt auf der Beobachtung der natürlichen Verhaltensweisen in dieser Altersgruppe liegt. Meine Arbeit konzentriert sich auf die Aktivitäten der Kinder und die Rolle, die Eltern im Rahmen ihrer Entwicklung einnehmen. Ungeachtet dessen, ob ich das Verhalten der Kinder durch Beobachtung, empirische Studien oder direkte Interaktionen zu entschlüsseln versuche, stelle ich mir immer wieder zwei Fragen: Wie verhalten sich Kinder in bestimmten Situationen? Und was motiviert sie dazu?

Wie verhalten sich Kinder in bestimmten Situationen?

Die erste Frage – Wie verhalten sich Kinder in bestimmten Situationen? – klingt trügerisch einfach. Viele Eltern haben das Gefühl, als würden ihre Kinder versuchen, sich durch entsprechende Übung grundlegende Fähigkeiten anzueignen, die sie künftig brauchen werden, beispielsweise Zähne putzen, mit anderen teilen oder während einer Mahlzeit am Tisch sitzen bleiben und essen. Die Bewältigung solcher wichtigen Aufgaben ist ein zentrales Thema in dieser Phase der kindlichen Entwicklung. Doch wie ich aus meinen Erfahrungen mit Zwei- bis Fünfjährigen gelernt habe, geht in ihrem Kopf viel mehr vor, als sich aus ihrem Verhalten schließen lässt.

Das Kleinkindalter (hier vom dritten bis zum sechsten Lebensjahr definiert) ist relativ wenig erforscht. Verglichen mit der Anzahl der Studien über die Entwicklung von Babys oder Säuglingen (bis zum ersten Lebensjahr) und Schulkindern wurden Kleinkinder aus historischer Sicht stiefmütterlich behandelt – eine besorgniserregende Vernachlässigung angesichts der Tatsache, dass sich genau in diesem Zeitraum Körper und Geist in einem Zustand des permanenten Wandels, Wachstums und Umbruchs befinden. Das Gehirn eines Kleinkinds, das sich durch ungeheure Komplexität und Dynamik auszeichnet, ist genauso vielen Turbulenzen und Anpassungszwängen wie das Gehirn eines Teenagers unterworfen. Kleinkinder lernen nicht nur, wie man eine Toilette benutzt oder einen Tobsuchtsanfall in Schach hält. Sie erwerben darüber hinaus auch einige elementare Fähigkeiten, die später das A und O einer erfolgreichen Lebensführung darstellen. In dieser prägenden Phase legt das Gehirn Wege an, die für eine positive Entwicklung im Kindes- und Erwachsenenalter unabdingbar sind.

Das Kleinkindalter könnte man als »Labor für die Zukunft« bezeichnen. Viele grundlegende Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Eltern bei ihren Kindern fördern und verankern möchten, bereiten das kindliche Gehirn auf Lernprozesse vor, die auf einer höheren Ebene verortet sind. Ich betone beispielsweise immer wieder, wie wichtig Schlafrituale sind, deren Abfolge sich allabendlich wiederholt: baden oder duschen, Zähne putzen, ein Buch anschauen oder vorlesen, und dann Licht aus und schlafen. Diese scheinbar nebensächlichen Aktivitäten stellen Meilensteine in einem Netzwerk von Fähigkeiten dar, die zu beherrschen für Kleinkinder von zentraler Bedeutung ist. Doch Lernfortschritte werden auch durch die Einführung von Ritualen und mögliche Änderungen im Ablauf erzielt. Was ist, wenn das Kind eines Tages aufgefordert wird, die Zähne vor statt nach dem Baden zu putzen? Wie geht es mit solchen Neuerungen um? Folgt ein Wutausbruch (»Das machen wir NIE so!«) oder ist es flexibel und belastbar genug, um die Abweichung von der Regel auch ohne Aufstand zu akzeptieren? Wenn Eltern diese Anpassungsfähigkeit fördern, erleichtern sie sich nicht nur das eigene Leben, sondern bereiten ihr Kind auch optimal auf die Bewältigung unvorhergesehener Veränderungen vor, denen es sich im Kindergarten, in der Schule und im späteren Leben mit großer Wahrscheinlichkeit gegenübersehen wird.

Diese auf einer höheren Ebene verorteten Fähigkeiten – wie Belastbarkeit, Kooperationsbereitschaft, Eigenverantwortlichkeit, Entschlossenheit, Ausdauer, Empathie und mehr – beginnen im Gehirn eines Kleinkinds Form anzunehmen. Das Gehirn ist darauf programmiert, Kompetenzen zu erwerben, die das Fundament der Selbstregulation bilden – das Verändern eigener Gedanken, Gefühle, Motive und Handlung auf der Grundlage von Selbsterkenntnis oder Reflexion. Die Aufgabe von Eltern und ErzieherInnen besteht darin, das Kind dabei zu unterstützen. Doch es bedarf der Zeit und Übung, bis ein Kind diese Lebenskompetenzen verinnerlicht hat. Deshalb ist die Kleinkindphase ein Versuchslabor für die Zukunft: Je früher diese Fähigkeiten eine vertraute und annehmbare Option darstellen, desto größer die Chancen auf Glück und Erfolg im späteren Leben. Das Buch möchte dazu beitragen, diesen Weg zu ebnen.

Was motiviert Kinder zu ihrem Verhalten?

Die zweite Frage – Was motiviert Kinder zu ihrem Verhalten? – wirkt oft komplexer, als sie wirklich ist. Mit anderen Worten: Sobald Sie damit beginnen, Ihr Kind zu beobachten und zu verstehen, sind Sie imstande, seine Reaktionen und Beweggründe nachzuvollziehen (und teilweise sogar vorherzusehen). Diesen Ansatz, die Welt mit den Augen Ihres Kindes zu betrachten, bezeichne ich als KOP oder kindorientierte Perspektive. Sie trägt dazu bei, uns in die Lage des Kindes hineinzuversetzen, unverzüglich oder im Lauf der Zeit. Dadurch gelingt es uns, unsere Kinder in einer Weise zu unterstützen, die klarer ist und sich erheblich leichter in die Praxis umsetzen lässt. Warum ist es so wichtig, die Welt aus der Warte des Kindes zu betrachten? Weil dieser Weg uns am besten ermöglicht, Zusammenhänge zu erkennen, mit Liebe und Ermutigung die Führung zu übernehmen und sowohl Beschämung als auch Kontrollmaßnahmen zu vermeiden. Dank der kindorientierten Perspektive können wir die Wünsche und Bedürfnisse des Kindes anerkennen und einfühlsam darauf reagieren, aber gleichzeitig klare Grenzen und Regeln setzen, die ihnen als Orientierungspunkte beim Navigieren durch die klippenreichen Gewässer des Lebens zugutekommen. Grenzen können dabei als Liebesbeweise und ohne zermürbende Kämpfe aufgezeigt werden!

Der KOP-Ansatz hat sich für zahlreiche Familien bewährt, die ich durch meine Arbeit im Toddler Center, im Rahmen meiner regelmäßigen Elterngruppen und in Einzelgesprächen mit Eltern kennengelernt habe und die gerade eine Krise oder eine besonders große Herausforderung seitens ihres Kindes bewältigen müssen. Einige Eltern kommen auch dann zur Beratung, wenn ihre Sprösslinge das Kleinkindalter längst hinter sich gebracht haben. Warum? Weil auch dann Probleme mit altersspezifischen Verhaltensweisen und Bedürfnissen auftauchen können. Viele Eltern möchten besser verstehen, welche Entwicklungsschritte gerade stattfinden und wie sie ihr Kind dabei am besten unterstützen.

Der KOP-Ansatz basiert auf den kontinuierlichen psychologischen und neurowissenschaftlichen Forschungsergebnissen in Kombination mit meinen eigenen Studien und Beobachtungen über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren. Er ist darauf ausgerichtet, die emotionale, soziale und kognitive Entwicklung von Kindern, insbesondere Kleinkindern, optimal zu fördern. Dahinter steht das Bestreben, wissenschaftliche Erkenntnisse und ihre praktische Umsetzung in einer Schnittmenge zu verankern, von der alle Eltern und Kinder profitieren. Es gibt kein Hirnforschungsprojekt, das alle Fragen zur Entwicklung Ihres Kindes zu beantworten vermag, und ich rate dringend davon ab, aufgrund der einen oder anderen Studie vorschnell Schlussfolgerungen zu ziehen. Es bedarf jahrelanger intensiver Forschungsarbeit, um zu ergründen, was einzelne Elemente für das gesamte Entwicklungsspektrum des Kindes bedeuten können. Deshalb habe ich in diesem Buch versucht, die weitgehend übereinstimmenden wissenschaftlich fundierten Entdeckungen und Einsichten zusammenzufassen, mit denen Sie ein positives Wachstum Ihres Kindes unterstützen. Heute und in Zukunft.

Der Umgang mit alltäglichen Erziehungsanforderungen

Die Eltern, mit denen ich zusammenarbeite, sind bei aller Unterschiedlichkeit besonnen, einfallsreich und fürsorglich. Darunter befinden sich Familien mit Vater, Mutter und Kind sowie Alleinerziehende, berufstätige Eltern oder Eltern mit einem Elternteil, der Haushalt und Kinder versorgt, Eltern, deren Großeltern unter demselben Dach wohnen, und Familien, die gerade erst zugezogen sind. Es gibt kleine Familien mit einem oder zwei Kindern und große mit drei oder mehr Kindern. Alle haben eines gemeinsam, das sie auch mit Ihnen verbindet: den nachhaltigen Wunsch, ihre Kinder bestmöglich zu erziehen, sodass sie ihr Potenzial bestmöglich ausschöpfen können.

Die Erziehung von Kleinkindern umfasst die Förderung von Fähigkeiten, die sowohl auf einer »höheren« als auch auf einer »alltäglichen« Ebene verortet sind: Wir möchten...