Onlinesüchtig? - Ein Ratgeber für Betroffene und Angehörige

von: Holger Feindel

Patmos Verlag, 2015

ISBN: 9783843606851 , 144 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 11,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Onlinesüchtig? - Ein Ratgeber für Betroffene und Angehörige


 

Kapitel 2: Verstehen, was bei einer Onlinesucht passiert


Einleitung


Es müssen viele Faktoren zusammenkommen, damit jemand eine Onlinesucht entwickelt. Soziale Lebensbedingungen, Erziehung, prägende Lebensereignisse, Schicksalsschläge und natürlich die Besonderheiten des Internets selbst. Was ist so faszinierend an Onlinewelten, dass Menschen so stark darin versinken? Welche Besonderheiten dieses Mediums fesseln so sehr?

Anhand von zahlreichen Fallbeispielen werde ich Ihnen nachfolgend verdeutlichen, wie es zu einer Onlinesucht kommen kann.

Was steckt hinter der Onlinesucht?


Kevin wächst auf dem Land in Bayern auf. Die Mutter leidet bereits vor der Geburt an einer psychischen Erkrankung, bleibt auch in der Folgezeit schwer depressiv, lebt sehr zurückgezogen, kann ihrem Sohn gegenüber kaum Gefühle zeigen. Der Vater ist cannabisabhängig, trinkt auch zu viel Alkohol, ist dann unberechenbar, es kommt häufig zu Auseinandersetzungen. Beide Elternteile sind nicht in der Lage, sich um ihren Sohn zu kümmern. Wichtigste Bezugsperson ist daher die Großmutter mütterlicherseits, die mit im Haus wohnt und versucht, sich um den Jungen zu kümmern. Sie verwöhnt den Jungen, kann ihm nichts abschlagen. Mit drei Jahren bekommt er seinen ersten Gameboy, mit sechs stehen ein eigener Fernseher und ein eigener Computer in seinem Zimmer. Als er elf Jahre alt ist, zieht die Großmutter aufgrund heftiger Streitigkeiten mit ihrer Tochter aus. Dies bezieht der Junge vollständig auf sich. Er glaubt, auch die letzte Person, die ihn mochte, habe sich von ihm abgewandt. In der Folgezeit ist er meist sich selbst überlassen. So verbringt er bereits im Alter von neun Jahren die meiste Zeit mit Computer- oder Gameboyspielen, niemand kontrolliert ihn, niemand stellt Regeln auf. In der Schule wird er zunehmend zum Außenseiter, wird wegen seines Übergewichts oft gehänselt und zieht sich mehr und mehr zurück. Er bleibt, trotz weit überdurchschnittlicher Intelligenz, sitzen und schafft schließlich den Hauptschulabschluss nur knapp. Soziale Kontakte werden zum Gräuel für ihn, nur am Computer geht es ihm gut. Als ein neues Onlinerollenspiel herauskommt, ist er von der ersten Stunde an dabei. Im Spiel ist er richtig gut, stellt etwas dar. Er zeigt Führungsqualitäten, übernimmt Verantwortung, gibt Mitspielern Ratschläge, andere schauen zu ihm auf. Dagegen geht es in der realen Welt immer weiter bergab für ihn. Eine Lehre zum Mechatroniker bricht er, ebenso wie eine Lehre zum Einzelhandelskaufmann nach wenigen Wochen ab, einerseits wegen Fehlzeiten und Müdigkeit bei der Arbeit nach »durchgezockten« Nächten, andererseits aber auch wegen seiner Schwierigkeiten mit sozialen Kontakten. Schließlich igelt er sich in seinem Zimmer ein, geht kaum noch raus, spielt nur noch und wird immer dicker. Irgendwann beginnt auch das Spiel ihn zu langweilen, aber aus Mangel an Alternativen spielt er immer weiter. Als er sich schließlich in Therapie begibt, ist er höchst verzweifelt, weiß nicht mehr weiter. Zwar sieht er für sich ein, dass es so nicht bleiben kann, aber er hat keine Ahnung, wie es für ihn weitergehen soll. Denn:

»Ich kann doch nichts außer Computerspielen …«

Sebastians Eltern sind Sozialpädagogen. Sebastian geht in einen Waldorfkindergarten, später in eine Waldorfschule. Zu Hause gibt es keinen Fernseher, kein Radio, auch keinen Computer. Seine Jugend ist geprägt von Wanderungen und Zelten in der Natur.

Als Sebastian 19 Jahre alt ist, geht er für ein Jahr nach Frankreich in eine Gastfamilie. Dort steht ihm plötzlich die Welt des www un­reglementiert und unkommentiert zur Verfügung. Er ist fasziniert von den unendlichen Möglichkeiten, verbringt immer mehr Zeit ­online, surft, chattet, spielt schließlich jede freie Minute.

Mit 22 beginnt er auf massiven Druck seiner Eltern eine Therapie. Seit dem Abitur hat er nichts anderes mehr getan, er ist mindestens 16 Stunden täglich online, über seine Zukunft hat er sich bisher keine weiteren Gedanken gemacht.

Menschen, die eine Onlinesucht entwickeln, haben oft in ihrer ­Erziehung keine Regulierung erfahren. Wie Kevin, durften sie das Internet ohne Grenzen nutzen. Niemand hat eine Regelung getroffen. Niemand hat versucht, einzugreifen. Oder erst, als es zu spät war.

Aber wir sehen auch das Gegenteil: Menschen, die von klein auf vom Internet und von digitalen Medien ferngehalten wurden, sind ebenfalls gefährdet. Auch sie haben nie gelernt, eigenverantwortlich mit dem Internet umzugehen. Wenn sie dann mit dem Internet und seinen grenzenlosen Möglichkeiten konfrontiert werden (und das ist in der heutigen Welt ziemlich unausweichlich), haben auch sie ein erhöhtes Risiko für eine Onlinesucht.

Ein Totalverbot ist daher genauso schädlich wie eine grenzenlose Freigabe! Wie meistens im Leben, geht es auch bei der Prävention einer Onlinesucht um ein gesundes Mittelmaß!

  • ⇒ Bei der Entstehung einer Onlinesucht spielt eine fehlende Medienerziehung eine entscheidende Rolle.

Johannes steht voll im Leben. Er hat einen Job, der ihn ausfüllt, eine feste Freundin, mit der er zusammenlebt. Er geht in seiner Freizeit gerne mit Freunden aus oder geht Klettern. Nebenbei spielt er ein- bis zweimal pro Woche ein Onlinerollenspiel am Computer.

Im Alter von 29 Jahren wird bei ihm für ihn plötzlich und unerwartet eine seltene lebensbedrohliche Krebserkrankung diagnostiziert. Er erhält eine Chemotherapie, die ihn über Wochen ans Bett fesselt und körperlich sehr mitnimmt. Sein ganzes Leben bricht nach und nach zusammen. Nicht nur, dass er seiner geliebten Arbeit nicht mehr nachgehen kann, nach längerer Arbeitsunfähigkeit erhält er die krankheitsbedingte Kündigung. An Klettern ist schon lange nicht mehr zu denken. Freunde besuchen ihn anfangs noch, allerdings werden die Krankenbesuche mit der Zeit weniger.

Ans Bett gefesselt, beginnt er aus Langeweile vermehrt mit dem Laptop zu spielen, dehnt die Zeiten immer weiter aus. Als ihn schließlich auch noch seine Freundin verlässt, wird das Spielen von Onlinerollenspielen zu seinem Hauptlebensinhalt.

Als er sich zwei Jahre später in unsere stationäre Behandlung begibt, hat er seine körperliche Erkrankung schon seit längerer Zeit überwunden, die Behandlung hat gut angeschlagen, die körperliche Erkrankung ist ausgeheilt.

Geblieben allerdings ist der exzessive Internetgebrauch, der auch dazu geführt hat, dass er sich nicht um eine neue Stelle bemüht hat, keine alten Hobbys oder Freizeitaktivitäten wieder hat aufleben lassen und sozial außerhalb der Spielewelt vollständig isoliert lebt.

Von Geburt an hat Torsten einen Gendefekt. Seine Entwicklung ist verzögert, er hat eine Gangstörung, seine Hände zittern ständig. Die Erziehung erfolgt liebevoll, aber auch wegen seines Handicaps über die Maßen behütend.

Er wird kaum zu Selbstständigkeit erzogen. Schon früh erlebt er sich als Einzelgänger. Konflikten geht er aus dem Weg. Seine Gangstörung führt zu Ausgrenzungen bei Gleichaltrigen.

Während seiner Ausbildung kommt er mit einem sozialen Netzwerk im Internet in Berührung. Hier kann er von Alltagsstress und Problemen abschalten, in eine ganz eigene Welt abtauchen. Er hat das Gefühl, dort im Kontakt mit anderen unvorbelastet wahrgenommen zu werden, nicht auf sein Handicap reduziert zu werden.

Im Internet erlebt er sich wesentlich selbstsicherer, kann sich anderen gegenüber auch humorvoll präsentieren, was ihm im realen Leben kaum möglich ist. In seinen realen Bezügen erlebt er sich gehemmt, unsicher und minderwertig, im Netzwerk aber als schlagfertig, selbstbewusst und kompetent. Während er chattet, hat er das Gefühl, Kontrolle zu haben. Er fühlt sich unabhängig und gleichwertig anderen gegenüber.

Er dehnt seine Zeiten in dem sozialen Netzwerk auf circa achtzig Stunden pro Woche aus, hierdurch bleibt wenig Zeit für anderes: Die Ausbildung scheitert, es kommt zu zunehmenden Konflikten in der Familie, auch körperlich vernachlässigt er sich, macht keine Krankengymnastik mehr, die Symptomatik im Rahmen der körperlichen Grunderkrankung verschlechtert sich deutlich, Körperhygiene spielt keine Rolle mehr. Der Tag-Nacht-Rhythmus verschiebt sich fast vollständig, ein »reales Leben« findet so gut wie nicht mehr statt.

Bei Aufnahme in die Klinik besteht zwar ein Problembewusstsein bezüglich der negativen Folgen seines Verhaltens, eine Reduktion seiner Onlinezeiten oder gar ein Austritt aus seinem sozialen Netzwerk erscheint ihm aber völlig undurchführbar und ist stark angstbesetzt.

Eine körperliche Erkrankung oder Behinderung kann dazu führen, dass Menschen sich in einer virtuellen Welt wohler fühlen. Hier können sie sich anders darstellen, frei von dem Stempel, den ihr Umfeld ihnen in der realen Welt aufgedrückt hat. Hier können sie sich freier »bewegen«, körperliche Einschränkungen spielen keine Rolle. Wenn die Schere zwischen dem Wohlfühlen in der Onlinewelt und dem Unwohlsein in der realen Welt immer weiter auseinandergeht, kann hieraus eine Onlinesucht entstehen.

  • ⇒ Schwerwiegende körperliche Einschränkungen können eine Onlinesucht begünstigen.

Steffen B. ist etwas schüchtern, sonst aber »ein ganz normaler Kerl«. Nach Abschluss einer Schreinerlehre wird er im Ausbildungsbetrieb übernommen. Seine Arbeit macht ihm viel Spaß, er ist mit seiner Lebenssituation zufrieden.

Als Ausgleich zu seiner Arbeit setzt er sich abends für circa eine Stunde an den PC, surft und informiert sich über das Weltgeschehen. Er empfindet dies als wesentlich...