Bismarck: Der Monolith - Reflexionen am Beginn des 21. Jahrhunderts

von: Tilman Mayer

Saga Egmont, 2015

ISBN: 9788711446935 , 365 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 12,99 EUR

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Bismarck: Der Monolith - Reflexionen am Beginn des 21. Jahrhunderts


 

Bismarck vor Augen.


Einführung


Tilman Mayer


hindurch, die das Deutschland des 20. Jahrhunderts in der Form von Katastrophen und Krisen geprägt hat. Unser Blick kann also nicht unbefangen sein.

Wir wollen es bei der Beschäftigung mit Bismarck keinesfalls beim Nacherzählen der Geschichte belassen. Wir treiben keine Historiografie. Wir wollen vielmehr beim Durchpflügen des historischen Stoffes versuchen, Lerneffekte zu erzielen.2 Deshalb wenden wir uns gegen eine blickverengende, nur zeitbezogene Betrachtung; bekanntlich ist jeder gute Historiker ohnehin nie nur ein bloßer Rezipient dessen, was sich historisch ereignet hat.3

Wenn es in der Volksrepublik China etwa ein besonderes Interesse an der Entwicklung des zweiten deutschen Reiches gibt, so gilt dieses Interesse einer aufstrebenden europäischen Großmacht,4 deren Schicksal China für sich vermeiden will. Aufsteigende Mächte sind gefährdete Mächte.5 Auch für uns in Deutschland ist es (immer noch) erkenntnisreich und bedeutungsvoll, den politischen Weg Bismarcks nachzuvollziehen, um als geschichtsbewusst denkende Nachfahren den Bogen in eine historische Konstellation zu schlagen. Zwar differiert diese historische Konstellation mit der unsrigen in vielen Punkten, es stellen sich aber politische Grundfragen, die sich über die Zeiten hinweg erhalten haben. Und diese Grundfragen sollte man artikulieren – nebst den Optionen, die sich aus ihnen ergeben.

Der Herausgeber dieses Bandes über Fürst Bismarck hat auch ein politikwissenschaftliches Interesse. Dabei weiß er sich dem Motto von John R. Seeley von 1896 verbunden: »Political science without history has no root. History without political science bears no fruit.«6 In diesem Sinne geht es in dem vorliegenden Band auch um eine Art Aktualisierung der Betrachtung Bismarcks – anlässlich seines 200. Geburtstages.

Es ist somit von vornherein klar, dass ein Bismarck-Bashing hier und heute genauso verkehrt wäre wie einer simplen Bismarck-Begeisterung zu frönen. Wo viel Licht ist, ist viel Schatten. Und so lautet die Grundaussage dieses Bandes schlicht und ergreifend, dass uns Bismarck im 21. Jahrhundert noch etwas bedeutet. Es stünde schlimm um das nationale Selbstbewusstsein in Deutschland, wenn man geschichtsvergessen nicht auch Größe in der Politik aushalten könnte. Es ist nicht zu verwegen festzustellen, dass wir also im Schatten Bismarcks leben, einfach deshalb, weil seine überragende Größe in der Geschichte selbst noch die Politik im 21. Jahrhundert überragt. Mit Bismarck wurden beispielhaft Maßstäbe gesetzt, die heute, wo man sich eher im Klein-Klein gefällt, vielleicht schwer auszuhalten sind.

Es soll hier also nicht um eine Vereinnahmung gehen, einfach deshalb, weil nur eine kritische Perzeption auch eine realistische ist. Der Größe Bismarcks tut es keinen Abbruch, wenn man sein Werk nicht in toto akzeptieren kann. Es ist keinesfalls kleingeistig, wenn man seinem Werk mit kritischer Distanz gegenübersteht. Schärfer formuliert: Es ist geradezu bedauerlich, dass auch diesem großen Mann Vorwürfe zu machen nicht erspart werden kann. Wir haben Bismarck vor Augen – aber in seinem ganzen Widerspruch, in seiner Größe wie in seinen Unzulänglichkeiten.

An dieser Stelle spätestens meinen angeblich nur zeitbezogen denkende Historiker vielleicht den Vorwurf machen zu müssen, man argumentiere unhistorisch. Denn, so ihre Logik, aus Bismarcks Zeit heraus seien die Dinge eben nicht anders zu machen gewesen beziehungsweise seine Biografie habe keinen anderen Spielraum gelassen. Dieser engstirnige Zirkelschluss – dass man das Handeln der Damaligen auf die damalige Zeit zurückprojiziert – ist steril und führt entsprechend nicht weiter. Im Falle Bismarcks scheint das Bedauern angesichts seiner Größe besonders groß, dass sich verschiedene andere Perspektiven, die man als Sozialdemokrat, Liberaler, Republikaner, Konstitutionalist und sogar als Patriot usw. einnehmen konnte, historisch mit seinem politischem Lebensweg nicht verbinden lassen.

Nur auf den ersten Blick liegt nun der erwähnte Vorwurf der unmittelbar zeitbezogen argumentierenden Historiker nahe, dass man es als Nachgeborener natürlich besser weiß als die Akteure seinerzeit. Doch mit dieser Auffassung bremst man eine Diskussion über Fehler aus, aus denen eine Nation lernen muss. Nimmt man sich China hier zum Vorbild, dann wird deutlich, was ansteht: aus verschiedenen Entwicklungen der Vergangenheit für die heutige Zeit Lehren zu ziehen – auch wenn die KP Chinas für sich vielleicht andere Lehren zieht als wir das für sinnvoll oder richtig halten.

Wir sind auch Bismarck verpflichtet, und zwar insofern er derjenige war, der aus der deutschen Geschichte heraus7 erstmals die Gründung eines Nationalstaats möglich machte. Der Name Bismarck ist allein mit diesem Werk für alle Zeiten verbunden, hierin liegt seine Größe, an die man in Friedrichsruh zu Recht erinnert. Die vielen Bismarck-Denkmäler, die sich bis ins 21. Jahrhundert erhalten haben, drücken genau diese große Anerkennung bis heute aus.8 1871 vor Augen nehmen wir seinen Geburtstag zum Anlass, besonders an diese Leistung zu erinnern. Bekanntlich war es Bismarck nicht in die Wiege gelegt, dass er sich als Junker und als Konservativer mit der damals als revolutionär geltenden Nationalbewegung einmal verbinden, ja sie zum Ziel führen würde. Fast könnte man in Wagnerscher Art von einer Erlösung der deutschen Nation durch die Reichsgründung sprechen – läge in dieser Formulierung nicht doch zu viel Pathos der damaligen Zeit.

Der Geburtstag Bismarcks liefert uns den Anlass, doch die Gründe für die Beschäftigung mit Bismarck müssen tiefer liegen. Den wichtigsten haben wir mit der Reichsgründung schon genannt. Aber natürlich möchte man sich auch das gesamte Werk in einer, wenn auch nur exemplarischen Betrachtung vor Augen stellen – und dazu haben namhafte Autoren dankenswerterweise einen eindrucksvollen Beitrag geleistet.

Die Art und Weise, wie Otto von Bismarck die Reichsgründung erreichte, kann man nicht anders als zeitbedingt ansehen: mit Eisen und Blut – so die saloppe Formulierung der damaligen Zeit9 – und nicht mit Majoritätsbeschlüssen. Es war der berühmte Mantel der Geschichte, den Bismarck ergriff, also die historische Chance, die er in eine Gelegenheit verwandelte – eine Occasione, gegen Frankreich gewendet das Deutsche Reich zu schaffen. Die Gründung des deutschen Nationalstaates ist dabei untrennbar mit der deutsch-französischen Erblast verbunden. Dass die Reichsgründung im Dissens mit Frankreich entstanden ist – dieses Faktum hat Bismarck nicht aus der Welt geschafft, er hat es vielmehr genutzt; obgleich von Anfang an auch in Deutschland Kritik an der okkupatorischen Politik (Elsass-Lothringen) geübt wurde, die die preußischen Militärs dem Kanzler auferlegten.10 Bebel etwa war hier weitsichtiger. Das darwinsche Recht des Stärkeren führte zwar zum Erfolg, aber Stärke ist ein vergängliches Gut. Das Auftrumpfen im Spiegelsaal von Versailles hätte irgendwann eines Ausgleichs mit Frankreich bedurft, um eine Revanche zu verhindern. Nicht nur Bismarck war sich immer im Klaren, dass Frankreich Deutschland gegenüber kritisch bis feindlich eingestellt sei. Insofern könnte man sagen, dass 1871 das Reich mit einem Geburtsfehler zur Welt kam, und eine Heilung dieser Fehlentwicklungen wurde nicht angestrebt. Wir können aus heutiger Sicht verstehen, dass das damalige Deutschland sich gegenüber Frankreich so verhalten hat. Und immerhin ist es Bismarck zu verdanken, dass in Paris nicht gar einmarschiert wurde, so, wie es Napoleon in Berlin getan oder ähnlich wie Napoleon I. im Frieden von Tilsit 1807 Preußen gedemütigt hatte. Aber die Annexion Elsass-Lothringens – so sehr dafür historische Gründe geltend gemacht werden konnten – war eine sich bitter rächende Hypothek im deutsch-französischen Verhältnis.

Dennoch bleibt die Reichsgründung natürlich eine Großtat, auch weil sie sozusagen den Weg der Einigung in Gestalt der Schaffung des Norddeutschen Bundes vollendete – wenn auch um den Preis, dass Österreich seit 1866 auf Distanz gebracht wurde.11 Die Reichsgründung war eben kein revolutionärer Akt von unten, wie 1848 angedacht, sondern eine Revolution von oben, die die bestehenden Monarchien nicht antastete. So gesehen wurde die Wiener Ordnung von 1815 nicht revolutionär verändert, sondern nur die Mitte Europas staatlich integriert, die ökonomisch durch den Zollverein schon eine Prägung erfahren hatte. Es wurde sozusagen nachgeholt, was sich historisch ohnehin in Europa nationalstaatlich abzeichnete. Aber eben darin lag für Deutschland, das kleindeutsche, das revolutionäre und früher nie erreichte späte Einigungswerk. Die deutschen Länder waren nicht mehr Objekt ausländischen Interesses, sondern erhielten Subjektcharakter in einem größeren Ganzen. An der Fortexistenz der Fürstenstaaten ist das Deutsche Reich jedenfalls nicht gescheitert, auch wenn sich die deutsche Nation im Vergleich zu Frankreich nicht une et indivisible verfasste, nicht eine zentralistische Struktur erreichen konnte oder wollte. Das große Preußen war weniger das Problem, wohl aber seine politische Kultur. Die Kunst Bismarcks war es, dieses Reich im Inneren zu schaffen, also nicht an Fürstenegoismen zu scheitern und nach außen abzusichern. Für diese nationale und internationale Staatskunst steht der Name Bismarck. Die Gründung des italienischen Staates, des für Deutschland historisch und kulturell immer wichtigen Italiens,12 war diesem Reichsgründungsakt vorausgegangen. Und im Jahr 2011 konnte ganz Italien 150 Jahre...