Die Bibel - Das mächtigste Buch der Welt - Ein SPIEGEL-Buch

von: Annette Großbongardt, Johannes Saltzwedel

Deutsche Verlags-Anstalt, 2015

ISBN: 9783641164096 , 288 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Die Bibel - Das mächtigste Buch der Welt - Ein SPIEGEL-Buch


 

Von endlosen patriarchalischen Stammtafeln (»Eleasar zeugte Pinhas, Pinhas zeugte Abischua, Abischua zeugte Bukki, Bukki zeugte Usi …«) bis hin zum hoch erotischen Liebeslied (»Deiner Hüften Rund ist wie Geschmeide, / gefertigt von Künstlerhand. Dein Schoß ist ein rundes Becken … Deine Brüste sind wie zwei Kitzlein, wie die Zwillinge einer Gazelle«) ist im Alten Testament nahezu jede damals denkbare Textsorte vertreten. Überall finden sich Querverweise. Evangelien, Missionsschriften und die Apokalypse im Neuen Testament treten dann als Konsequenz und Erfüllung dessen auf, was das Judentum an Erlösungserwartungen angesammelt hatte.

Dabei haben sowohl die gelehrten jüdischen Redaktoren, die im Lauf der Jahrhunderte immer wieder ihre schriftlichen Bestände prüften, ergänzten und umarbeiteten, wie auch später deren christliche Kollegen sehr sorgsam gewählt, was man für wichtig halten sollte. Und so gibt es neben dem offiziellen Kanon des Alten Testaments dermaßen viele weitere Texte, die als heilige Offenbarungen auftreten, dass sie leicht einen Band vom Umfang der ganzen Bibel füllen: Unter den interessanteren Stücken finden sich Adams Testament, die Himmelfahrt des Mose und weitere Jenseits- und Endzeitvisionen.

Auch die Christen hatten auf ihre Lehren kein Monopol. In der griechischsprachigen Welt behaupteten immer wieder Leute, Gottes (oder immerhin eines Gottes) Sohn zu sein; auch Waschungs- und Ernährungsrituale wie Taufe und Abendmahl wurden in vielen Kulten praktiziert. Wer nach heiliger Wahrheit lechzte, den konnten die spirituellen Möglichkeiten etwa so verwirren wie Neulinge auf einer heutigen Esoterik-Messe.

Besonders streng wählen mussten deshalb die Kirchenleute, die seit etwa 200 n. Chr. den Kanon des Neuen Testaments festlegten. Da kursierten rührselige Evangelien über Wundertaten des Jesuskindes und gruselig präzise Berichte von der Höllenfahrt des Erlösers, aber auch Erfolgsgeschichten der Apostel, Visionen voll allegorischer Szenen wie der erst um 145 in Rom entstandene Bußappell namens »Hirte des Hermas« und sogar ein pfiffig gefälschter Briefwechsel des Paulus mit dem römischen Philosophen Seneca.

All diese Produkte – nur ein Bruchteil ist erhalten – stammen aus dem geistig-geistlichen Schmelztiegel, der sich von Vorderasien bis nach Rom erstreckte. In vielen Orten am Mittelmeer opferte man weiterhin den alten Göttern um Zeus oder Jupiter, interessierte sich aber auch für ägyptische Jenseitsideen. Schon im nächsten Haus konnten Anhänger der persischen Lichtreligion wohnen oder Adepten geheimer Mysterien bis hin zu Gnostikern, die die Welt als Schöpfung eines bösen Dämons abtaten. Daneben blühten etliche philosophische Lehrsysteme zwischen meditativer Erhebung und krassem Materialismus.

In seinen autobiografischen »Bekenntnissen« hat der Kirchenvater Augustinus geschildert, wie er durch diesen Wust weltanschaulicher Angebote endlich zum Christentum gelangte: mithilfe der Bibel. Ratlos und verzweifelt, habe er am 15. August 386 in einem Mailänder Garten eine Stimme gehört, die rief: »Tolle, lege!« (Nimm und lies!). Es waren die Briefe des Paulus, die er aufschlug. Dort stand: »Lasst uns ehrenhaft leben wie am Tag, ohne maßloses Essen und Trinken, ohne Unzucht und Ausschweifung, ohne Streit und Eifersucht. Legt (als neues Gewand) den Herrn Jesus Christus an und sorgt nicht so für euren Leib, dass die Begierden erwachen« (Röm 13,13f). Das Text-Orakel genügte; Augustinus wurde Christ.

Dass ein hochgebildeter junger Mann des späteren römischen Kaiserreichs sich ausgerechnet von asketischen Aufrufen überzeugen ließ, dafür gab es mehrere Gründe – durchaus nicht nur den äußerlichen, dass Kaiser Theodosius den christlichen Kult immer weiter privilegierte. Dank einer Reihe emsiger Deuter fanden biblische Texte mittlerweile auch unter Intellektuellen Anklang.

Schon zu Lebzeiten Jesu hatte der jüdische Denker Philon begonnen, die Tora, also die fünf Bücher Mose, hellenistisch Belesenen schmackhaft zu machen, indem er sie als Sammlung weiser Denkszenarien deutete. »Es gab wohl wirklich einen Mann namens Samuel«, schrieb Philon beispielsweise, »aber wir sehen den Samuel der Schrift nicht als Lebewesen mit Seele und Körper, sondern allein als Geist, der sich freut, Gott zu dienen und ihn zu verehren.« Überall kunstvoll verrätselte Sinnbilder: So gesehen wurde die Bibel zum raffinierten Lehrgedicht.

Gut ein Jahrhundert später, als Paulusbriefe und Evangelien ins Zentrum der christlichen Identität gerückt waren, ging der geistliche Führer Clemens im ägyptischen Alexandria noch einen Schritt weiter: Wer es ernst meine, finde durch das literarisch kühne Bibelwort rascher und besser zur Wahrheit als über trockene Philosophie. Sein vermutlicher Schüler Origenes (185 bis um 254) betonte, wie oft Altes und Neues Testament einander »in figura« (bildlich) wunderbar entsprächen. Ein Paradebeispiel: Das Abendmahl aus Brot und Wein habe Patriarch Abraham schon vom alttestamentlichen Priesterkönig Melchisedech (Gen 14) empfangen.

»Macht eure Herzen zu einer Arche oder einem Schrank für die Bücher der Bibel!«, rief Origenes den Glaubensgenossen zu. In Predigten und Kommentaren rang er um das Verständnis des göttlichen Schriftwortes. Um einen optimalen Text zu finden, stellte er sogar die hebräische und fünf griechische Übersetzungen des Alten Testaments nebeneinander – ein paar Fragmente dieser gewaltigen »Hexapla« (Sechsfach-Bibel) sind erhalten. Gleichzeitig arbeiteten Intellektuelle daran, ehrwürdige Lehren der griechischen Philosophie wie die von der unsterblichen Seele mit christlichen Dogmen vereinbar zu machen.

Als Augustinus 386 seine Bekehrung erlebte, stand weitgehend fest, welche biblischen Bücher ein Christ in Ehren halten sollte. Selbst die Bezeichnung »Testament« wie auch die Gliederung in ein altes und ein neues war üblich geworden. Als Bischof seiner nordafrikanischen Heimat half Augustinus später kräftig mit, dass das Alte Testament nicht von Puristen ausgedünnt wurde und im Neuen auch umstrittene Bücher wie etwa die Offenbarung ihren Platz behielten.

Um die Bibel, dieses große Panorama von Welt und Mensch schlechthin, zu studieren, sollte man Bildung mitbringen, erklärte Augustinus – Bildung, wie sie in Lateinschulen ganz ähnlich für die Lektüre von Vergils »Äneis«, das Epos von der Staatsgründung Roms, trainiert wurde. Beispiele gab der Kirchenlehrer selbst. Gleich mehrfach kommentierte er den Schöpfungsbericht: polemisch zugespitzt (etwa gegen die Anhänger des persischen Gurus Mani, dessen Lehren er selbst jahrelang gefolgt war), bemüht um theologisch-philosophische Grundsatzfragen wie die Bedeutung von Adams Schlaf, endlich schlicht andächtig bis hin zum Gebet.

Zahllose Geistliche sind während des folgenden Jahrtausends und bis weit über das Mittelalter hinaus diesem Weg bedächtiger Meditation gefolgt, und sei es auch bloß beim klösterlichen Lese- und Vorlesepensum. Für die große Masse einfacher Christen hingegen blieb das gewaltige, nur in kostbaren Handschriften verfügbare Textkonvolut eher ein Orakel, zu dessen Befragung und Deutung man Fachleute brauchte.

Immerhin, einige Passagen wie etwa das Vaterunser oder die Abendmahlsformeln waren schon aus dem Gottesdienst bekannt. Außerdem lernten Schüler anhand der Psalmen das Schreiben; Sprachforscher führen das Wort »Fibel« auf die kindliche Aussprache von »Bibel« zurück. Und mochte selbst der Wortlaut ganz fehlen: Biblische Geschichten kannte ohnehin jeder mittelalterliche Christ, weil sie an den Wänden, später auch in den Glasfenstern der Kirchen abgebildet waren.

Konkurrenz für die Bibel gab es zwar: Man wusste von heiligen Büchern anderer Religionen – den jüdischen ohnehin, seit dem Frühmittelalter dann auch vom Koran, wo Mose häufig genannt ist, Jesus als Prophet vorkommt, Maria immerhin eine eigene Sure hat und oft mit Respekt erwähnt ist. Die nach und nach entdeckten wissenschaftlich-philosophischen Werke der Antike erhoben gleichermaßen den Anspruch, Wahrheit zu enthalten. Aber ob und wie man die unterschiedlichen Behauptungen versöhnen konnte, das kümmerte während des Mittelalters nur Experten. Prinzipiell blieb es beim Satz: Was in der Bibel steht, gilt. Letztlich haben erst Reformation und Aufklärung diese Autorität dauerhaft erschüttert.

Mit dem erbitterten Streit von Theologen wie Laien um einzelne Formulierungen – etwa Luthers aus dem Römerbrief (Röm 3,28) abgeleitete These, dass himmlische Erlösung ohne gute Werke auf Erden, »sola fide« (allein durch den Glauben) möglich sei – kam auch das Bedürfnis, schnell zitieren und vergleichen zu können. 1527 erschien die erste lateinische Bibel mit Verseinteilung; seit 1551 begann man die Verse jedes Kapitels durchzuzählen.

Natürlich kommen solche Äußerlichkeiten Rekordsuchern und Tüftlern entgegen – von der banalen Frage nach dem kürzesten und längsten Kapitel der Bibel (Psalm 117 und 119) bis hin zu Textfahndungen, die geheime Botschaften eines obskuren »Bibel-Codes« entschlüsseln sollten. Form und Stil biblischer Bücher sind unzählige Male parodiert und nachgeahmt worden: Ein klassischer Fall ist das angeblich 1827 gefundene, 1830 gedruckte und in 15 Einzelbücher gegliederte »Buch Mormon«, die (neben der Bibel) heilige Schrift der Mormonen.

Und natürlich hat es ebenso zahllose Versuche gegeben, die alten, sperrigen Texte leichter lesbar, zeitgemäß und selbst für historisch Ahnungslose unanstößig zu machen; jüngstes Beispiel ist die mit viel Engagement betriebene, vorwiegend von Protestanten getragene Initiative für eine politisch korrekte »Bibel in gerechter Sprache«, die bereits im Internet verfügbar ist....