Auf Messers Schneide - Spektakuläre Fälle der Rechtsmedizin

von: Markus A. Rothschild

Militzke Verlag, 2015

ISBN: 9783861899761 , 256 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Auf Messers Schneide - Spektakuläre Fälle der Rechtsmedizin


 

Jens Amendt
Zentrum der Rechtsmedizin der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main


Dr. Jens Amendt, geboren 1965 in Hanau, studierte Biologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Von 1994–2000 am Forschungsinstitut Senckenberg an der Durchführung verschiedener Projekte zur Erforschung der Artenvielfalt von Insekten beteiligt, zuletzt im Rahmen des von der DFG geförderten Forschungsvorhabens »Biodiversität mitteleuropäischer Feuchtgebiete«. Seit Januar 2001 am Zentrum der Rechtsmedizin in Frankfurt am Main, wo er für die Durchführung bzw. Koordination entomologischer Forschungsvorhaben und die Erstellung insektenkundlicher Gutachten verantwortlich ist. Mitbegründer und Präsident der European Association for Forensic Entomology.

 

Die Fliege im Schlafsack


Der 13. November 2001 war ein anstrengender Arbeitstag gewesen, die spätherbstliche Kälte trieb die beiden jungen Männer nach Hause. Ihr Weg führte sie auf verschlungenen Pfaden durch das parkähnlich angelegte Areal des ehemaligen Bundesgartenschaugeländes. Es war gegen 17:30 Uhr und dämmerte bereits. Janis und Max beschlossen, den Weg zu verlassen und eine Abkürzung durch das nahe gelegene kleine Wäldchen zu nehmen. Ein leichtes Gefühl von Abenteuer stellte sich ein, als sie im Unterholz plötzlich zwei sich vom Waldboden abhebende Flecken erkannten. Schlafsäcke, wie sich schnell herausstellte. Sie schienen schon länger hier zu liegen. Das weiße Innenfutter löste sich bereits und verteilte sich in der umgebenden Streu. Max grinste Janis an und sagte, dass sich hier offenbar einer mal so richtig ausschlafen wolle. Aber dann wurde ihnen doch ein wenig mulmig zumute: Was, wenn da wirklich jemand in den Schlafsäcken liegt? Ganz vorsichtig kamen die beiden noch ein Stück näher. Doch ihre Angst schien unbegründet, es waren wohl tatsächlich nur kaputte Schlafutensilien, die irgendwelche Obdachlosen zurückgelassen hatten. Janis nahm den Ast, den er schon seit längerer Zeit als Spazierstock bei sich hatte, und stieß ihn in den schwarzen Sack. Sein erschrockener Aufschrei ließ Max zusammenzucken: In dem Schlafsack befand sich etwas Großes und Hartes, fast könnte man glauben, es handelte sich um einen Körper! In einem Anfall von Panik stürzten sie zurück, raus aus diesem Wald. So schnell wie möglich verließen die jungen Männer den Volkspark. Jeder Meter, den sie zwischen sich und den Ort des Geschehens brachten, ließ sie das eben Erlebte unwirklicher erscheinen. Leichen, so ein Quatsch! Ein Stein, nichts weiter. Wegen so was kann man doch nicht zur Polizei gehen, das wäre ja mehr als peinlich. Aber sie konnten die beiden Schlafsäcke und den Fundort nicht einfach ignorieren und verabredeten sich für den nächsten Tag: Bei ausreichendem Tageslicht wollten sie die beiden Säcke noch einmal genauer in Augenschein nehmen.

Am Nachmittag des folgenden Tages trafen sie sich wieder vor dem Wäldchen und gingen nun schnurstracks zu den beiden Schlaf-säcken. Doch zehn Meter davor schrie Max laut auf. Direkt neben ihm lag ein menschlicher Schädel! Ein Totenschädel, wie er ihn bisher nur aus Filmen kannte. Erneut rannten sie davon und diesmal hatten sie überhaupt keine Hemmungen, die Polizei zu informieren.

Damit die Spurensicherung mit ihrer Arbeit beginnen konnte, musste die Feuerwehr mit Strahlern das lichtkarge Wäldchen zunächst ausleuchten. Der grausige Fund bestätigte sich: In den Schlafsäcken befanden sich tatsächlich die Überreste zweier Leichen. Die Körper schienen nicht zum ersten Mal entdeckt worden zu sein. Davon zeugten Tierfraßspuren an den sterblichen Überresten und die Tatsache, dass sich ein Schädel fast zehn Meter entfernt vom Torso fand. Trotz dieser Manipulation ließ sich gut erkennen, dass die beiden Personen Opfer brutaler Gewalt geworden waren. Die gesamte linke Außenseite sowie der zentrale Stirn- und Nasenbeinbereich des ersten Schädels waren zerstört. Beim zweiten Schädel hatten die massiven Schläge den gesamten Gesichtsbereich herausgebrochen. Zur weiteren Untersuchung wurden die beiden Körper in die Frankfurter Rechtsmedizin gebracht.

Zertrümmerter Schädel einer der beiden Leichen.

Dort zeigte die Begutachtung der Leichen, dass es sich bei den Toten um Männer zwischen 25 und 35 Jahren handelte, die durch massive stumpfe Gewalteinwirkung auf den Kopf zu Tode gekommen waren. Während der kleinere offensichtlich schwarze Haare aufwies, zeigte sich beim Größeren der beiden eine dunkelblonde Behaarung. Weitere Erkenntnisse waren aufgrund der weit fortgeschrittenen Fäulnisprozesse erschwert, die inneren Organe hatten sich weit gehend aufgelöst. Verletzungen an den übrigen Knochen konnten nicht festgestellt werden.

Für die Polizei war nun der Todeszeitpunkt der beiden Männer wichtig: Seit wann hatten die Leichen im Wäldchen gelegen? Die Todeszeitbestimmung gilt als eine der wichtigsten Aufgaben der Rechtsmedizin und als Laie erwartet man deshalb im vorliegenden Fall eine schnelle und exakte Zeitangabe. Parameter wie die sich schnell ausbildenden Totenflecken, die immer steifer werdende Muskulatur sowie die abfallende Körperkerntemperatur sind in den ersten ein bis zwei Tagen nach Todeseintritt wichtige Anhaltspunkte. Sobald sich die Körpertemperatur der Umgebungstemperatur angeglichen hat, die Totenflecken nicht mehr wegdrückbar sind und die Totenstarre gelöst ist, greifen diese Hilfsmittel aber nicht mehr. Nach spätestens 48 Stunden existiert also keine vernünftig abgesicherte, rechtsmedizinische Methode zur Todeszeitbestimmung. Es war offensichtlich, dass im Fall der beiden Schlafsackleichen dieser Zeitraum lange überschritten worden war. Was nun? Der verantwortliche Obduzent äußerte aufgrund seiner langjährigen Erfahrung eine erste Vermutung, er schätzte unter Berücksichtigung des Verwesungszustandes die Leichenliegezeit auf mindestens ein halbes Jahr. Das würde bedeuten, dass die Männer bereits seit Mitte Mai im Unterholz gelegen hätten. Doch bei der Begutachtung der Leichen fanden sich weitere Spuren, die die Ermittler auf eine wissenschaftlich begründbare Eingrenzung des Todeszeitpunktes hoffen ließen: Die Körper wiesen massiven Madenbefall auf. Konnte man sich diesen Umstand zunutze machen?

Die Grundprinzipien der dafür zuständigen kriminalistischen Insektenkunde sind schnell erklärt. Bereits kurz nach Todeseintritt versammeln sich die ersten nekrophagen (aasfressenden) Insekten am Leichnam. Typische Erstbesiedler sind in der Regel die Schmeißfliegen (Diptera: Calliphoridae), deren Eigelege oft bereits wenige Stunden oder sogar Minuten nach Todeseintritt an der Leiche festgestellt werden können. Aus den Eiern schlüpfen ein bis zwei Millimeter große Fliegenmaden, die sich während des Wachstums vom Leichengewebe ernähren. Nach Abschluss der Nahrungsaufnahme verlassen sie die Leiche, um sich zu verpuppen. Die nächste Generation erwachsener Fliegen schlüpft bereits nach wenigen Tagen und der Kreislauf kann von Neuem beginnen. Wie schnell so ein Entwicklungszyklus durchlaufen wird, hängt von der Umgebungstemperatur und der Artzugehörigkeit der Fliege ab. Insekten sind, anders als etwa Säugetiere, wechselwarm. Ihre Körpertemperatur und damit alle biochemischen und physiologischen Prozesse werden von der Umgebungstemperatur beeinflusst. Mit steigender Temperatur entwickeln sich die Tiere schneller, mit sinkenden Werten verlangsamt sich der Wachstumsprozess. Dabei existieren Schwellenwerte, die nicht unter- bzw. überschritten werden dürfen, weil sonst die Entwicklung stoppt oder das Tier stirbt. Jede Insektenart muss zum Durchlaufen eines kompletten Entwicklungskreislaufes eine bestimmte Menge an Temperatur »anreichern«. Diese notwendige Temperaturmenge ist für jede Insektenart innerhalb eines engen Spielraumes konstant, zwischen den einzelnen Arten gibt es jedoch Unterschiede.

Weiß man, welche Temperatur am Leichenfundort herrscht, ist es durch die Bestimmung der Insektenart möglich, einen Zeitraum zu ermitteln, den die Insekten bis zum Erreichen des an der Leiche gefundenen Entwicklungsstadiums benötigt haben. Es wird also letztendlich eine Altersbestimmung der an einer Leiche vorgefundenen Insekten durchgeführt. Man muss deshalb immer versuchen, das älteste Entwicklungsstadium zu finden, denn dieses Tier wird sich am längsten auf der Leiche befunden haben. Sein Alter entspricht der so genannten minimalen Leichenliegezeit. Sie gibt an, seit wann das Opfer mindestens tot ist bzw. wann der Leichnam von Insekten besiedelt wurde. Der Zeitraum der minimalen Leichenliegezeit ist nicht zwingend deckungsgleich mit der seit Todeseintritt vergangenen Zeit: Fliegen müssen den Leichnam erst einmal finden. Zu den Faktoren, die eine Besiedlung verzögern oder gar verhindern, zählen regnerisches Wetter oder niedrige Temperaturen. Liegt der Körper in einer Wohnung oder im Kofferraum, ist er vergraben oder schwimmt er im Wasser, ist es den Fliegen oft nur mit einer Verzögerung möglich, an den...