Lesbos Reiseführer Michael Müller Verlag - Individuell reisen mit vielen praktischen Tipps

von: Thomas Schröder

Michael Müller Verlag, 2015

ISBN: 9783956543234 , 252 Seiten

7. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 13,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Lesbos Reiseführer Michael Müller Verlag - Individuell reisen mit vielen praktischen Tipps


 

Traditionen im Umbruch
Großer Andrang: Pilger in der Wallfahrtskirche von Agiássos
Natürlich ist auch Lésbos von Internationalisierung und Amerikanisierung nicht frei geblieben: Satellitenschüsseln, Videospiele und Ähnliches finden sich mittlerweile auch in manch entlegenerem Dorf. Uns steht es nicht an, darüber die Nase zu rümpfen - zumindest die örtliche Jugend ist ganz dankbar dafür.
Die Mitgliedschaft in der EU, der zunehmende Tourismus, sicher auch das Fernsehen haben zwar uralte Werte ins Wanken gebracht; dennoch bewegt man sich in Griechenland immer noch in einer Kultur, die durchaus beträchtliche Unterschiede zu unserer aufweist.
Die Orthodoxe Kirche
In Griechenland besitzt die Kirche zumindest in der älteren Bevölkerung noch großen Rückhalt. Nicht vergessen ist nämlich bis heute die bedeutende Rolle, die die Orthodoxe Kirche in türkischer Zeit als Hüterin und Bewahrerin griechischer Kultur spielte. Mutige Äbte und Mönche lehrten damals im Verborgenen die griechische Sprache. Auf Lésbos waren es insbesondere die Klöster von Limónos und
Myrsiniotíssas, beide bei Kalloní, die diese gefährliche Aufgabe auf sich nahmen. Auch im Zweiten Weltkrieg unterstützte die Kirche tatkräftig den Widerstand gegen die Besatzer, gewährte Partisanen Unterschlupf und half bei der Vorbereitung geheimer Treffen. Traditionell sind deshalb Staat und Kirche in Griechenland eng verbunden.
Häufiger Anblick: Bildstock am Meer
Die Orthodoxe („Rechtgläubige“) Kirche trägt ihren Namen nach dem Anspruch, einzig rechtmäßige Nachfolgerin der ursprünglichen römischen Kirche zu sein, sieht sich deshalb als vollkommen und immerwährend. Folgerichtig hat sie ihre Lehre und ihren Kultus, in dessen Mittelpunkt die Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte und der Empfang des Heiligen Abendmahls steht, seit dem Siebten Ökumenischen Konzil von 787 nicht mehr grundlegend verändert. Eine solche Grundhaltung, verbunden mit traditionell starker Position im Staat, sorgt naturgemäß für eine extrem konservative Einstellung gegenüber Reformen. Die sozialistische PASOK-Partei hat in den Achtzigerjahren deshalb versucht, die Macht der Kirche zu beschneiden, was ihr teilweise auch gelungen ist: so steht seit 1982 (!) die standesamtliche Trauung der kirchlichen gleichberechtigt gegenüber, 1987 wurde gar überlegt, die immensen Reichtümer der Kirche zu verstaatlichen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Orthodoxe Kirche keinerlei soziale Ambitionen hegt, karitative Arbeit nicht stattfindet.
Die Priester (Papádes) sind fester Bestandteil des Dorflebens. Bekleidet mit langen, dunklen Gewändern, das lange Haar unter der charakteristischen Kopfbedeckung im Nacken verknotet, die Bärte üppig, sieht man sie auf der Platía sitzen, aber auch auf den Feldern arbeiten: Ihr Gehalt ist gering (eine Kirchensteuer gibt es nicht), weshalb sie zum Nebenerwerb praktisch gezwungen sind. Das Zölibat betrifft in der Orthodoxen Kirche nur obere Ränge: Ein einfacher Papás darf verheiratet sein und Kinder haben, der Aufstieg zum Bischof bleibt ihm aber verwehrt.
Familie und Gesellschaft
Traditionell ist es in Griechenland seit jeher die Großfamilie, die anstelle des Staates für sozialen Schutz sorgt. Sie springt ein, wenn ein Mitglied, und sei es nur ein entfernter Vetter, seine Arbeit verliert oder auf andere Weise in wirtschaftliche Nöte gerät. Unumstrittenes Oberhaupt, oft sogar über bereits verheiratete Söhne, ist der Vater. Die modernen Zeiten gingen jedoch auch an Lésbos nicht vorüber - langsam, aber wohl unumstößlich, naht das Ende der Großfamilie, eingeleitet meist durch den Umzug der Kinder aufs Festland oder die Emigration ins Ausland. Im Sommer jedoch, wenn alle zum Besuch in die Heimat zurückgekehrt sind, ist die griechische Familienwelt wieder in Ordnung.
Auch entlegene Kapellen sind oft liebevoll geschmückt
Stellung der Frau: Das griechische Patriarchat hatte sich lange erfolgreich gegen Emanzipationsbestrebungen gewehrt: 1952 erst wurde das volle Wahlrecht für Frauen eingeführt, die Gleichberechtigung sogar erst 1975 in der Verfassung verankert. Doch immer noch hat in vielen Dörfern, allen Gesetzen zum Trotz, traditionsgemäß das Familienoberhaupt das Sagen - und das ist eben nach wie vor der Mann.
Heirat: Die standesgemäße Heirat der Söhne und Töchter besitzt hohe Bedeutung und wird z. T. immer noch von den Vätern arrangiert. Eine schwere Belastung für die Familien war und ist das System der Mitgift (Príka), das die Aussteuer der Tochter regelt: Je höher der soziale Status des Heiratskandidaten, desto höher auch die von den Brauteltern aufzubringende Aussteuer, die in Geld, Wohnraum oder einem Stück Land bestehen kann. Offiziell ist dieses Mitgiftsystem seit 1983 zwar abgeschafft, doch besteht es unter der Hand teilweise weiter. Auch heute noch gilt als wichtig, dass die Braut jungfräulich in die Ehe geht; zumindest der Anschein muss gewahrt bleiben.
Kriminalität: Vielleicht ist es wirklich auf die regulierende Wirkung der Großfamilie zurückzuführen - in punkto Kriminalität besitzt Griechenland jedenfalls einen guten Ruf. Dies gilt erst recht für die Inseln. In Touristenzentren und an viel besuchten Stränden ist zwar trotzdem etwas Vorsicht angebracht, doch muss man sich im Regelfall um sein Hab und Gut kaum sorgen. Wenn doch etwas geklaut wird, dann ist es nicht unwahrscheinlich, dass ein anderer Tourist der Missetäter war.
Vólta: Eine griechische Tradition, die in vielen anderen Mittelmeerländern ihre Entsprechung findet und besonders in größeren Dörfern und den Städten zu beobachten ist: Die Promenade am Abend, die immer auf bestimmten Straßen stattfindet, in Küstenorten meist entlang des Hafenboulevards. Ganze Familien, Teenagergrüppchen und Soldaten auf Ausgang schlendern gemächlich auf und ab, an den Wochenenden aufs Feinste herausgeputzt. Zweck der Übung: Sehen und Gesehen werden; für die Jugend natürlich auch Gelegenheit zum Anbahnen erster zarter Kontakte - klar, dass die Eltern da ein besonders wachsames Auge auf ihre Töchter haben.
Emigration? Für sie kein Thema
Filoxenía: Die viel gerühmte griechische Gastfreundschaft gibt es in ihrer ursprünglichen Form kaum mehr. Wie sie früher beschaffen war, verdeutlicht die Tatsache, dass es im Griechischen für die Begriffe „Fremder“ und „Gast“ nur ein Wort gibt: Xénos. Entsprechend wurden Fremde empfangen, man bot ihnen Essen, Quartier und den Schutz der Großfamilie. Der Massentourismus hat diese uralte Art der Gastfreundschaft praktisch unmöglich gemacht; nicht zu reden von den Schnorrern früherer Jahre, die ihre Gastgeber für ihre Uneigennützigkeit oft genug noch verspotteten. Freundlich geblieben sind die meisten Griechen jedoch noch immer; und wer eingeladen wird, sollte dieser Einladung auch Folge leisten, Speis und Trank nicht unhöflich ablehnen. Anders ist es um die an Touristinnen gerichtete Einladung durch junge Männer bestellt, siehe unten.
Anmache: Im Gegensatz zu den Frauen sind griechische Männer keinesfalls zur vorehelichen „Jungfräulichkeit“ verdammt. Da nun die einheimischen Mädchen zwangsweise zurückhaltend sind, die mittel- und nordeuropäischen Touristinnen dagegen nicht unbedingt in diesem Ruf stehen, versucht so mancher eben bei diesen sein Glück. Wer nicht auf solche Bekanntschaften aus ist und dies deutlich zu verstehen gibt, hat jedoch keine Probleme.
Emigration
Auswanderung ist trotz des relativen Wohlstands der Insel immer noch ein Thema. Das hat durchaus Tradition, gründeten doch schon die Griechen der Antike Kolonien im gesamten Mittelmeerraum. Die Emigration im heutigen Sinne begann im 19. Jh., als viele ihr Glück in Amerika suchten. Weitere Auswanderungswellen folgten der „Kleinasiatischen Katastrophe“ von 1922 und dem Zweiten Weltkrieg. Heute leben allein in den USA etwa 2,3 Millionen Griechen, in Deutschland sind es etwa 300.000.
Vor allem die Jungen wollen weg von ihrer Insel, nicht nur aus beruflichen und finanziellen Gründen, obwohl diese natürlich immer wichtiger werden. Oft ist es aber schlicht auch Langeweile, die sie treibt. „Im Sommer, wenn die Touristen da sind, ist ja einiges los. Die Winter aber sind entsetzlich öde“: So oder so ähnlich klingt es oft, wenn man sich mit der Inseljugend unterhält. Amerika und Kanada, verstärkt auch Deutschland, sind die Traumziele.
Viele der Emigranten, die sonst in den USA, Australien, Kanada oder dem europäischen Ausland leben, kehren während der Sommersaison auf die Insel zurück, wo sie zum Nebenerwerb oft ein kleines Hotel oder eine Pension eingerichtet haben. Und auch in...