g.r.a.s. - Roman

von: Achim Koch

Schruf & Stipetic, 2015

ISBN: 9783944359113 , 412 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 9,99 EUR

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g.r.a.s. - Roman


 

1.


Jahre gleiten hier vor sich hin, reisen ohne Zeit

Wir wussten schon seit drei Tagen, dass er kommen würde, und waren gut vorbereitet. Nachrichten konnten sich bei uns pfeilschnell verbreiten: Ein Msungu ist mit dem Zug in Kibombo angekommen und sucht Niep. Niemand hätte erwartet, dass irgendwann einmal ein Weißer in diese Gegend kommen würde. Dabei hätte ich es eigentlich wissen müssen. Doch wie hatte er mich gefunden?
Fast alle standen am Rande von Tunga und hörten, lange bevor wir etwas sahen, das laute und fröhliche Palaver aus dem Wald anschwellen. Dann entdeckten wir ihn. Er saß auf dem ausladenden Gepäckträger eines alten, schweren, indischen Fahrrads und ließ sich den schmalen Trampelpfad entlang schieben. Das Rad hatte nur noch das, was es wirklich brauchte. Die Pedale waren abgerissen, Schutzbleche abgefallen, die Lampen und die Klingel wahrscheinlich verkauft. Der verbogene alte Handbremshebel diente als Haken zur Befestigung von Transportgütern.
Um den Weißen herum erkannte ich Fahrradschieber, Träger, einige Ortskundige, aber vor allem diejenigen, die sich aus den Dörfern, durch die er gereist war, einfach angeschlossen hatten, zunächst sicherlich nur, um vor Ort zu erfahren, warum jemand Niep suchte. Einige hatten ihre Kinder mitgebracht oder schleppten bei dieser Gelegenheit Lasten auf dem Kopf, die vielleicht immer schon einmal nach Tunga transportiert werden sollten. Es war ein lustiger und bunter Haufen. Die Frauen trugen Pagnestoffe in starken Farben und aus den gleichen Stoffen Tücher mit kunstvoll gewundenen Schleifen auf den Köpfen. Ihre Farben vermischten sich mit denen der Männer, dem Pastell der T-Shirts und Shorts, die einmal zum hippen Leben in Europa oder Asien gehört hatten. Die fremden, verblichenen Hemden der Besucher erinnerten mich an längst verworfene Zeiten. Portraits von Madonna, Motive von Lady Gaga und Justin Biber, Werbung für die neue C-Klasse, für Samsung oder Jägermeister, Trikothemden von Lahm, Messi, Balotelli oder andere mit Sprüchen wie Hetz mich nicht, Never say never, Sex me. Ich allein wusste noch, was all das vor vielen Jahren bedeutet hatte. Für die Träger der Hemden hier aber war das unerheblich.
Alle gingen barfuß. Schon von Weitem winkten sie und riefen erste Begrüßungen, die aus dem Dorf laut beantwortet wurden. Den Weißen zu begleiten war wahrscheinlich nur der Anlass. Man wollte sich wieder einmal ausführlich besuchen.
Der Mann stieg umständlich vom Fahrrad und stakte wie auf Stelzen auf uns zu. Er trug schmutzige Khakihosen, eine mit Außentaschen übersäte fleckige Khakijacke, hohe Tropenstiefel aus Stoff, eine Cap auf der eindeutig DEBAKEL stand und eine viel zu kleine Brille, die in sein rundes Gesicht eingewachsen zu sein schien. Seine dunklen, langen Haare waren am Hinterkopf zu einem Zopf gebunden. Er schien weitaus jünger zu sein als ich. Vielleicht Mitte dreißig. Aber er wirkte, als würde ihm der gesamte Wald von hier bis zum Kivusee gehören.
»Karibu!«, sagte ich. »Das heißt Willkommen«, erklärte ich auf Deutsch. Ja, und dann kam dieser dämliche Stanley-Livingston-Satz: »Dr. Kniep Hölstenberger, I pressume
Amisi stand würdevoll neben mir. Er hatte seine Tracht angelegt, einen kunstvoll bestickten Umhang mit vielen Federn und trug die traditionelle Kopfbedeckung auf dem immer kahl rasierten Schädel. In der Hand hielt er seinen schweren schwarzen Holzstab, in den Tiermotive eingeschnitzt waren. Um den Hals hatte er sich eine Kette gelegt, an der viele spitze Zähne hingen. Nicht allzu überschwänglich, eher ernst und vornehm winkte er den Besuchern aus den anderen Dörfern zu. Wie immer bei offiziellen Anlässen behielt er Kontenance, denn Amisi war sich seines Amtes bewusst. Ohne den Blick von unserem Besucher zu lösen, raunte er mir möglichst unauffällig zu:
»Was ist das denn für ein komischer Typ?«
Der Msungu schaute uns abwechselnd und mit leicht geöffnetem Mund an. Dann reichte er mir selbstherrlich aber mit einem leicht debilen Grinsen die Hand:
»Ich bin Ronald von der deutschen Botschaft.«
Während wir noch Hände schüttelten, wandte ich mich zu Amisi und blickte erwartungsvoll in sein regungsloses Gesicht. Diesen Ausdruck hatte er in Momenten größter Anspannung.
»Dieser Herr«, sagte ich zu diesem Ronald von der deutschen Botschaft, »ist der Chef Coutumier, der König hier, wenn Sie so wollen.«
»Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen«, sagte er zu Amisi - auf Deutsch. Nichts geschah, bis ich merkte, dass ich übersetzen musste.
»Der Typ heißt Ronald, ist von der deutschen Botschaft und freut sich, dich zu sehen.«
»Frag den komischen Weißen, ob er Französisch oder Suaheli spricht«, teilte Amisi mir mit einem immer noch versteinerten, fast ablehnenden Gesichtsausdruck mit.
»Der König freut sich auch«, übersetzte ich, »und würde gern erfahren, ob Sie Suaheli sprechen.«
»Tut mir Leid«, antwortete er, »aber ich spreche Französisch«.
»Er spricht nichts von allem«, wandte ich mich fröhlich an Amisi. Daraufhin rief er laut:
»>Jambo!« Und deshalb riefen alle um uns herum auch: »Jambo!« Und damit war die Begrüßungszeremonie zunächst einmal beendet und das Besuchsprogramm konnte beginnen.
Amisi forderte uns auf, ihn zu seiner Hütte zu begleiten. Er besaß die größte Parzelle im Dorf. Nur seine Hütte trug kein Dach aus Bananenblättern, sondern war mit einer alten, großen Plastikplane bedeckt, auf der das Symbol und der Schriftzug der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR zu erkennen war. Niemand schien mehr zu wissen, wie diese Plane ins Dorf und auf Amisis Dach gekommen war. Pflanzen, die aussahen wir Säulenkakteen, aber Wolfsmilchgewächse waren, fassten seine Parzelle ein. Sie dienten weniger als Zaun, sondern zum Trocknen von Amisis Zweitwäsche, die darüber ausgelegt war. Um seine Lehmhütte herum hatte er von seinen Frauen anbauen lassen, was seine große Familie zum Essen benötigte, vor allem Maniok, doch auch Süßkartoffeln, Erdnüsse und Palmölbäume. Wir nahmen vor der Hütte auf schiefen dreibeinigen Hockern Platz.
Auch der alte Simba kam mit seinem Papagei dazu. Er trug ein so verblichenes T-Shirt, dass nicht mehr zu erkennen war, welche Botschaft es einst verkündet hatte. Wie alle im Dorf war auch er barfuß. Er hockte sich auf den Boden vor das vom Regen ausgewaschene Fundament der Hütte. Eine von Amisis Frauen, Onga oder Inga - es waren zu viele -, bot uns Wasser und Erdnüsse an. Niemand sprach, bis der Deutsche all seine vielen Außentaschen durchgefingert hatte, schließlich einen Zettel hervorkramte, ihn umständlich auseinanderfaltete, Amisi bedeutungsvoll zureichte und mit dem gleichen debilen Grinsen sagte:
»Bevor ich es vergesse, das ist meine Ordre de Mission. Wenn Sie so freundlich sein könnten, sie mir abzustempeln, zu unterschreiben und das heutige Datum einzutragen.«
Amisi hielt das Blatt in der Hand wie die vergiftete Spitze eines Pygmäenpfeils. Nahezu hilflos starrte er mich an.
»Was will der Typ von mir?«
»Du sollst das abstempeln und das heutige Datum einfügen.«
Amisi drehte und wendete das Papier endlos lange in der Hand.
»Ich hab′ den Stempel schon seit Monaten nicht mehr gesehen und ich kenn′ auch das heutige Datum nicht.«
»Steht das Datum nicht auf deiner Uhr?«, fragte ich laut und die Frauen in der Hütte begannen albern zu kichern. Amisi war der Einzige im Dorf, der eine Uhr trug. Sie war fast so groß wie ein Wecker, glänzte unübersehbar in einem auffälligen Rotgold und wurde von einem breiten, protzigen Metallband gehalten. Es war so lang, dass die Uhr um sein Handgelenk schlackerte. Alle wussten, dass sie nicht lief, denn Amisi kannte weder Zeit noch Datum, um sie zu stellen. »Mensch, Amisi«, sagte ich, »gib das Blatt Inga oder Unga und lass sie etwas Schwarzes draufdrücken. Der Typ sollte bald wieder verschwinden. Findest du nicht auch?«
Ohne den Körper und den Kopf zu bewegen, hob Amisi langsam das Dokument, hielt es hinter seinen Kopf in Richtung der Hütte und zischte laut zwischen den Zähnen. Sofort näherte sich eine der Frauen lautlos von hinten. Ohne den Kopf zu wenden, erteilte Amisi den Auftrag so leise, dass auch ich nichts verstand.
Schweigend warteten wir, bis die Frau zurückkehrte und Amisi das Papier überreichte. Dabei hielt sie es mit zwei Händen und deutete einen untertänigen Knicks an. Sie blieb in ihrer Wartehaltung, bis Amisi ein Nicken andeutete. Das Papier sah perfekt aus.
»Das Datum und Ihre Unterschrift noch«, sagte der Botschaftsmann, nachdem er die Ordre kritisch untersucht hatte. Amisi hatte verstanden und tastete auffällig an seinem traditionellen Umhang herum, als würde er dort seit jeher einen Stift tragen. Der Deutsche half mit einem Kuli aus, auf dem DIPLO KINSHASA stand.
»Haben wir heute schon den Fünften?«, fragte Amisi mich scheinbar abwesend und in betonter Langeweile.
»Haben wir heute schon den Fünften?«,...