Meine Frau, der Osten und ich

von: Ben Worthmann

neobooks Self-Publishing, 2015

ISBN: 9783738030884 , 180 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 3,99 EUR

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Meine Frau, der Osten und ich


 

1.



Es war eine Sommernacht, wie man sie sich nur wünschen kann, mondhell und durchsichtig, die Luft noch leicht und mild von der Sonne des Tags. Aber Annas Laune war alles andere als gut und meine, ehrlich gesagt, auch nicht - so schön hätte eine Sommernacht gar nicht sein können, um daran groß etwas zu ändern.

Wir standen im Stau auf der Autobahn Richtung Berlin, ob immer noch im Süden von Mecklenburg-Vorpommern oder bereits im Norden von Brandenburg, hätte sich wahrscheinlich feststellen lassen. Aber ob das eine Rolle spielte, war nicht so sicher. Einerseits war es gut war um jeden Meter, den wir zwischen uns und jenen Ort brachten, in dem wir etwas Ruhe und Entspannung zu finden gehofft hatten, was sich als Illusion erwiesen hatte. Andererseits gab es keinen Grund, dem bevorstehenden Wiedereintritt in die Bahnen des Alltags mit jener Erleichterung entgegenzusehen, die sich normaler Weise bei Menschen einstellt, die einen missglückten Urlaub endlich hinter sich gebracht haben.

Ich hatte von Anfang an kein gutes Gefühl bei dieser Sache gehabt. Manchmal denke ich, dass es ein Fehler ist, seinen Intuitionen nicht stärker zu vertrauen, auch als Mann. Inzwischen sah es nämlich so aus, als hätten sich zu meinen Ahnungen die passenden Tatsachen hinzugesellt, und gerade das ist es ja, was Ahnungen so unangenehm machen kann: dass sie sich bisweilen bewahrheiten. Ich hatte Anlass, mich um meinen Job zu sorgen, sofern ich nicht irgend etwas missverstanden hatte. Aber so wie es geklungen hatte, war daran eigentlich nichts Missverständliches gewesen. Es war ein regelrechter Alarmruf gewesen. Ich musste schnellstens zurück nach Berlin, das stand außer Zweifel. Doch mittlerweile kam es mir so vor, als versuchten finstere Mächte mich daran zu hindern. Wenn mir vor kurzem jemand erzählt hätte, man könne einen ganzen Abend und die halbe Nacht damit zubringen, diese Strecke von weniger als dreihundert Kilometern zurückzulegen, wäre es mir bestimmt schwergefallen, ihn nicht für etwas verschroben zu halten. Und dieser Stau war genau das, was uns noch gefehlt hatte.

Ich suchte meine Notreserven an Nervenkraft zusammen und bemühte mich, Anna zu beruhigen, indem ich unsere Situation - sowohl die aktuelle als auch die mittelfristige -, ein bisschen herunterspielte. Im Grunde sei doch alles nicht so schlimm, sagte ich zu ihr, womöglich werde sich manches im Licht des nächsten Tags schon ganz anders darstellen. Und dass wir nun hier ein Stündchen auf der Autobahn parken müssten, sei zwar ärgerlich, aber nun einmal nicht zu ändern.

„Wie deine Mutter“, sagte Anna, „du bist genau wie deine Mutter, und je älter du wirst, um so größer wird die Ähnlichkeit“.

Was sie mit dem Vergleich „wie deine Mutter“ zum Ausdruck bringen wollte, war mir durchaus klar. Anna ist der Ansicht, dass mir viele Dinge zu wenig nahegehen. Sie empfindet es als einen Akt der Illoyalität ihr gegenüber, wenn ich mich nicht genügend aufrege, wenn sie selbst etwas als bedrohlich oder zumindest beunruhigend empfindet – wie beispielsweise nächtliche Verkehrsbehinderungen auf einer Autobahn infolge eines Unfalls, bei dem es wahrscheinlich nicht nur Blechschäden gegeben hat. Sie moniert meine Mentalität als Stoizismus, und alle meine Versuche, sie über das eigentliche Wesen dieser altgriechischen Denkschule aufzuklären, sind über die Jahre fruchtlos geblieben. Die Stoiker verfügten über die Kunst der Gelassenheit, Ataraxia, was etwas völlig anderes ist als das, was Anna in meiner Mutter verkörpert sieht. Im Grunde waren die Stoiker eine Art Buddhisten, nur dass die Buddhisten heute jeder kennt. Buddhismus liegt im Trend, und ich gebe gern zu, dass ich ihm durchaus einiges abgewinnen kann.

Manchmal träume ich davon, so weit zu sein, dass ich mit seiner Hilfe gewisser Situationen Herr werden kann, etwas solcher, in denen Anna auf dem Mütter-Thema herumreitet. Aber diesen Traum werde ich wohl noch lange träumen, so wie es aussieht. Interessanter Weise nützt es mir übrigens gar nichts, wenn ich - was selten geschieht - auch einmal etwas die Contenance verliere und mich weder stoisch noch buddhistisch gebe. Dann heißt es von Annas Seite sofort: „Wieso kannst denn nicht wenigstens du einmal die Ruhe bewahren? Nun nimm dich doch ein bisschen zusammen! Es reicht doch wohl, wenn ich mich aufrege“. Allzu häufig passiert es zum Glück nicht, dass ich mich so gehen. lasse, im Allgemeinen gelingt es mir relativ leicht, das Mutter-Thema einfach von der Tagesordnung abzusetzen. Doch dies war nicht mein Tag, die Nacht mit eingeschlossen, ich war alles in allem nicht weniger fertig als Anna. Es kam, wie es nicht hätte kommen dürfen - ich zahlte es ihr mit gleicher Münze heim.

„Guck dir doch dich und deine Mutter an, dann weisst du, wo die wirklichen Probleme liegen“ , entgegnete ich.

Annas Mutter ist auf übertriebene Weise ängstlich - übertrieben nicht nur nach den Maßstäben eines Schwiegersohns, dem angeblich der Makel übertriebener Unempfindlichkeit anhaftet. Annas Mutter macht sich schlichtweg mit allem verrückt, und Anna hat auch diese Neigung. Ich möchte nicht wissen, wie oft sie im Lauf unseres Lebens schon die Frage an mich gerichtet hat: „Meinst du, dass das gefährlich ist?“ Wobei es sich ebenso um einen Mückenstich wie um die Aids-Epidemie in Afrika oder ein Erdbeben in Guatemala oder auch um eine Glatteis-Warnung in Oberbayern handeln kann.

Außerdem hat Anna einen leichten Hang zur Klaustrophobie, der sich unter anderem daran zeigt, dass sie weder in Flugzeuge noch in Fahrstühle steigt. Allerdings steigt sie in Autos, obwohl sie wissen müsste, dass Autofahren gelegentlich mit Stau-Erfahrung verbunden ist - eine Situation, die auf Annas Gefährlichkeitsskala ebenfalls einen recht prominenten Rang einnimmt. Ihr diesbezügliches Verhalten ist, wie man ahnt, nicht frei von Widersprüchen. Wenn ich zu Anna sage „wie deine Mutter“, geschieht das üblicherweise in Notwehrsituationen, und ich habe dann meistens kein schlechtes Gewissen. In jener Nacht jedoch bereute ich es sofort, als ich sah, wie sie noch blasser wurde und sich in ihren Sitz kauerte, als wolle sie eins mit der Rückenlehne werden.

„Okay“, sagte ich, „vergiss es, es tut mir leid, wirklich. Lass uns jetzt bloß. nicht auch noch streiten.“

Aber ich wusste nicht, ob dieses Friedenssignal gebührend gewürdigt wurde. Das war ja auch alles ein bisschen viel gewesen in letzter Zeit. Man muss kein Defätist sein, um gelegentlich depressive Anwandlungen zu bekommen, wenn man so sieht, was innerhalb von ein paar Stunden passieren kann. Plötzlich kommt einem das Leben wie ein schnellwucherndes, bösartiges Unkraut vor, das nichts anderes im Sinn hat, als einem über den Kopf zu wachsen. Es gibt diese komprimierte Variante des Ketchup-Flaschen-Prinzips, jenes zweifelhaften Paradigmas, welches das menschliche Dasein nachhaltiger prägt als die meisten großen ideengeschichtlichen Entwürfe - erst kommt lange nichts und dann alles auf einmal. Doch es ist längst nicht immer von Segen, was da kommt, und wenn das Leben gerade einen schlechten Tag hat, kippt es einem die ganze Flasche über den Kopf, bevor man die kleinste Chance hat, in Deckung zu gehen. Wir standen im Stau auf der Autobahn in Ostdeutschland, und das

war, wie gesagt, genau jenes Quentchen zu viel. Ein Stau auf der Autobahn reicht unter normalen Bedingungen schon aus, um Anna stark zu beunruhigen, doch so wie die Dinge lagen, konnte man kaum von normalen Bedingungen sprechen.

Anna sagte, sie halte das nicht länger aus, sie wolle jetzt nach Hause, und zwar sofort, außerdem sei dieser Ölgeruch kaum zu ertragen. Ich sagte ihr, erstens sei die Sache mit dem Öl halb so schlimm, das wisse sie doch inzwischen, zweitens sei daran jetzt nichts zu ändern und drittens müsse sie sich noch etwas gedulden mit der Weiterfahrt. So wie sie da neben mir saß in dem kurzen weißen Kleid, das ihr, ohne dass sie es zu bemerken schien, bis über die halben Schenkel hochgerutscht war, mit ihrer blonden Mähne, in der trotz der nächtlichen Dunkelheit immer noch die Sonnenbrille steckte, sah sie aus wie die Sünde, trotz dieses Gesichtsausdrucks, der alles andere als sexy war oder vielleicht auch doch, trotz allem. Frauen sind das größte Rätsel der Natur. Je länger man sie kennt, desto so weniger weiß man über sie, auch wenn es sich um Frauen

in einem seit Jahren höchst vertrauten Singular handelt.

„Manchmal bist du ein richtiger Blödmann“, sagte Anna, allerdings ohne besondere Schärfe. Das klang angesichts der Verhältnisse schon fast wie eine Liebeserklärung. Man glaubt nicht, wie beruhigend ein Schimpfwort aus dem Mund einer Beziehungsperson klingen kann. Julius erklärte vom Rücksitz aus, keine Sekunde länger werde er sich dies hier anhören. Was er nur verbrochen habe, mit solchen Eltern geschlagen zu sein, er werde jetzt aussteigen und sich die Füße vertreten, um seine Ruhe vor uns zu haben. Er war knapp dreizehn, in jenem Alter also, da Kinder oft entdecken, dass sie schwer erziehbare Eltern haben.

„Untersteh dich!“, fuhr seine Mutter ihn an und ihre Stimme hatte genau den Unterton, der mich an ihre Mutter erinnerte, was ich aber wohlweislich für mich behielt. Dieses Mütter-Thema ist ein Kapitel für sich - wenn man mich fragt, so ungefähr das dunkelste in der Geschichte der menschlichen Zweierbeziehung. Es markiert den Kulminationspunkt in der Kunst des Ehestreits, aber ob es sich dabei tatsächlich um einen Höhepunkt oder nicht eher um den Tiefpunkt handelt, das ist noch die Frage. Jedenfalls kann einen so leicht nichts mehr erschüttern, wenn man ihn erst erreicht hat.

Dabei ist - um kein falsches Bild entstehen zu lassen - eine leibhaftige Schwiegermutter gar nicht...