Der Spalt - Roman

von: Peter Clines

Heyne, 2016

ISBN: 9783641175078 , 528 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Der Spalt - Roman


 

2

»Los, Leute«, sagte Leland »Mike« Erikson. Er ließ den Blick durch das Klassenzimmer schweifen und sah jedem Schüler kurz in die Augen. »Tut einfach noch fünf Minuten so, als hättet ihr eure Hormone unter Kontrolle. Ihr könnt euch den ganzen Sommer über wie Jugendliche aufführen.«

Es gab viele Möglichkeiten, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, aber nur wenige, sie aufrechtzuerhalten, wenn die Ferien bevorstanden. Er betrachtete sie mit »dem Blick«. Er wusste aus Erfahrung, dass man, wenn man ein guter Lehrer sein wollte, den Blick nicht überstrapazieren und höchstens jede zweite Woche zum Einsatz bringen durfte.

Er hatte ein gutes Gesicht für den Blick. Dunkles Haar, dunkle Augen, hagere Wangen und ein spitzes Kinn. Seinen Körper konnte man als drahtig bezeichnen, aber viele hielten ihn einfach für dünn. In seinem ersten Jahr als Highschool-Lehrer hatte ihm ein Schüler gesagt, er sehe aus wie Severus Snape.

Der Blick brachte die meisten zur Ruhe. Tyler flüsterte weiter mit Emily, der grünäugigen Klassenbesten, hinter der er auf seine unbeholfene Art seit Ostern her war. Mike ließ sie reden. Der Junge hatte in diesem Schuljahr nur noch dreieinhalb Minuten Zeit, um bei ihr zu landen.

»Eine Sache, die ihr dieses Jahr gelernt habt.« Er blickte in die jungen Gesichter. »Olivia.«

Sie trommelte mit den Fingern auf ihrem Lehrbuch. »In Der Untergang des Hauses Usher geht es um einen Mann, der wahnsinnig wird, weil seine Zwillingsschwester gestorben ist.«

»Gestorben ist?«

»Also, er glaubt, sie wäre gestorben, aber in Wirklichkeit hat er sie lebendig begraben.«

»Gut«, sagte er. »Womit ich nicht sagen will, dass ihr eure Geschwister begraben sollt.«

Die Hälfte der Klasse kicherte. Ein Junge räusperte sich. »Mr. Erikson, können wir jetzt gehen?«

»Am letzten Tag machen wir es mal ganz anders, Zack. Es klingelt, wenn die Stunde zu Ende ist. Was hast du gelernt?«

»Ich hasse Englisch.«

»Prima, dann sage ich Mrs. DeNay, dass du nächstes Jahr bei ihr Französisch machst. Ethan?«

Ethan war hoch aufgeschossen. Sogar größer als Mike, der immerhin über einen Meter achtzig maß. Der Junge war ein Computerfreak gewesen, bis er gleich im ersten Jahr drei Schulrekorde in der Leichtathletik aufgestellt hatte. Jetzt wurde im Lehrerzimmer darüber gesprochen, wie man ihn nächstes Jahr in die Basketball-Mannschaft locken konnte. »Thoreau war nicht allein im Wald.«

»Genauer«, sagte Mike. »Meinst du seinen Hund?«

»Nein, ich meine, er hat nicht mitten in der Wildnis gewohnt. Er war vielleicht einen Kilometer von der Stadt entfernt.«

»Gut. Noch zwei. Hannah?«

Die brünette Cheerleaderin sah von ihrer SMS auf. »Ähm … in Der Untergang des Hauses Usher geht es um einen Mann, der …«

»Das hast du erst vor einer Minute gehört. Was hast du sonst noch gelernt?«

»Ähm …« Sie sah zu den anderen Schülern und auf ihre Tischplatte. »Ah, Moment, wenn man geteert und gefedert wird, tut das echt weh, und man kann sogar dabei sterben.«

»Woher hast du das?«

»Aus dieser Geschichte von Hawthorne. Major Molly-soundso.«

»Mein Verwandter, der Major Molineux.« Er nickte ihr zu. »Sehr gut, Hannah. Ich hätte nicht gedacht, dass du an dem Tag aufgepasst hast. Bleibt noch einer. Justin?«

Justin warf sein langes Haar zurück. »Mr. Erikson hat wirklich ein fotografisches Gedächtnis.«

»Schön. Hast du auch etwas über die frühe amerikanische Literatur gelernt?«

Aus dem Augenwinkel sah er, wie die Tür aufschwang und eine glatzköpfige Gestalt in grauem Anzug hereinkam. Mike blickte kurz nach links und erkannte Reggie Magnus. Reggie lächelte und lehnte sich neben die Tafel an der Seitenwand. Mike konzentrierte sich wieder auf die Schüler.

»Ich … äh …«

»Kein Stress, Justin«, sagte Mike, »aber niemand verlässt den Raum, bis dir was eingefallen ist.«

Ein Stöhnen ging durch die Klasse, während der Junge sich mit beiden Händen das Haar zerzauste.

Mike zog einen Stift hinter seinem Ohr hervor. Ohne sich umzudrehen, ließ er ihn zweiundzwanzig Zentimeter tief in den überdimensionierten Kaffeebecher fallen, der auf der Ecke seines Pults stand. Der Stift klapperte gegen den Rand. »Na, komm«, sagte Mike. »Dreißig Sekunden, dann können wir alle in die Sommerferien gehen. Eine Sache. Sag mir nur eine Sache, die du dieses Jahr gelernt hast.«

Justin blickte zu ihm auf. »Ichabod Crane ist gar nicht der Held in »Sleepy Hollow«.«

»Das musst du mir erklären.«

»Er ist, also, Engländer. Das haben Sie uns gesagt, als Sie uns erklärt haben, dass wir nicht einfach die Fernsehserie angucken können, um die Handlung der Geschichte zu erfahren. Sie haben gesagt, dass der Böse manchmal direkt vor unserer Nase ist.«

Mike lächelte, als es klingelte und die Schüler mit ihren fast leeren Umhängetaschen und Rucksäcken aufsprangen. »Ich wünsche euch einen schönen Sommer«, sagte er. »Wir sehen uns in drei Monaten, beziehungsweise in zwei Wochen, falls ihr zur Sommerschule müsst.« Er zeigte auf Justin. »Zwei Punkte für dich.«

Der Jugendliche brachte eine Mischung aus Erröten und Grinsen zustande. »Danke, Mr. Erikson.«

»Ich danke dir, Justin. Es war mir ein Vergnügen, dich zu unterrichten. Und jetzt macht, dass ihr rauskommt.«

Die letzten Schüler strömten aus dem Klassenzimmer, und Mike wandte sich seinem Freund zu. Reggie war zur Rückwand geschlendert. Er hatte seit seiner letzten Diät wieder zugelegt und trug einen alten Gürtel und ein weites Hemd, um die zusätzlichen Pfunde zu verbergen. Darüber hatte er einen dunklen Blazer angezogen, was vermuten ließ, dass sein Besuch einen geschäftlichen Hintergrund hatte. Reggie konnte nicht ohne Jackett über Berufliches sprechen.

Mike räusperte sich. »Wie geht’s dir?«

»Nicht übel, gar nicht übel.« Seine schwarze Glatze glänzte im Sonnenlicht, das durch das Fenster fiel. Er hatte sich den Kopf rasiert, sobald sein Haar dünner wurde, schon am College, lange bevor es in Mode kam. »Und dir?«

»Alles klar.«

»Nicht zu viel Stress hier?«

»Nichts, womit ich nicht klarkäme.«

»Gut.«

»Du weißt ja, dass es verboten ist, als Fremder auf das Schulgelände zu kommen, oder?«

»Das erzählst du mir immer wieder.« Reggie strich mit dem Finger über eine Anthologie von amerikanischen Romanen. »Aber nachdem ich zwei Computerlabore gespendet habe, zähle ich zum Personal.«

»Es heißt Kollegium. Und so läuft das nicht.«

»Wirklich nicht?«

»In unserem Distrikt gibt es eine strenge Drei-Computerlabore-Regel.« Mike klappte seinen Laptop zu. »Außerdem wurden die Labore bestimmt von der DARPA gespendet, nicht von dir.«

»Für die meisten Leute hier bin ich die DARPA.«

»Es klingt so cool, wenn du das sagst.«

Reggie schüttelte den Kopf, kam zu Mike und schlang die Arme um ihn. »Idiot.«

Mike erwiderte die Umarmung. »Flasche.«

»Was gibt’s Neues?«

Mike schnappte sich einen Schwamm und wischte über die Tafel. Die Schrift LETZTER TEST DES JAHRES verblasste und verschwand. »Tja«, sagte er. »Ich glaube, ich habe drei Kinder überzeugt, noch ein Jahr auf der Highschool zu bleiben, bevor sie es hinschmeißen. Fünf weitere habe ich überredet, an einem Aufbaukurs teilzunehmen. Und ich soll die Regie für das Herbst-Musical der Theatergruppe übernehmen.«

»Was führt ihr auf?«

»Eigentlich wollte ich The King and I machen, aber wahrscheinlich wird es Little Mary Sunshine

»Ist das das Stück, in dem ein Mädchen mit seiner Familie durch die Gegend fährt?«

»Nein, ein ganz anderes.«

Reggie seufzte und schüttelte den Kopf. »Mein Gott, was für eine Verschwendung von Lebenszeit.«

»Hey, es ist das Beste, was wir auf die Beine stellen können.«

»Ich rede nicht von dem Musical.«

Mike warf den Schwamm zurück in den Eimer. »Wovon dann?«

»Das weißt du ganz genau.«

Er schob den Laptop in seine Aktentasche. »Wenn es dir Spaß macht, tun wir so, als hätten wir diese Diskussion nicht schon zigmal geführt, und du kannst es mir noch mal erklären.« Zwei Lehrerausgaben der Schulbücher, die er in acht Jahren nicht benutzt hatte, folgten dem Laptop in die Aktentasche.

»Weißt du, was drei der schlausten Menschen Amerikas im Moment machen?«

»Jetzt gerade?«

»Einer von ihnen hat mit sechzehn bei der NASA angefangen«, sagte Reggie. »Einer ist ein Autodidakt, der in seiner Freizeit an dem P-NP-Problem arbeitet. Und der dritte verschenkt sein Potential, indem er in einem Kaff in Maine an der Highschool Englisch unterrichtet.« Er nahm den hellroten Tacker vom Pult und warf ihn von einer Hand in die andere. »Wir wissen beide, dass das kein Leben für dich ist. Du bist zu gut dafür. Du könntest so viel bewegen.«

»Deine Aussage«, entgegnete Mike, »leidet an drei grundsätzlichen Problemen.«

»Klär mich auf.«

Mike streckte einen Finger hoch. »Es könnte eine Menge schlauerer Menschen geben, die keinen IQ-Test gemacht oder das Ergebnis nicht bekanntgegeben haben. Außerdem übertreiben viele ihr Ergebnis oder spielen es herunter. Du triffst also eine Aussage, die auf sehr begrenzter und verzerrter Datenbasis beruht.«

»Na gut....