Abenteuer Vertrauen - Vollkommen, aber nicht perfekt - Was Menschen von Hunden lernen können

von: Maike Maja Nowak

Mosaik bei Goldmann, 2016

ISBN: 9783641158491 , 368 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Abenteuer Vertrauen - Vollkommen, aber nicht perfekt - Was Menschen von Hunden lernen können


 

Erste Berührungen

»Er war damals noch ein ganz anderer Hund, sehr verstört. Das Trauma, aus dem Auto geworfen worden zu sein, steckte ihm wohl noch in den Knochen. Wir haben keine Idee, wem er einmal gehörte. Es war schon ein glücklicher Zufall, dass eine Verkäuferin von Scotts Supermarkt in Burmarrad (Malta) im dortigen Tierheim anrief und den Vorfall meldete. Pat fuhr sofort los, denn Burmarrad ist ein Industriegebiet mit viel Autoverkehr. Sie wollte den Hund retten, bevor jemand den Hund überfuhr. Zunächst ging es ihm gar nicht gut, er ließ sich kaum streicheln und schon gar nicht am Rücken anfassen. Eine weitere Mitarbeiterin, Christina, hat all ihre Liebe diesem Hund geschenkt und stundenlang bei ihm gesessen, um ihn aus seiner Verzweiflung herauszuholen. Es hat sich gelohnt. Er konnte endlich geimpft werden, wobei das ein kleines Drama war … Nach und nach wurde er an Hündinnen gewöhnt und kam schon bald in eine Gruppe. Da erst entwickelte er sein volles Potential.«

Ich lese die Mail von Jutta Spang, der zweiten Vorsitzenden des Tierschutzvereins Koblenz, zum wiederholten Mal und studiere Raidas Gesicht auf dem angehängten Foto. Es zeigt ihn 2011 im Tierheim von Noah’s Ark auf Malta.

Mir fällt auch in dieser Situation eine Zweideutigkeit in seinem Gesichtsausdruck auf. Er drückt tiefe Entmutigung aus, aber auch eine kühle Beurteilung der Lage. In seiner Resignation ist keinerlei Bedürftigkeit zu finden. Eher schwingt ein Ansatz von Verachtung mit, den ich so erst wenige Male bei einem Hund wahrnahm.

Diese Doppelbödigkeit berührt und beunruhigt mich.

Raida im Tierheim Noah’s Ark auf Malta

Ich kenne diesen Ausdruck von meinem Vater, und durch meine kindlichen Versuche weiß ich, dass Liebe allein nicht die tiefe innerliche Frustration aufzulösen vermag, die hinter diesem Blick verborgen sein kann.

Mein Gefühl sagt mir: Auch Raida trägt noch Wunden in sich, die ich zu spüren bekommen werde.

Wird es mir dieses Mal gelingen, ihnen so zu begegnen, dass Veränderung möglich ist? Eine Frage, die ich nur im Zusammenleben mit Raida beantworten kann.

Es beginnt am 28. Mai 2012 um 1.00 Uhr in der Nacht, als Raida aus dem Kofferraum des Autos in meinen Berliner Garten springt. Die Nase am Boden, rennt er an der Außenkante des Geländes entlang und setzt eilig ein paar Marken. Er erinnert dabei an einen Menschen, der im Sommerschlussverkauf von jedem Wühltisch etwas greift, ohne zu wissen, was er da gerade zu seinem Eigentum erklärt. Hauptsache, er hat es, bevor es ein anderer bekommt.

Die letzte Marke setzt Raida in mein Kräuterbeet und kommt daraufhin mit zufriedenem Gesichtsausdruck zu mir auf die Terrasse. »So, da bin ich«, scheint er ganz selbstverständlich zu sagen.

»Guten Tag, mein Lieber, herzlich willkommen«, antworte ich und massiere ihm sanft die Schulterblätter. Er steht still, und ein leises Schnaufen wird hörbar.

Dann hebt er interessiert die Nase in Richtung Haustür, hinter der die anderen Hunde warten. Obwohl er ganz sicher mit allen Hunden zugleich klarkäme, werde ich ihm jeden Hund einzeln vorstellen. Zu viele neue Eindrücke auf einmal könnten jetzt eher für Verwirrung als für Orientierung sorgen.

Hinter der Haustür sehen mich Mitja, Frieda und Tinka erwartungsvoll an. Sie sind vollkommen still und scheinen die Bedeutung des Moments ebenfalls zu spüren.

»Mitja, ich stelle zuerst dir den neuen Rudelchef vor«, wende ich mich an den sieben Monate alten Border-Collie-Mix.

Begrüßung in Berlin

Vorsichtig streckt er den schwarzweißen Kopf nach vorn und lugt um mich herum nach draußen.

»Na komm, schau ihn dir an, ich bleibe bei dir«, ermutige ich ihn und gehe in Richtung Terrasse.

Abgeduckt und die Ohren nach hinten gelegt, schießt Mitja hinter mir her und nutzt mich als Schutzschild, um den fremden Hund zu begutachten.

Raida baut sich zu seiner vollen Größe auf und wedelt mit der Schwanzspitze eine vorsichtige Einladung. Mitja weicht dennoch vor der Präsenz des Hundes zurück.

»Hilfe, wer ist das?«, drücken seine aufgerissenen Augen aus. Raida dreht sich zur Seite und parkt sein Hinterteil zwischen meine Beine. Er scheint die Unsicherheit des jungen Hundes zu spüren und ist offenbar bemüht, die eigene Präsenz abzuschwächen, indem er seine Duftdrüse mit meinem Oberschenkel abdeckt und den direkten Blick abwendet. Aus den Augenwinkeln heraus verfolgt er die Reaktion des jungen Hundes.

Nachtbegegnung Mitja und Raida

Mitja hat die rechte Oberlippe zwischen die Zähne geklemmt und bewegt vorsichtig die Nase in Raidas Richtung. Dabei versucht er, den Kopf so weit wie möglich nach vorn zu strecken, während er den Rest des Körpers nach hinten zieht. Erschrocken zuckt er zusammen, als Raida sich plötzlich aus meiner »Beinhöhle« löst und gemächlich in das Dunkel des Gartens abwandert.

Ein heller Halbmond am klaren Himmel beleuchtet die Szenerie gerade so, dass man den blonden Hund noch als Schemen erkennen kann. Zielgerichtet beginnt er auf etwas zuzulaufen, das meinem Blick verborgen bleibt. In der Mitte des Gartens hält er an, senkt den Kopf und kommt mit gutgelaunten Sprüngen zurück.

Wieck! Wiiiiiiieck! Wieck! Ganz offensichtlich hat er das Quietschtier nicht zufällig entdeckt, sondern ist bewusst darauf zugelaufen, um es für die Situation zu nutzen. Ist es tatsächlich möglich, dass er während seiner schnellen Ankunftsrunde bereits solche Details registriert hat?

Mitja stürzt, von dem Quietschen erregt, nach vorn und erschrickt vor seiner eigenen Courage, als ihn nur noch zwei Meter von dem Fremden trennen. Er hebt eine Vorderpfote und leckt sich beschwichtigend über das Maul.

Raida knietscht auf dem Spielzeug herum wie ein Jugendlicher auf einem Kaugummi. Dann blickt er kurz zu dem jungen Hund und rennt mit lustigen Bocksprüngen in Richtung Terrasse, um sich dort wieder nach Mitja umzuschauen. Obwohl deutlich spürbar ist, wie sehr sich der jüngere Hund von dieser Einladung verlockt fühlt, steht er da wie angewurzelt und starrt auf den unbekannten Spielmeister.

Der wirft den Kopf schwungvoll zurück, und das gelbe Gummihuhn fliegt durch die Luft. Es landet zwei Meter entfernt vor Mitjas Maul auf dem Boden. Wie ein tiefgelegter Ferrari saust Mitja heran, schnappt sich das Huhn und jagt davon. Während er hinter dem Haus verschwindet, setzt sich Raida gemächlich hin und spitzt die Ohren.

Tram-da-ramm-da-ramm. Obwohl Mitja noch wächst und aktuell erst neunzehn Kilo wiegt, klingt sein Spurt ums Haus bereits wie der Lauf eines jungen Nilpferds. Übermütig schießt er auf der gegenüberliegenden Hausseite hervor und bremst ab, als er Raida sieht. Dann stakst er auf spitzen Pfoten weg vom Haus in den Schutz des dunklen Gartens. Der große Blonde blickt ihm interessiert hinterher, regt sich aber nicht.

Meine Augen durchforsten das Dunkel. Neben einem Busch leuchtet schwach der breite weiße Fellstreifen, der mitten über Mitjas Gesicht verläuft. Ein Augenpaar glitzert.

Raida sitzt mit ungerührtem Ausdruck vor mir. Nur seine Ohrbewegungen verraten, dass er den jungen Hund geortet hat.

Beide scheinen auf die Reaktion des anderen zu warten.

Plötzlich schießt Raida alarmiert herum und richtet seinen Blick starr in den Wald zu unserer Rechten. Ich sehe Mitja durch den Garten huschen. Kurz darauf taucht er neben Raida auf, und nun schauen beide Schulter an Schulter wie gebannt in den Wald.

Häufig legen sich Wildschweine in das Unterholz an meinem Gartenzaun nieder, weil er ihnen offenbar die Rückfront sichert, wenn sie im Wald schlafen. Jetzt aber scheint es vollkommen ruhig für meine Ohren. Ich gehe ins Haus, um eine Taschenlampe zu holen.

Bei meiner Rückkehr steht Raida auf einem großen Gartentisch und späht von dieser erhöhten Position aus wie ein Feldherr in die Nacht. Ich klettere auf einen Stuhl neben dem Tisch und leuchte über den hohen Zaun in den Wald hinein.

Kein Zweig regt sich.

Mitjas Blick wandert beunruhigt zwischen Raida, mir und dem Wald hin und her. Raida scheint, zur Statue erstarrt, immer noch auf etwas zu warten.

Nicht zum ersten Mal bedauere ich die schlechte Ausrüstung meiner menschlichen Sinne. Ich nehme offenbar als Einzige nicht wahr, was da ist. Ich höre nichts, sehe nichts, rieche nichts.

Toll, denke ich. Das macht sich gut als Gruppenchefin. Während ich weiter in den Wald leuchte, stelle ich mir das Ganze in einer menschlichen Situation vor. In meiner Fantasie bin ich die Direktorin einer Sparkasse. Ich sitze an meinem Schreibtisch, als plötzlich die gesamte Belegschaft von den Plätzen aufspringt, die Arme hebt und in ein und dieselbe Richtung starrt. Ich schaue mich um, sehe oder höre aber nichts, was diesen Umstand erklären könnte. Es ist nicht sehr vertrauensbildend, wenn ich als Chefin offenbar stark kurzsichtig und fast schwerhörig bin und die Mitarbeiter in so einer Gefahrensituation allein bleiben. Wäre ich fähig, dort einen Bankräuber wahrzunehmen, könnte ich versuchen, die Situation zu deeskalieren oder durch meine eigene Ruhe die anderen zu beruhigen.

Mit den Hunden komme ich ständig in Situationen, in denen ich etwas verpasse, weil meine Sinne nicht ausreichen. Dass es so ist, bemerke ich nur an der Haltung der Hunde, mit der sie, wie auch jetzt, in das Unterholz starren.

Minuten vergehen. Eine Minute. Zwei Minuten. Drei Minuten.

»Wooooooooooooaaau!«

Ich falle vor Schreck fast vom Stuhl. Noch nie zuvor habe ich Mitja bellen hören. Hektisch springt er vor und...