Als wir Schwestern waren - Roman

von: Marie Jansen

Blanvalet, 2016

ISBN: 9783641173777 , 384 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Als wir Schwestern waren - Roman


 

Kapitel 1

Simone tappte im Dunkeln durch ihr Schlafzimmer. Der Digitalwecker auf ihrem Nachtschränkchen zeigte 6:10 Uhr. Leise schlüpfte sie in die Kleidung, die sie am Abend zuvor zurechtgelegt hatte, flocht sich mit ein paar schnellen Handgriffen die Haare zum Zopf, griff nach ihrer gepackten Reisetasche, hängte sich ihre Handtasche um und schlich in den Flur. Am Durchgang zum Wohnzimmer hielt sie inne. Die Lichter der Stadt tauchten den Raum in düsteres Grau. Auf dem Sofa sah sie die Gestalt von Jens unter einer Decke. Schlief er? Simone lauschte. Selbst wenn er wach wäre, er würde sich wohl kaum von ihr verabschieden. Er schmollte. Der laute Wortwechsel vom Vorabend hing noch in der Luft. Simones Magen krampfte sich einen Augenblick schmerzhaft zusammen, dann gab sie sich einen Ruck. Im dunklen Flur fischte sie mit einer Hand Jacke, Schal und Mütze von der Garderobe. Es war nicht ihre Art, einfach sang- und klanglos zu verschwinden, doch heute erschien es ihr angemessen. In zwei Tagen würde sie wieder da sein und hoffentlich einen klareren Kopf haben.

Sie verließ lautlos die Wohnung. Im Hausflur sprang mit einem Klicken die automatische Beleuchtung an. Möglichst leise lief sie die knarzenden Treppen des Altbaus hinab.

Draußen auf der Straße atmete sie einmal tief ein und aus. Es war kalt, und ihr Atem bildete kleine weiße Wolken. In der Nacht hatte ein stürmischer Ostwind Hagelschauer über Berlin getragen. Der April zog alle Register. Simone zupfte sich die Mütze bis über die Ohren, schob ihren Schal unter die Nase und machte sich auf den Weg zur S-Bahn-Station.

Am Berliner Hauptbahnhof herrschte reger Betrieb. Als Simone auf die Rolltreppe zu den unteren Bahnsteigen trat, fing sich in der Glasfassade des Gebäudes das erste Licht des Tages. Auf dem Weg in den unterirdischen Bauch des Bahnhofs sagte ihr ein prüfender Blick zu einer Anzeigentafel, dass ihr Zug nach Hamburg planmäßig abfahren würde. Sie suchte den Wartebereich, stellte die Reisetasche zwischen die Beine und vergrub ihre kalten Finger tief in den Jackentaschen. Sie fror nicht nur körperlich. Der gestrige Streit mit Jens nagte an ihr.

»Musst du schon wieder weg?«, hatte er sie angefahren. »Wir wollten doch morgen Abend ins La Viente

»Ich habe dir schon letzte Woche gesagt, dass ich dieses Wochenende nach Hamburg muss. Und ja – ich muss! Ich verdiene dort nämlich das Geld, das du im La Viente ausgibst.« Ihre Antwort war ungewollt barsch ausgefallen. Es hatte sie geärgert, dass er ihr anscheinend wieder einmal nicht richtig zugehört hatte. Wie sie in den letzten Monaten so viele kleine Dinge ärgerten, die er tat oder eben nicht tat.

»Du weißt genau, dass ich mir sehr wohl Mühe gebe, mit der Galerie mein eigenes Geld zu verdienen.« Sein Ton war leise und vorwurfsvoll gewesen, sein Blick war ihr ausgewichen. Sie hatte einen wunden Punkt getroffen.

Simone stritt sich nicht gern, und noch weniger wollte sie Jens verletzen, aber manchmal kochte es einfach in ihr hoch wie Milch in einem Topf auf dem heißen Herd. Aufbrausend hatte sie ihm einen Vortrag über die gemeinsamen Kosten gehalten, die es zu decken galt. Er hatte ihr schweigend zugehört.

»Bist du jetzt fertig?«, hatte er in einer Atempause gefragt, aufmüpfig wie ein Teenager, der ihrer Schelte überdrüssig war.

Damit war das Maß voll gewesen. Simone hatte sich wutschnaubend auf dem Absatz umgedreht und sich im Schlafzimmer eingeschlossen.

Hatte sich ihre Beziehung inzwischen auf die rein pragmatischen Fragen des Lebens reduziert? Wer zahlt was? Wer verdient was? Wer ist wofür zuständig? Wann hatten sie die unbeschwerte Sorglosigkeit der ersten Jahre ihrer Beziehung verloren?

Simone hatte Jens vor acht Jahren im Freilichtkino am Weißensee kennengelernt. Ein langer, schwüler Augustabend mit viel kaltem Weißwein. Er, der junge, aufstrebende Galerist mit stahlblauen Augen und kurzem, wirrem Blondschopf, und sie, die Männern gegenüber eher schüchterne Auktionsagentin. Simone hatte nicht gedacht, ihn nach diesem Abend nochmals wiederzusehen. Doch schon einen Tag später stand er vor ihrer Tür. Sie kamen sich näher und wurden schließlich ein Paar. Er zog sie mit in den Sog der schillernden Berliner Kulturszene, in Ausstellungen und Vernissagen. Simone, die sich bis dahin eher mit älterer Kunst beschäftigt hatte, bekam völlig neue Eindrücke. Sie waren beide damals noch nicht mal dreißig. Die Nächte wurden zum Tag, und die Zeit verging wie im Flug. Sie liebten sich. Doch jetzt? Warum war alles nur so schwer geworden?

Sie war inzwischen sechsunddreißig Jahre alt. Langsam sehnte sie sich nach etwas anderem als Partys und dem legeren Lebenswandel. Sie hatte es selbst nie für möglich gehalten, doch immer öfter schoben sich Gedanken an Häuslichkeit, ein sicheres Nest, vielleicht gar eine Familie in ihren Kopf. Allem voran stand der Wunsch nach einer sicheren Beziehung. Beim Thema Heiraten blockte Jens allerdings rigoros ab. Ein weiterer Dorn, der sie schmerzhaft stach.

Simone kramte ein Taschentuch aus ihrer Jackentasche und schnäuzte sich die Nase. Sie spürte, wie ihre Unterlippe bebte. Bloß nicht heulen jetzt. Die Erinnerungen brannten, und die Zukunft war ungewiss. Dieser Zustand quälte sie.

Sie musste an Karen denken, ihre beste Freundin. Sie kannten sich aus alten WG-Zeiten. Doch Karen wohnte inzwischen in München, und wenn sie Glük hatten, sahen sie sich ein, zwei Mal im Jahr. Selbst das Telefonieren war nicht immer einfach. Karen hatte einen erfolgreichen Unternehmensberater geheiratet und lebte ihr Leben als Teil einer kleinen, glücklichen Familie in Perfektion: ein Haus mit Garten, drei rotwangige, blondschopfige Kinder. Karens Leben war so … anders als ihres. Verstohlen blickte Simone sich auf dem Bahnsteig um und schniefte leise. Wäre Jens eines Tages für solch ein Leben bereit? Wobei »eines Tages« nun keine halbe Ewigkeit mehr bedeuten durfte.

Karen wurde nicht müde, Simone zu beschwören, wie toll es sei, eine Familie zu haben.

»Kinder bringen so viel Spaß«, behauptete sie steif und fest.

»Ja, volle Windeln, Ärger in der Schule und später den falschen Partner«, konterte Simone.

Karen verzog jedes Mal das Gesicht, wenn sie so negativ reagierte. »Ach, was du immer hast. Und? Wer kümmert sich im Alter um dich? Halte dich besser ran, schließlich tickt deine biologische Uhr schon längst!«

Ja, sie tickte – inzwischen sogar lauter, als Simone Karen gegenüber zugeben wollte.

Eine schnarrende Lautsprecherstimme kündigte den ICE nach Hamburg an und riss Simone aus ihren Gedanken.

Im Zug schlug ihr eine überwarme Wolke abgestandener Luft entgegen. Simone suchte sich einen Platz, zog sich die Mütze vom Kopf und den Schal vom Hals und stopfte beides in die Reisetasche zu ihren Füßen. Ihre Handtasche behielt sie auf dem Schoß. Es dauerte nicht lange, bis alle Fahrgäste ihre Plätze eingenommen hatten und vom Bahnsteig her eine blecherne Durchsage die Abfahrt ankündigte. Ein Ruck ging durch den Zug, und schon rollte er aus dem Bahnhof. Im Großraumwagen trat Ruhe ein. Zeitungen raschelten, Simone hörte leise gemurmelte Telefonate, das Klackern von Notebooktastaturen. In nicht einmal eineinhalb Stunden würden sie in Hamburg ankommen.

Simone besah sich ihr schwaches Spiegelbild in der Fensterscheibe und schob eine verirrte Haarsträhne hinter das rechte Ohr. Die braunen Haare, die sie in aller Eile zu einem Zopf geflochten hatte, sahen zerzaust aus. Ihr Gesicht wirkte blass, und die dunklen Ringe unter den Augen waren vermutlich keine unvorteilhafte Spiegelung, sondern traurige Realität. Im Hotel in Hamburg angekommen, sollte sie duschen. Die Auktion, die sie noch an diesem Tage besuchen würde, begann erst am frühen Nachmittag, Zeit blieb also noch genug. Leise seufzend lehnte sie den Kopf an die kalte Fensterscheibe des Zuges und schloss die Augen. Das gleichmäßige Dahinrauschen der Bahn beruhigte sie etwas, doch ihre Gedanken schlichen sich bald wieder zu alten Erinnerungen an glücklichere Zeiten.

Jens und Simone waren recht schnell zusammengezogen. Besser gesagt: er zu ihr. Sie war aus ihrer ehemaligen WG und er aus dem Hinterzimmer seiner Galerie ausgezogen. Die neue, großzügige Wohnung am Rande des Bezirks Prenzlauer Berg mietete Simone auf ihren Namen, berauscht von der noch frischen Liebe und dem leicht verrückten Flair, das diese umgab. Der erste Fehler, wie Simone sich heute eingestehen musste. Sie hätte warten sollen, der Beziehung Zeit geben. Doch was tat man nicht alles, wenn die Gefühle verrückt spielten? Zunächst hatte Jens noch einen Teil der Miete beigesteuert, doch im Lauf der Jahre war dies immer seltener geschehen. »Eine Galerie wirft nun mal nicht kontinuierlich etwas ab«, hatte er sich anfangs entschuldigt. Aus Entschuldigungen waren irgendwann Versprechungen geworden: »Wenn erst mal die neue Ausstellung aufgebaut ist …«

Sie hatte seinen Worten geglaubt, und damals ging es ihnen gut, Simones Verdienst reichte für sie beide und einiges mehr. Sie konnten sich luxuriöse Urlaube leisten und waren auf vielen Partys der Künstlerszene rund um Prenzlau gern gesehene Gäste. Jens war ein Lebemann, der sie mitzog.

Simone hatte diesen Lebensabschnitt durchaus genossen. Doch sie hatte einen Job, den sie erfüllen musste. Ihren guten Ruf hatte sie sich hart erarbeitet, und häufig war er ihr einziges Pfand. Sie wurde oft und gern von gut zahlender Kundschaft für Auktionen gebucht. Ihre Aufgabe war es, die gewünschten Objekte vor Ort zu ersteigern, sodass ihre gut betuchten und meist prominenten Kunden im Hintergrund bleiben konnten. Die Provisionen hatten...