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Neue Möglichkeiten des Risikomanagements zur Sturzprophylaxe in der Pflege: Analyse und Bewertung von Stürzen im statistischen Vergleich sowie Praxistransfer des Instruments der Fehler-Möglichkeit-Einfluss-Analyse (FMEA)


 

Textprobe: Kapitel 05., Sturzrisiko - Die Gefahr aus dem Leben zu stürzen: Von 100000 verstorbenen Menschen in Deutschland wird bei 7,8 % der Männer und bei 9,9 % der Frauen der Sturz als Todesursache angegeben (vgl. Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend, 2002). 05.01., Epidemiologische Fallzahlen: 'Stürze und sturzbedingte Verletzungen zählen zu den häufigsten Ereignissen, welche die Selbständigkeit zu Hause lebender älterer Menschen beinträchtigen, Ängste auslösen, Alltagskompetenz einschränken, Pflegebedürftigkeit und Heimeinweisungen bewirken' (CAREkonkret, 2010). In über der Hälfte der Fälle verliert der gestürzte Mensch seine Selbständigkeit und ist auf pflegerische Unterstützung angewiesen (vgl. DNQP, 2006, S. 46-47). Die Gefahr zu stürzen nimmt im Alter exponentiell zu. Die zentralen Körperfunktionen wie Muskelkraft, Koordination, Gleichgewichts- und Sinneswahrnehmungen nehmen ab und führen zu Veränderungen im Gangbild. So stürzt jeder zweite Mensch zwischen 70 und 75 Lebensjahren etwa einmal im Jahr. Menschen über 90 stürzen im Mittel sogar zweimal pro Jahr (Schädler, Knuchel, 2004, S. 30). Die Klinikbehandlung eines Oberschenkelhalsbruches kostet laut AOK bis zu 11000 Euro (vgl. CAREkonkret, 2011). 'Allein die Zahl der sturzbedingten Hüftfrakturen stieg von 1994 bis 2004 um 20000 auf 120000 pro Jahr. Aktuell schätzen Experten die jährlichen Kosten durch Stürze Älterer, deren Rehabilitation und Pflege auf mehr als zwei Milliarden Euro' (CAREkonkret, 2010, S. 5). 05.02., Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege: Der Expertenstandard bildet eine wissenschaftliche Grundlage aus einem breiten Fundus an Ergebnissen aus nationalen und internationalen Studien. Die massiven psychischen und physischen Auswirkungen nach einem Sturzereignis für einen Menschen begründen die Wichtigkeit der Thematik. Schwerpunkte liegen auf der Epidemiologie, der Sturzrisikoeinschätzung mit den intrinsischen und extrinsischen Sturzrisikofaktoren sowie der Interventionsmöglichkeiten zur Sturzprävention. Durch die Pflegewissenschaftler und Experten wird konstatiert wird, dass ein Sturz immer ein multifaktorielles Ereignis darstellt. Damit beinhaltet die Intervention in der Regel ebenfalls komplexe Maßnahmen zur Sturzprävention. Ein Sturzereignis wird dabei mit den Merkmalen 'unabsichtlich/ungeplant' sowie 'von einer höheren zu einer tieferen Ebene' einer Bewegung definiert. Der Faktor Zeit sowie der daraus folgende Verletzungsgrad haben keine Auswirkung auf die Definition. Das unbeabsichtigte und langsame Herausrutschen aus dem Rollstuhl stellt nach dieser Definition einen Sturz dar, obwohl der Zeitrahmen sich über Minuten hinziehen kann. Der Freiheitsentzug stellt dabei keine sinnvolle Sturzpräventionsmaßnahme dar, denn diese Bewegungseinschränkung fördert sogar die Sturzgefährdung. Aus diesem Grund sind die Bewegung, der Aufbau von Muskulatur sowie die Übung von Gleichgewicht zu fördern. Der Expertenstandard wendet sich an die Einrichtungen, an die Pflegefachkräfte und Pflegehilfskräfte sowie an am Pflegeprozess Beteiligte z. B. die Reinigungskräfte. Die berufsübergreifende Zusammenarbeit zum Wohle des sturzgefährdeten Menschen wird ausdrücklich betont (vgl. DNQP, 2006, S. 23-24). Dr. Becker stellt in seiner Studie mit 1000 teilgenommenen Pflegeeinrichtungen in Bayern zum Projekt 'Sturzprävention in der Pflege' der AOK Bayern mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, dem Robert-Bosch-Krankenhaus Stuttgart sowie den Universitäten Ulm und Leipzig fest, dass ca. 20 % der Oberschenkelfrakturen nach einem Sturz verhinderbar wären. Für Deutschland würde dies bedeuten, dass drei- bis viertausend der Frakturen verhindert werden könnten. Dies würde wiederum ein Einsparpotential von 50 bis 55 Millionen Euro für die gesetzlichen Krankenkassen bewirken (vgl. Becker, 2010, S. 14). Die Umsetzung des Expertenstandards ist in den Einrichtungen immer noch sehr unterschiedlich. Dies stellten die Pflegewissenschaftler Buttler und Klewer im Jahr 2010 in einer Erhebung in zwei Altenheimen fest. Dabei bemerkten sie bereits Fehler in der Dokumentation. Die vorgehaltenen Überleitungsbögen enthielten keine Angaben zum Sturzrisiko. Sie überprüften bei 140 Bewohnerinnen und Bewohner, ob eine Sturzrisikoeinschätzung erfolgt war. Bei 85,7 % lag eine Risikobewertung vor. In den folgenden sechs Monaten stürzten tatsächlich 34 Bewohnerinnen und Bewohner. Bei 62,5 % wurden nach dem Sturz Maßnahmen zur Sturzprävention geplant. In 75 von 85 Maßnahmenplänen zur Sturzprävention wurde der Einsatz von Hilfsmitteln zum Gehen und zur Veränderung der Umgebung aufgeführt. Jedoch kamen die Hilfsmittel in diesen Einrichtungen nicht zum Einsatz, da sie nicht vorhanden waren. Eine erneute Risikoeinschätzung nach einem Sturz wurde bei niemandem durchgeführt. Eine Beratung erfolgte nachweislich nur bei 31,7 % der Fälle (vgl. Buttler, Klewer, 2010, S. 31). 05.03., Gesetzliche Vorgaben zur Sturzprävention: In Gesetzen zum Beispiel das Landesheimgesetz der jeweiligen Bundesländer oder in den Landesheimbauverordnungen zum Beispiel die Verordnung des Ministeriums für Arbeit und Soziales zur baulichen Gestaltung von Heimen und zur Verbesserung der Wohnqualität in den Heimen Baden-Württembergs (LHeimBauVO) vom 12. August 2009, in technischen Regelungen für Architekten und Normen wie zum Beispiel der DIN ISO Reihen werden Vorgaben für ein behindertengerechtes und barrierefreies Bauen definiert. Inhaltlich und prozessbezogen hat der Bundesgerichtshof richtungsweisend 2005 zwei Urteile (BGH, 14.07.2005, III ZR 391/04 und BGH, 28.04.2005, III ZR 399/04) gesprochen. Diese heben hervor, dass keine Einrichtung im Gesundheitswesen 24 Stunden am Tag und in jeder Minute die absolute Sicherheit der anvertrauten Menschen gewährleisten kann. Das beinhaltet jedoch, dass die individuell möglichen Maßnahmen zur Sturzprävention im Vorfeld eines Sturzes ausgeschöpft worden sind. Dazu gehört auch die Implementierung des nationalen Expertenstandards Sturzprophylaxe in der Pflege (vgl. Becker, 2010, S. 16).