Lob der Reiselust

von: Nicolas Bouvier

Lenos Verlag, 2014

ISBN: 9783857875656 , 190 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 13,99 EUR

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Lob der Reiselust


 

Das Warten – die Erwartung


Dem Knaben, der an Karten und Stichen Freude hat,
scheint das Universum wie sein Verlangen grenzenlos.
Baudelaire

Das Leben hat mich nie warten lassen, es ist immer oder fast immer schneller gefahren als ich. Ich bin hinter ihm hergerannt, bin schnell und lange gerannt, habe es aber allzuselten eingeholt. Das einzige, was ich heute von ihm erwarte: ein bisschen Leichtigkeit und innere Freiheit, weiss ich doch bereits, dass ich in dieser trügerischen Welt nur ein paar Gramm bekommen werde, wo ich doch kiloweise davon haben wollte. Ich renne weiter, immer langsamer und langsamer, doch wie lange, hélas, dafür bin ich nicht zuständig.

Und ebendieser Jagd habe ich den grössten Teil meines Daseins gewidmet; sie war es, die mich auf die Landstrassen geführt hat.

Diese Ungeduld, die Welt zu erfahren, wurde zu Beginn der dreissiger Jahre durch uferlose Kinderlektüren geschürt. Mein Vater war Bibliothekar, meine Mutter war die miserabelste Köchin westlich von Sues. Wen wundert’s, dass bei uns zu Hause das Papiermesser wichtiger war als das Brotmesser. Wen wundert’s, dass eine sozusagen absolute gastronomische Gleichgültigkeit aus mir einen äusserst genügsamen Reisenden gemacht hat.

Die katastrophale Meteorologie meiner Heimatstadt Genf sichert uns zahlreiche Regentage. Düstere Sonntage, an denen ich im Alter zwischen sechs und sieben, bäuchlings auf dem Teppich der Bibliothek liegend, den ganzen Jules Verne, Curwood, Stevenson, London, James Fenimore Cooper verschlang. Mit acht zeichnete ich mit dem Daumennagel den Lauf des Yukon in die Butter meiner Brotschnitte. Bereits die Ungeduld: gross werden und dann das Weite suchen. Ich nahm den Erwachsenen ihre langen Beine übel, wahre Siebenmeilenstiefel, ihre Macht, die sie über eine für mich noch mythische Geographie zu haben schienen, ich nahm ihnen auch die Engstirnigkeit ihrer Urteile übel; wenn sie mit pädagogisch erhobenem Zeigefinger zu mir sagten: »Reisen ist kein Beruf«, grinste ich heimlich. Die Kindheit ist gnadenlos. In einem seiner ersten Briefe, die man von ihm besitzt, schreibt der 10jährige Flaubert einem Freund: »Mein Gott! Es gibt nichts Dämlicheres als einen Neujahrstag!«

Dieses Warten dauerte zum Glück nicht allzulange; 1945, kaum waren die Grenzen offen, zog ich los – Burgund, Toskana, Provence, Flandern –, mit dem Segen eines Beamtenvaters, der nicht so viel gereist war, wie er es sich gewünscht hatte, es aber gut und richtig fand, dass ich es an seiner Stelle tat, und der bloss zu mir sagte: »Schau dich um, und schreib mir.« Nüchterner geht’s nicht, und heute, fast fünfzig Jahre später, bin ich ihm immer noch dankbar, und aus mir – denn ich habe Wort gehalten – ist ein leidenschaftlicher Briefschreiber geworden. Dieses jugendliche Herumstreifen führte mich später weiter – Sahara, Lappland, Anatolien – und war auch mit etwas grösseren Risiken verbunden. Noch später, nach Abschluss meines Studiums, war es das grosse Abdriften ins Anderswo oder auf die Landstrassen, das mich in den vielen Jahren trug, als ich noch die Gesundheit hatte, sie zu erleben.

Was mein jugendliches Warten auf die Welt angeht: Es hat sich in reichlichem Masse erfüllt und sogar über die, obwohl aus wunderbaren Büchern stammende, zwangsläufig reduzierende Bilderwelt hinaus, die sich meiner Vorstellung eingeprägt hatte. Dieser Planet war weit überraschender, erstaunlicher, grausamer, bunter, grosszügiger als der naive kolorierte Bilderbogen, den ich mir von ihm gemacht hatte. Die europäischen Städte – es war der Anfang – waren viel schillernder, samtiger, seidiger, lebendiger als die schönsten Gravuren oder »Guckkastenbilder«, die ich gesehen haben mochte. Die Ungeduld zu leben liess mich im schönsten Leuchten der Morgendämmerung auf die Füsse springen. Der Tod war allgegenwärtig in diesem noch von rauchenden Trümmern warmen Europa, allgegenwärtig, wie es sich gehört. Ein Tod ohne Morbidität, denn überall begann man zu hoffen und wieder aufzuleben, doch es war ein Schlagschatten des Lebens, der sich gegen Abend verlängert, wie jeder Schüler, der, an seinem Farbstift kauend, Pyramiden zeichnen musste, es ad nauseum weiss. Die festen Körper haben einen Schatten, und je mehr die Sonne versinkt, desto mehr schrumpfen sie, bis ihr Schatten sie bei Einbruch der Dunkelheit verschluckt. Heut abend sagst du mir Lebwohl, Schatten, den der Schatten auslöscht, schrieb Paul-Jean Toulet in einer seiner schmerzlich-galanten Burlesken, auf die er sich so grossartig verstand. So ist es eben, und man gewöhnt sich lieber daran.

Ein Bett in jeder Stadt

Ich erinnere mich an eine Nacht in Bergamo. Ich war zwei Tage zuvor von zu Hause zu einer Reise aufgebrochen, die schliesslich vier Jahre dauern sollte. Ich war in einer Taverne in der alten Oberstadt eingekehrt, am Nachbartisch betranken sich ein Vater und ein Sohn lautstark, um sich über den Tod der Gattin und Mutter zu trösten, die am Morgen des gleichen Tages beerdigt worden war. Mit der feuchtfröhlichen Brüderlichkeit der Betrunkenen fragten sie mich nach meinen Plänen und was ich hier oben mache. Worauf sie mit lallender Hartnäckigkeit, der ich mich schliesslich fügte, beschlossen, mich für die Nacht zu beherbergen. Ich war todmüde, so dass ich kaum noch die Kraft hatte, meine Stiefel auszuziehen, und in den Kleidern auf dem Bett der Toten einschlief, in den Geruch von Armenienpapier gehüllt und inmitten violetter Perlenkränze, die zu entfernen man sich nicht die Mühe gemacht oder keine Zeit gehabt hatte.

Als ich am Morgen zwischen diesem Bestattungsdekor und dem Duft der zwei noch brennenden Kerzen aufwachte, wusste ich zuerst nicht, wo ich mich befand. Von der Küche drangen Stimmen und der intensive Geruch von starkem Kaffee zu mir herauf. Meine Gastgeber waren inzwischen einigermassen ausgenüchtert. Vater und Sohn trugen ihren schwarzen Anzug und das weisse Hemd samt Trauerkrawatte der Bestattungsfeierlichkeiten vom Vortag. Sie waren frisch rasiert und mit Schnitten im Gesicht, weil ihre Hände noch etwas zittrig waren. Sie fuhren mich auf der Vespa zum Chor eines Nachbardorfs, in dem sie beide sangen. Sentimentale Volkslieder, jedoch ohne die modalen rhythmischen Überraschungen, die einem östlich von Triest ans Herz greifen. Wunderbare Stimmen in der Tradition des italienischen Chorgesangs. Vater und Sohn brüllten kehlezerreissend, und ich wusste, dass sie ein bisschen ihres verbliebenen Schmerzes in diese anrührenden Lieder legten. Als ich mich bei ihnen bedankte und mich verabschiedete, waren sie karminrot vom Frascati, und sie schienen sich einer Last entledigt zu haben. Ich wusste nicht, dass ich ahnungslos die Rolle erfüllt hatte, die gewisse uralte Kulturen dem Fremden zuweisen, den man über Nacht beherbergt; eine prophylaktische Anwesenheit sozusagen, Beschwörer des Unglücks oder Hirte der verstorbenen Schatten, die er – manchmal – mit sich nimmt. Auf dem Weg nach Ljubljana war mir, als hörte ich diesen Schatten freundlich im bergamaskischen Dialekt mit mir plaudern, in einem der schwierigsten Dialekte Italiens, von dem ich kein Wort verstand, doch dieses Murmeln tat mir in der Seele wohl, und ich sagte mir, dass diese Reise nicht unter besseren Vorzeichen hätte beginnen können.

In jener bergamaskischen Nacht finde ich heute zwei Formen der Erwartung wieder: die Landstrasse – das Wetter war schön –, die irdische Nahrung, deren unser Körper bedarf. Und die Begegnung, ein Schritt mehr einer noch stammelnden Erfahrung der Welt entgegen. Beide waren in höchstem Masse erfüllt worden. Und auch die Erwartung – sie hatte begonnen eine Furche zu ziehen und hat bis heute nicht aufgehört, sie bis zum unabwendbaren, geheimnisvollen Verschwinden zu ziehen, das mir ebensoviel Neugierde wie Furcht einflösst und – überraschend – allen unseren Plänen ein Ende setzen wird.

In meinem Beruf eines Bildersuchers bin ich alle naselang auf Bilder des Todes gestossen: Gisanten, Galgen, Ossarien, Tänze, Tarotschwerter, überall, wo er rechtens seinen Platz beansprucht. Eine unausweichliche Begegnung, der ich mich, ohne eine Spur von Morbidität, nie entzogen habe und der zu entziehen ich nie den Wunsch gehabt habe. Als einmal seine Gegenwart besonders hartnäckig war, ein Herumtreiber, der an die Tür klopft und dem man nicht aufmacht, habe ich diese paar Reime geschrieben.

Im Vergessen der Namen und Erinnerungen

bleibt noch etwas zu sagen

zwischen dem Regen und dem, auf den wir warten

zwischen Sarkasmus und Testament,

zwischen den drei Schlägen der Uhr

und den beiden Schlägen des Bluts

Ja … was bleibt noch zu sagen? Ich weiss es nicht, ich warte.

Wenn es stimmt, dass uns das Leben die meiste Zeit zuvorkommt, dass es Dinge verlangt, die wir ihm nur zögernd geben, so wird auch es ermüden, eine Pause einlegen, sich zusammenrollen wie eine Schlange im Herbst, und man ertappt es dabei und genau in dem Moment, da man es am wenigsten erwartet. Dann reicht ein Losungswort, ein einziges, oder ein geteilter Gegenstand, die Münze (symbolon, Symbol) zum Beispiel, die man im alten Griechenland entzweibrach und von der jeder seine Hälfte behielt, an der Schwelle einer langen Trennung vielleicht oder angesichts bevorstehender Widerwärtigkeiten, die ein Gesicht verblassen lassen, um so eine Möglichkeit zu haben, einander eines Tages wiederzuerkennen. Spontanes gegenseitiges Erkennen also. Freudenfeier und...