Die letzte Stunde der Wahrheit - Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss

von: Armin Nassehi

Murmann Publishers, 2015

ISBN: 9783867743907 , 344 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 13,99 EUR

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Die letzte Stunde der Wahrheit - Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss


 

Erstes Kapitel
Rechts – links,
konservativ – progressiv.
Wirklich keine Alternativen?

Selbstverständlich machen rechts und links einen Unterschied. Es wäre nicht nur politisch naiv, sondern auch empirisch sehr gewagt, zu behaupten, rechts und links machen keinen Unterschied. Aber wie ich bereits in der Einleitung gesagt habe: Das ist nicht meine These. Ich möchte vielmehr zeigen, dass diese Unterscheidung womöglich mehr Ordnung in die Welt bringt, als es für eine angemessene Beschreibung ihrer Komplexität und inneren Widersprüchlichkeit zuträglich ist. Nur deshalb beginne ich mit der Behauptung, dass sie eben keine Alternativen mehr sind, auch wenn sie Wesentliches unterscheiden. Aber sind sie wirklich keine Alternativen mehr?

Rechts und links, konservativ und progressiv sind mir tatsächlich nur Chiffren dafür, dass es offensichtlich ein Ordnungsbedürfnis gibt, das vor den Ordnungsproblemen einer differenzierten, einer komplexen Gesellschaft kapituliert. Diese Unterscheidungen rufen Beschreibungstraditionen auf, die uns wohlvertraut sind – und noch der Hinweis darauf, dass die Unterscheidungen nicht mehr so genau diskriminieren, zeigt nur, dass uns offensichtlich wenig andere Beschreibungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen – zumindest nicht solche, die wirksam in das Selbstbild von Gesellschaften hineinwirken.

Was mir vorschwebt, ist der Versuch, jenseits dieser eingeführten Unterscheidungen so etwas wie eine Beschreibungsmöglichkeit für die Komplexitätsprobleme der Gesellschaft anzubieten – und zwar eine, die ganz explizit nicht eine wissenschaftliche Textsorte bedient, in der sich wohlfeil über Komplexität und Differenzierungstheorie, über ihre epistemologischen Grundlagen usw. debattieren lässt, sondern eine, die diese Schwelle überwinden und somit verhindern kann, dass wir nicht immer wieder in die alten Reaktionsmuster zurückfallen, an die wir uns so sehr gewöhnt haben. Bleiben wir aber zunächst bei der Unterscheidung.

Rechts, links

Es ist unbestritten: rechts und links machen einen Unterschied. Wir wissen auf den ersten Blick auch, was damit gemeint ist. Eine eher linke Perspektive interessiert sich vorwiegend für die Schwächeren, für die Unterprivilegierten, und erkennt an, dass soziale Ungleichheit vor allem das Ergebnis sozialer Strukturen ist. Eine eher rechte Perspektive wird individuelle Schwächen hauptsächlich den Individuen zurechnen, zugleich Individuen ohnehin Großgruppen, also Völkern, Ethnien, Nationen, Konfessionen, Familien usw., zuordnen. Eine eher linke Perspektive kann Pluralität aushalten, eine eher rechte nicht. Irgendwie merkt man schnell, wie ein Gegenüber tickt – und oft passt das dann auch nicht recht zu den allgemeinen politischen Orientierungen, die in etablierten politischen Systemen ohnehin kaum nach rechts und links zu diskriminieren sind.

Das Rechte ist als Kategorie abhanden gekommen.

Links oder wenigstens linksliberal zu sein, ist durchaus erwartbar – womöglich gar ein Normalfall des Argumentierens. Aber rechts? Das Rechte scheint uns als Kategorie abhandengekommen zu sein, wenigstens im deutschsprachigen Raum, auch wenn man kaum daran vorbeisehen kann, dass genuin rechte Orientierungen sowohl im politischen Raum als auch im publizistischen Raum zunehmen. Sichtbarstes Beispiel ist etwa die im Herbst 2014 entstandene sogenannte PEGIDA-Bewegung – PEGIDA heißt: Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes. Es ist eine Bewegung, die schon auf den ersten Blick klassische rechte Chiffren bedient und Zuwanderung als den Fokus aufgreift, in dem sich Unsicherheiten, Ängste und Distinktionsbedürfnisse bündeln. Die meisten Teilnehmer bezeichnen sich und die Bewegung keineswegs als rechts, aber das Gemeinsame der sehr heterogenen Bewegung kulminiert tatsächlich in dem, was rechtes Denken in erster Linie ausmacht: zwischen uns und den den anderen klar und deutlich und asymmetrisch zu unterscheiden.

Die Frage ist: Kann man eigentlich rechts sein? Ist die Unterscheidung nicht längst implodiert, nachdem alle sich in der Mitte treffen? Oder heißt links immer noch, dass sich alles ändern muss, rechts dagegen die Bewahrung des immer schon Gültigen? Das entspricht jedenfalls der Sitzordnung der französischen Nationalversammlung von 1789, in der links die Protagonisten der Revolution saßen, also die Progressiven, auf Fortschritt setzenden, diejenigen, die für radikale Veränderung standen. Und rechts die, die an der Tradition festhalten, also die alten Machtverhältnisse stabilisieren wollten, regressiv, konservierend. Das ist eine allzu einfache und grobschlächtige Unterscheidung – und dass sie allzu einfach ist, sticht sofort ins Auge.

Heute freilich fällt der Unterscheidung die rechte Seite weg. Man findet kaum jemanden, der sich als rechts bezeichnet – und die Unübersichtlichkeit, die großen politischen Strömungen eher konservativer und eher sozialdemokratischer Provenienz zwar unterscheiden zu können, aber nicht wirklich prinzipiell, lässt die Unterscheidung fast gegenstandslos werden. Denn gerade rechts will heute niemand sein. Und wo sich an den Rändern dann doch Rechte finden – im Umkreis etwa von Zeitschriften wie Junge Freiheit, die sich inzwischen freilich um eine bürgerlichere Selbstdarstellung bemüht, oder die Sezession unter dem Label der »Neuen Rechten« –, muten die semantischen Figuren bisweilen eher links an. Jedenfalls wird dort versucht, die »Etablierten« als die eigentlich Konservativen im Sinne des Stillstands zu verstehen, während man sich selbst eine geradezu revolutionäre Semantik zulegt, eine Form der ideologischen Kritik und der Unterwanderungs- und Guerilla-Strategie, die linken Desperados in den 1970er-Jahren ähnlicher ist, als es alle Beteiligten wollen. Pate steht die merkwürdig paradoxe Figur der »Konservativen Revolution« von Armin Mohler – eine ideologische Form, die anti-egalitär, anti-demokratisch, anti-liberal ist, aber durchaus revolutionär. Es sind – zumindest was die semantischen Formen angeht – hier Rechte am Werk, die ein revolutionäres linkes Projekt beabsichtigen, nämlich die Umgestaltung der Gesellschaft.

Distinktion nach unten.

Linke werden dagegen eher konservativer, denn kaum eine linke Perspektive hat noch so etwas wie eine revolutionäre, in diesem Sinne progressive Lösung anzubieten – und der großstädtische Alltag der Wohlsituierten ist eindeutig »rechter«, auch in diesem Sinne weniger revolutionär geworden, hat sich mit ökonomischen Segnungen versöhnt, gibt für Kritik viel Geld im Bioladen aus und freut sich, dass der SUV bei fast 300 PS so wenig Benzin oder Diesel verbraucht wie zuvor ein oberer Mittelklassewagen in flacher Limousinen-Bauweise. Und die Distinktion nach unten bekommen die gut situierten, gebildeten, kritischen Bürger auch hin, die sich selbst niemals als konservativ ansehen würden, aber etwa in der Bildungspolitik auf die Privilegien distinktiver Schulformen bestehen. Man kann sogar Kapitalismuskritik und Spitzensteuersatz verbinden – und braucht den Erfolg des Konsumkapitalismus doch, um das angenehme Leben führen zu können, das man führt.

Paradoxerweise sind gerade die urbanen wohlsituierten Lebensformen ein Indikator dafür, dass sich das konservative politische Spektrum tatsächlich nach links verschiebt und dem sozialdemokratischen Spektrum die Klientel verloren geht – aber das hat dann mit der Unterscheidung von rechts und links kaum mehr Informationswert, weswegen so etwas wie große Koalitionen wenigstens im deutschen Fall die fast logische Folge sind.

Vielleicht ist das letzte große Thema das Distributionsthema – aber selbst das fügt sich nicht mehr so einfach der Rechts-links-Unterscheidung. Die linke Kritik hat vielleicht deshalb die Kritik am unternehmerischen Selbst entdeckt, an der Figur des Arbeitskraftunternehmers, also des Individuums, das sich flexibel auf Märkte und eigene Vermarktungschancen einstellen muss – und unterliegt dabei einem radikalen Selbstmissverständnis. Mit dem Unternehmerischen konnte man sich von linker Seite nie versöhnen, aber die Segnungen einer konsumstarken Lebensform ist ohne dies nicht zu kriegen.

So berechtigt wenigstens Teile dieser Kritik sind und so leicht und unmittelbar einsichtig eine mitgeführte Beschleunigungskritik auch sein mag – ist das links? War es nicht einmal eine linke, wenigstens linksliberale Forderung, dass das Individuum Spielraum für individuelles Ressourcen- und Arbeitsmanagement haben sollte? Haben wir es womöglich mit Folgekosten einer erfüllten Erwartung zu tun, dass die Bewohner der Moderne wirklich Individuen sind, die sich selbst führen, statt geführt zu werden? Und selbst wenn das eine subtile Art der Führung ist, so gehörte zu Modernisierungsprozessen stets auch die Forderung, Wollen und Sollen zu versöhnen. Ich werde später darauf zurückkommen.

Homogenität oder Lob der Vielfalt?

Aber was ist nun rechts? Nun, rechts liegt am Rand – zumindest was seine intellektuelle Reflexion angeht. Es liegt am Rand, weil es inzwischen unsagbare Sätze formuliert, wenigstens für den intellektuellen Diskurs unsagbare Sätze, die freilich dem Lebensgefühl vieler öffentlicher Konfliktlinien näher sind, als es zunächst den Anschein hat. Wenn man das Rechte auf einen Begriff bringen will, dann ist es eine merkwürdige Konstellation von Gleichheit und Ungleichheit, nämlich Gleichheit nach innen und Ungleichheit nach außen. Der vielleicht...