Antipädagogik - Studien zur Abschaffung der Erziehung

von: Ekkehard von Braunmühl

tologo Verlag, 2015

ISBN: 9783940596543 , 273 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 17,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Antipädagogik - Studien zur Abschaffung der Erziehung


 

»Erziehung zur Erziehung«?


Notwendigkeit, Probleme, Chancen eines schulischen Beitrags zur Vorbereitung auf die Elternschaft


Bestandsaufnahme

Schon lange ist es kein Geheimnis mehr, daß mit der Elternrolle gewisse Probleme verbunden sind. Wilhelm Buschs Stoßseufzer aus dem »Julchen«, 1877: »Vater werden ist nicht schwer, Vater sein dagegen sehr«, entsprang sicher schon damals nicht einer neuen Erfahrung, und wenn auch das Mutterwerden um einiges schwerer ist, so wird doch dadurch das Muttersein um nichts leichter. Trotzdem gilt es bis in unsere Tage hinein weithin als schiere Selbst­verständlichkeit, daß die Elternrolle nicht eigens erlernt zu werden braucht. Dadurch werden den Heranwachsenden objektive Krite­rien, mit denen sie ihre Eignung zur Elternschaft prüfen könnten, vorenthalten. In den zahllosen, auch den diskutablen Schriften zur Sexualaufklärung wird die ~ dann natürlich erwünschte ~ Schwangerschaft zur Grenze der Information, wie die Unterhaltung in einem Hollywoodfilm mit der Hochzeit endet. Durchgängig gibt es keine Hilfestellung bei der Entscheidung, ob eine Schwangerschaft ge­wünscht wird oder nicht. Der Kinderwunsch ist eine tabuähnlich respektierte Privatangelegenheit.

Exemplarisch sei dies dargestellt anhand der Broschüre »Jedes Kind hat ein Recht erwünscht zu sein«, die 1973/4 im Auftrag des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit von der Bundeszentrale für gesund­heitliche Aufklärung in Köln herausgegeben wurde. Diese 24 Seiten starke, großformatige, aufwendig gedruckte Broschüre, die in einer Auflage von 4 Millionen Exemplaren verteilt wurde, gibt Auskunft über Verhütungsmittel, die Entstehung einer Schwangerschaft usw. Es werden sogar Gründe erwähnt, »die dafür sprechen, mit einem Kind zu warten«: Ausbildung, Berufstätigkeit und Karrierestreben, sowie »Ziele« und »Wünsche« seien solche Gründe. Dann folgt:

»Vielleicht fühlen sie sich auch noch nicht reif genug für ein Kind. Für die Elternrolle. Da ist eine Wartezeit von zwei bis drei Jahren gut. Gut für die Partner. Und gut für das Kind. Das dann, wenn es gewünscht ist, die schönsten Bedingungen hat, glücklich zu sein und glücklich zu machen« (S. 6).

Abgesehen davon, daß der letzte Satz, wie noch gezeigt wird, höchst problematisch ist: Woher nehmen junge Menschen Entscheidungsmaßstäbe, ob sie sich für ein Kind »reif genug« (übrigens eine dubiose Perspektive angesichts des Zustands unserer von reifen Menschen gestalteten Welt) fühlen können, wenn ihnen verheimlicht wird, welche Anforderungen die Elternrolle beinhaltet?

Wie das subjektive Gefühl, und sei es noch so illusionistisch, verabsolutiert und von realitätsgerechten Informationen abgeschirmt wird, zeigen folgende Sätze:

»Es ist nicht materialistisch gedacht, wenn man Kinder nicht in wirtschaftlicher Not groß werden lassen will. Es stimmt nicht, wenn man sagt: Wo zwei satt werden, werden auch drei satt. Es genügt heute eben nicht mehr, Kinder nur satt zu machen. Kinder sind eine Aufgabe. Die schönste Aufgabe der Welt. Und wenn man die Kraft und die Möglichkeit hat, sich Kinder zu wünschen ›wie die Orgelpfeifen‹, bitte, dann sollte man es bewußt tun. Denn Familienplanung ist nicht kinderfeindlich« (S. 6).

Der einzige weitere Hinweis, der das Kind mitbetrifft, findet sich auf Seite 21:

»Unbedingt sollte man vor einer Schwangerschaft ~ spätestens wäh­rend der Schwangerschaft ~ Blutgruppe und Rhesus-Faktor beider Partner vom Arzt bestimmen lassen. Auch Infektionskrankheiten während der Schwangerschaft können die Entwicklung des werdenden Kindes beeinflussen. Deshalb sollte jede Frau die gesetzlich gegebenen Möglichkeiten der Schwangerschaftsuntersuchungen nutzen.«

Damit wird ersichtlich, daß materielle und medizinische Erwägungen als hinreichend betrachtet werden, die »schönste Aufgabe der Welt« in Angriff zu nehmen. Welche Orientierungshilfen allerdings ein Bewußtsein erhält, das »die Kraft« für Kinder »wie die Orgelpfeifen« zu haben glaubt, bleibt schleierhaft. Und dieser Schleier wird erst gelüftet, wenn die Orgelpfeifen zu Nervensägen geworden sind und Eltern ihre frühere »Kraft« verfluchen, Erziehungsberatungsstellen überlaufen und die schönste Aufgabe der Welt nicht schnell genug an Kindergärten und möglichst Ganztagsschulen übertragen können. Hartmut v. Hentig, der sicher nicht im Geruch der Kinderfeindlichkeit steht, sagt dazu:

»Kinder sind einerseits ein Kristallisationspunkt des sozialen Egoismus:

Familien, Schichten, ganze Wohnviertel erkennen sich und ihr Schicksal daran, wie ihre Kinder aufwachsen und vor allem von anderen behandelt werden. Kinder sind aber auch lästig und darum sind Eltern andererseits geneigt, Leistungen, die sie selber für das Kind aufbringen sollten und könnten, auf die Gesellschaft, die gemeinsamen Institutionen abzuschieben. Man interessiert sich also für Kindergärten, Vorschulen, gute Schulen überhaupt - und das sieht dann wie ein soziales Engagement aus. In Wirklichkeit dient die Bürgeraktion häufig der eigenen Entlastung ...« (103, S. 175 f.).

Freilich, Familienplanung ist nicht kinderfeindlich, aber eine Gesellschaft ist kinderfeindlich, die zukünftige Eltern zwar darüber informiert, wie eine Schwangerschaft, nicht aber, wie der Kinderwunsch entsteht, die finanzielle und medizinische, nicht aber psychologische Bedenken rechtzeitig anbietet.

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung mag solche Ansinnen weit von sich weisen, aber an wen verweist sie uns? Ob der auch von ihr herausgebrachte »Sexualkunde-Atlas« oder die berüchtigte »Sexfibel« oder sonstige Aufklärungsschriften über Sexualität, für alle gilt: Die Lustfunktion der Sexualität ist zwar im Zeitalter der sicheren Verhütungsmittel auf emanzipatorischen Wegen, aber der Fortpflanzungsaspekt der Sexualität ist Stiefkind der Aufklärung geblieben. So nimmt zwar die Zahl der unerwünschten Schwangerschaften ab, aber nichts spricht dafür (und manches dagegen, s. u.), daß damit der Kinderfreundlichkeit gedient ist, und daß weniger Kinder im Laufe ihres nachgeburtlichen Aufwachsens zu unerwünschten werden, weil sie ihre Eltern vor Probleme stellen, die zu bedenken diesen nicht rechtzeitig ermöglicht wurde.

Im Grunde ist es kaum begreiflich, daß Kinder in den Schulen auf läppischste Dinge vorbereitet werden, nur nicht auf die Rolle der Elternschaft. Und doch ist die Erklärung einfach. Schule war ur­sprünglich (die alte »Lateinschule«) lediglich eine Vorbereitung für das akademische Studium. Erst sehr viel später übernahm sie die Funktion, allgemein für das komplizierter werdende Berufsleben auszubilden. Daß die Erfahrungen aus dem Elternhaus auch in vielen anderen Bereichen zur Lebensbewältigung nicht mehr genügen, ist eine sehr junge Erkenntnis und hat, in höchst problematischer Konsequenz, zu neuen Zweigen der Pädagogik geführt. Sozialkunde, Politische Bildung, Konsumentenerziehung, Freizeitpädagogik, Friedenspädagogik, Sexualkunde, Polytechnischer Unterricht seien als Beispiele genannt. Und nun droht also »Erziehung zur Erziehung«. Aus dieser historischen Perspektive erklärt sich auch, warum die sogenannte Elternbildung, deren Notwendigkeit schon seit langem erkannt worden war, nicht in den schulischen Raum Eingang fand, sondern auf freiwilliger Basis von Kirchen, Volkshochschulen, Gewerkschaften, Arbeiterwohlfahrt und anderen »freien Trägern« veranstaltet wird.

»Jedoch ist die Schule, obwohl es so nahe gelegen hätte, nicht der institutionelle Schwerpunkt der Elternbildung geworden. Warum die Schule das ganze ›Elternproblem‹ der Jugendhilfe freigab und nicht rechtzeitig als eine auf sie zukommende und in ihre Verantwortung fallende Aufgabe für sich in Anspruch genommen hat, soll kurz erläutert werden« (Bäuerle, 13, S. 23).

In dieser Erläuterung nennt Wolfgang Bäuerle insbesondere die historisch bedingte Distanz zwischen Schule und Elternhaus. Seine Schlußfolgerungen:

»Bedenkt man die Auslastung des Lehrers durch seinen Lehrauftrag, die geringe Aufmerksamkeit der Lehrerbildung für die Probleme der Familienpädagogik und die vorrangige Orientierung der Schule an Leistungsnormen, so ist zu verstehen, daß sich die Schule der Aufgabe der Elternbildung nur sporadisch annehmen wird« (S. 26). »Die Frage, ob für eine allgemeine Elternbildung auf breiter Basis die Schule der rechte Ort sei, bleibt offen. Die gegenwärtige Schule ist es sicher nicht« (S. 27). »Ob eine Umstrukturierung der Schule unter diesem Gesichtspunkt heute noch notwendig ist, erscheint zumindest fraglich. Die Entwicklung der Jugendhilfe als System von Bildungshilfen für die Jugend und für die Eltern außerhalb der Schule, vor allem seit der Gründung eigenständiger Jugendämter, entlastet die Schule zunehmend von ihrer potentiellen Aufgabe einer systematischen Bildungshilfe für Eltern. Man wird damit rechnen müssen, daß eine generelle pädagogische Hilfeleistung für die Eltern zukünftig von der Schule immer weniger erwartet wird« (S. 28).

Bemerkenswert ist diese resignierte Antwort vor allem deshalb, weil Bäuerle unterderhand die Fragestellung veränderte, nämlich entscheidend einschränkte. Zu Beginn seines Buches nennt er z. B. das Thema des Weltkongresses für Jugendhilfe 1958: »Eltern und Erziehung. Hilfe bei der Erziehung und Vorbereitung der Eltern auf ihre erzieherische Aufgabe« (S. 1). Bis zu der obigen Antwort ist dann der Aspekt der »Vorbereitung« zugunsten der »Hilfe« verdrängt worden. ~ Auf Seite 2 ist noch von »Bil­dungshilfen für Eltern und für zukünftige Eltern« die Rede. Auf Seite 15 tritt der Vorbereitungsaspekt...