Das Gedächtnis der Struktur - Der Komponist Pierre Boulez

von: Hans-Klaus Jungheinrich, Rolf W. Stoll

Schott Music, 2015

ISBN: 9783795786380 , 128 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 13,99 EUR

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Das Gedächtnis der Struktur - Der Komponist Pierre Boulez


 

Pierre Boulez’ Begegnung mit der Zweiten Wiener Schule

Susanne Gärtner

«It is not devilry, but only the most ordinary common sense which makes me say that, since the discoveries made by the Viennese, all composition other than twelve-tone is useless. (This does not, of course, imply that the works of every twelve-tone composer are valuable.)»

Keine Schrift von Pierre Boulez hat so für Furore gesorgt und ist so im Gedächtnis geblieben wie sein Aufsatz «Schönberg is Dead». Nachdem im Juli 1951 das Interesse für die Zwölftontechnik und die Werke der Zweiten Wiener Schule bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt einen Höhepunkt erreicht hatte, erklärte Boulez in der Schönberg gewidmeten Sondernummer von The Score den soeben Verstorbenen auch für musikhistorisch tot. Schönberg habe zwar eine der größten Revolutionen der Musikgeschichte herbeigeführt, sein Werk sei jedoch ge-kennzeichnet von grundsätzlichen Unvereinbarkeiten. Indem Schönberg Zwölftonreihe und Thema einander gleichsetze, gelange er zu einer Ultra-Thematisierung und verkenne das Reihenphänomen als solches. Sein Festhalten an klassischen, der Tonalität verpflichteten Formen führe zu einer unüberbrückbaren Kluft, was schon die seltsame Fügung zeige, dass Schönberg die Zwölftontechnik in seinen Fünf Klavierstücken op. 23 anhand eines Walzers vorgestellt habe. Schönberg bediene sich überlebter Konzepte und Stilmittel, wie etwa dem Modell von Melodie und Begleitung, und seine Rhythmik sei armselig und langweilig.1

Bereits in «Moment de Jean-Sébastian Bach» hatte Boulez Anton Webern zum Referenzpunkt bestimmt. Nicht Schönberg, sondern Webern nehme eine Bach vergleichbare historische Rolle ein. Wie Webern müsse man Strukturen anstreben, die vom Material der Reihe ausgingen.2 Konkrete Anweisungen zu zeitgemäßem Komponieren folgten 1952 in «Éventuellement …». Jeder Musiker, der die Notwendigkeit der zwölftönigen Sprache nicht erkannt habe, sei unnütz, doch gehe es nun darum, die Reihentechnik innovativ auszubauen, den Rhythmus mit der Reihenstruktur in Übereinstimmung zu bringen und auch Spielart, Lautstärke, Klangfarbe und Tempo seriell zu organisieren.3

Auch als Komponist trat Pierre Boulez zu Beginn der 1950er-Jahre an die Öffentlichkeit. Innerhalb kürzester Zeit etablierte er sich als einer der führenden Köpfe der jungen Komponistengeneration, bereits 1958 widmete Antoine Goléa dem gerade 33-Jährigen eine erste Monografie und reihte ihn zu den großen Komponisten abendländischer Musikgeschichte.4 Diastematisch und rhythmisch komplex stellte Boulez’ Œuvre eine Herausforderung dar. Dementsprechend stand 1963 ein erster Überblick zu seinen Werken unter dem Titel «In Search of Boulez» und thematisierte die Schwierigkeit eines dodekafonen Zugangs anhand der Sonatine für Flöte und Klavier.5 Analytische Beiträge, wie sie ab den 1970er-Jahren erschienen, wurden in Wissenschaftskreisen wie kleine Sensationen gehandelt.6 Seit die Paul Sacher Stiftung in Basel 1985 die Manuskripte von Boulez erworben hat, eröffnen Skizzen sowie unpublizierte Werke neue Wege des Zugangs. Dies rückte vermehrt auch das frühe Schaffen ins Interesse der Forschung, Boulez’ Aneignung der Zwölftontechnik und seine Begegnung mit der Zweiten Wiener Schule.7 Pierre Boulez versteht sich als eigenständig Suchender, als «autodidacte par volonté». In einer Art «dissociation chimique» habe er zielstrebig nur das übernommen, was ihn interessierte, und den Rest fallen gelassen.8 Seine Lehrzeit war von staunenswerter Kürze, die Begegnung mit der Zweiten Wiener Schule dauerte nur etwa ein Jahr. Da aber geschieht Entscheidendes: Innerhalb weniger Monate entstehen mit den Douze Notations, der Sonatine sowie der Première Sonate die ersten später veröffentlichten Werke. Seine unmittelbare kompositorische Reaktion bildet die Ausgangsbasis für die Postulate der 1950er-Jahre, uns ermöglichen die Spuren der damaligen Werkstatt faszinierende Einblicke in Boulez’ Sprachfindung.9

«Ce fut, pour moi, comme une illumination. J’eus le désir passionné de me familiariser avec cette musique et surtout, pour commencer, d’apprendre comment c’était fait.»10 Mit diesen Worten schilderte Pierre Boulez die schicksalhafte Begegnung, die im Februar 1945 im Salon des Pariser Mäzens Claude Halphen stattfand. In einem von René Leibowitz organisierten Konzert wurden kürzere zwölftönige Werke sowie Schönbergs Bläserquintett op. 26 aufgeführt. Der Eindruck war so überwältigend, dass die anwesenden Studenten von Olivier Messiaen Leibowitz um Zwölftonunterricht baten.

René Leibowitz machte seit Kurzem in Paris von sich reden.11 Als gebürtiger Jude in den Unterschlupf getaucht, hatte er sich während der Besatzungszeit ganz dem Studium der Werke Schönbergs, Bergs und Weberns gewidmet. In der festen Überzeugung, dass in der Zwölftonmusik die Zukunft läge, verfasste er in jenen Jahren seine Bücher Introduction à la musique de douze sons und Schœnberg et son école, in denen er das gesamte ihm bekannte Œuvre der Wiener Schule analysierte. Selbst kompositorisch ambitioniert schrieb er den Modellen folgend auch eigene Werke. Nach der Befreiung von Paris im August 1944 begann für Leibowitz eine überaus aktive Zeit. Als Dirigent, Journalist und Pädagoge setzte er sich vehement für die Etablierung der so gut wie unbekannten Zwölftonwerke ein und prangerte die Situation der französischen Musik als schwere Krise an.12

Wir wissen nicht genau, wann sich Messiaens Studenten erstmals bei Leibowitz trafen, und in welcher Reihenfolge die Werke der Zweiten Wiener Schule besprochen wurden. Die in der Paul Sacher Stiftung einsehbaren Unterrichtsmitschriften von Boulez sind undatiert und dokumentieren nur die Beschäftigung mit Webern, Materialien zu Schönberg’schen Werken fehlen.13 Der Unterricht verlief wohl in drei Etappen. Zunächst wurden die Partituren abgeschrieben, dann legte Leibowitz den Studenten seine Analyse dar, die schließlich in Heimarbeit vervollständigt werden sollte. Im Nachhinein hat Boulez nicht mit Kritik an Leibowitz gespart. Engstirnig seien dessen Erläuterungen gewesen, eine reine Zwölftonzählerei.14 Seine eigene kompositorische Entwicklung lässt jedoch annehmen, dass auch grundlegende Aspekte des Komponierens im Unterricht zur Sprache kamen, so wie sie Leibowitz in seinen Schriften thematisierte.

Bis zum Frühjahr 1945 hatte Pierre Boulez noch nicht viel komponiert. Nach einigen Jugendwerken stand ab Oktober 1943 das Studium am Pariser Conservatoire und die pianistische Ausbildung im Vordergrund. Da ihn die Vorbereitungsklasse in Harmonielehre nicht ausfüllte, nahm Boulez ab April 1944 zusätzlich private Kontrapunktstunden bei Andrée Vaurabourg, der Ehefrau Arthur Honeggers. Von einem Werk Olivier Messiaens begeistert, bemühte er sich um die Kontaktaufnahme und wurde im Oktober 1944 in dessen Harmonieklasse am Conservatoire sowie wenig später auch in private Analysekurse aufgenommen. Messiaens Unterricht muss enorm anregend gewesen sein, fünf unveröffentlichte Klavierwerke entstammen diesem zweiten Studienjahr und künden von einem erwachenden kompositorischen Selbstbewusstsein.15

Wohl das früheste dieser Studienwerke ist ein Nocturne, das an die Tonsprache Gabriel Faurés anknüpft, den Takt jedoch ausrenkt und von heftigen Akkordrepetitionen erschüttert wird, deren unregelmäßige Pulsierungen Igor Strawinskys Epochewerk Sacre du printemps durchklingen lassen. Drei weitere Kompositionen, Prélude, Toccata und Scherzo, bilden eine zyklische Hommage à Johann Sebastian Bach und konnotieren den Unterricht bei Andrée Vaurabourg und die Musik Honeggers. Während sich im Klaviersatz und in der rhythmischen Unruhe des Prélude zudem die Schulung durch Messiaen bemerkbar macht, mündet die Toccata in eine Fuge, deren Thema von einer Zwölftonreihe eröffnet wird. Auch Tonketten im Scherzo deuten auf eine erste Auseinandersetzung mit der Zwölftontechnik.

Bei Thème et variations pour la main gauche, das Boulez im Juni 1945 ins Reine schrieb, ist der Bezug zu den Wienern schon vom Titel her gegeben, galt doch die Variationsform als prädestiniert für dodekafones Komponieren. In seinen Variationen für Orchester op. 31 hatte Arnold Schönberg die Zwölftontechnik erstmals anhand eines großen Orchesterwerks erprobt, auf einer detaillierten Analyse von Schönbergs Variationen basierte Leibowitz’ Introduction à la musique de douze sons, und in Anlehnung an dieses Modell schrieb er gerade seine Variations für Orchester op. 14. Auch das...