Der Schmuggel über die Zeitgrenze - Erinnerungen

von: Chaim Noll

Verbrecher Verlag, 2015

ISBN: 9783957321039 , 480 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 16,99 EUR

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Der Schmuggel über die Zeitgrenze - Erinnerungen


 

Der Schmuggel über die Zeitgrenze

In meiner Kindheit war viel von Polen die Rede – von dort stammen die meisten meiner Urgroßeltern. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts müssen sie eingewandert sein. Viel konnte ich nicht darüber in Erfahrung bringen, in der Familie herrschte ein Hang zum Verschleiern des Vergangenen.

Die Eltern meiner Berliner Großmutter kamen als junge Leute nach Berlin, die Stadt verkörperte damals Hoffnung und Zukunft, wie das ganze Deutsche Reich der siebziger, achtziger Jahre, eben durch einen sensationellen Sieg über Frankreich zustande gekommen, im wirtschaftlichen Aufschwung, eine kommende europäische Macht. Erst damals fand Berlin seine eigentliche Gestalt. Die neue Reichshauptstadt erlebte einen »Bauboom«, dehnte sich aus, es gab Arbeit, von überall strömten junge Menschen herbei, um ihr persönliches Glück auf das der Stadt zu gründen.

Die meisten Berliner waren von »auswärts«, noch heute erinnern viele Berliner Familiennamen an die polnische, schlesische, tschechische, jüdische Herkunft. Meine Urgroßeltern, wie viele andere, lösten sich aus ihrer früheren Identität, um in eine neue zu schlüpfen. Sie bemühten sich darum, »richtige Berliner« zu werden, Deutsche von der neuen, aufsteigenden Art. In ihren Kreisen betrug man sich »anständig«, das hieß zurückhaltend und dezent. Der Erwerb höherer Bildung war mühsamer als heute und galt als Ideal. Über bestimmte Dinge wurde einfach nicht gesprochen, zum Beispiel über Sex oder darüber, wie viel oder wenig Geld man hatte. Man erzählte auch nicht jedem, woher man kam, und Polen gehörte nicht zu den Herkunftsländern, die viel Eindruck machten.

Meine Großmutter wurde schon in Berlin geboren, genau zur Jahrhundertwende. Der junge Mann, den sie in Berlin kennenlernte, mein Großvater, war Schweizer, in ihren Augen »eine gute Partie«. Er kam aus Basel und arbeitete als Ingenieur für eine im Aufstieg befindliche deutsche Firma. Die Schweizer Staatsbürgerschaft, die Schweizer Beziehungen erwiesen sich später als lebensrettend. In das brünette Fräulein »mit den sprechenden Augen«, wie meine Berliner Großmutter sich selbst als junge Frau beschrieb, verliebte er sich bei den allmorgendlichen Begegnungen auf einer Brücke über die Spree – eine »Straßenbekanntschaft«, wie seine Schweizer Schwestern, Cousinen und Tanten mit spürbarer Missbilligung anmerkten. Meine Großmutter lachte darüber. Sie war ihrem angehenden Ehemann nur deshalb jeden Morgen auf der Brücke begegnet, weil sie schon als junge Frau »tüchtig«, das heißt berufstätig war. Sie arbeitete in Wolffs Telegraphischem Büro als Dolmetscherin für Englisch und Französisch, und war darauf sehr stolz.

Die Familie meines Vaters stammt aus Sachsen und Schlesien. Die väterlichen Großeltern, nach Verfolgung und mehrfachen Umzügen, lebten in Chemnitz. Mein Vater wurde etwa zwei Jahre vor meiner Geburt von der Universität Jena nach Berlin geholt, um Redakteur der Zeitschrift Aufbau zu werden. In der Redaktion lernte er meine Mutter kennen, die dort nach dem Abitur als Volontärin arbeitete. Als ich geboren wurde, war meine Mutter zwanzig, mein Vater siebenundzwanzig Jahre alt – für heutige Verhältnisse junge Eltern. Ich war ihr erstes Kind und wurde an einem heiteren Sommertag, dem 13. Juli 1954, gegen neun Uhr morgens im Krankenhaus Friedrichshain in Berlin geboren. Nach Auskunft meiner Mutter wog ich achteinhalb Pfund und maß vierundfünfzig Zentimeter, ein großes, kräftiges Baby. Fotos zeigen mich fast immer guter Laune. Ich hatte allen Grund dazu: Seit dem ersten Tag umgaben mich Liebe und Wohlwollen – jetzt, wo ich da war. Vor meiner Geburt hatte es Kämpfe in der Familie gegeben, ob ich überhaupt zur Welt kommen sollte. Doch davon erfuhr ich erst später. Mein Vater fuhr mit der S-Bahn in den Westen der Stadt, um Alete Babykost für mich zu kaufen, Bananen, Orangen und alles, was es im Osten nicht gab.

Berlin lag damals in Trümmern. Schutthaufen säumten die Straßen, viele Häuser waren Ruinen. Kinderaugen erschienen diese Straßen unendlich lang und leer. Auch die Erinnerung an Staub ist sehr deutlich, an hellen, kalkigen Staub, der die dunklen Schuhe, die wir meist trugen, mit einem Film überzog. Nur langsam erholte sich die Stadt von ihrem Untergang als »Reichshauptstadt« einige Jahre zuvor. Berlin war die deutsche Stadt, der die meisten alliierten Luftangriffe gegolten hatten, der letzte am 19. April 1945. Insgesamt über dreihundert Angriffe, bei denen Zehntausende Tonnen Bomben abgeworfen wurden. Schon das Wegräumen der Trümmer war eine gigantische Arbeit. Man klopfte den Mörtel von Hunderttausenden Ziegelsteinen, um sie erneut verwenden zu können. Die Ziegel wurden in langen Menschenketten von Hand zu Hand durch die Trümmer gereicht und am Straßenrand aufgestapelt. Wie immer nach Kriegen waren die Männer rar, da­her mussten Frauen schwere körperliche Arbeit verrichten. Viele Berlinerinnen bekannten zeitlebens mit Stolz, »Trümmerfrau« gewesen zu sein.

Im Wirrwarr der Stimmungen dieser Jahre überwog der Über­lebenswille. Über die Katastrophe wurde ungern gesprochen, allenfalls in Andeutungen. Zuerst müsse man, sagten die Erwachsenen, schnell »wieder auf die Beine kommen«. Die politischen Verhältnisse standen dem in gewisser Weise entgegen: Deutschland war ein von fremden Armeen besetztes Land, das einen Krieg verloren hatte. Was immer geschehen sollte, musste von den vier Besatzungsmächten genehmigt werden, die Berlin, die gefallene Hauptstadt, unter sich aufgeteilt hatten, in vier Sektoren.

Wir lebten im Stadtteil Prenzlauer Berg, im sowjetischen Sektor. Die Wohnung lag in einem Viertel relativ neuer Häuser, gebaut in Form eines mehrfach geöffneten, einen Park umschließenden Rechtecks zwischen Grell-, Gubitz-, Hosemann- und Erich-Weinert-Straße, nahe der Greifswalder, der großen Magistrale nach Norden. Bis auf wenige Narben im Putz waren die Häuser un­be­schädigt, anders als die in der benachbarten Naugarder oder Rietze­straße, deren Bausubstanz die für Prenzlauer Berg typische war: der Raum zwischen den Straßenfassaden mit Hinter- und Quergebäuden zugebaut, einst ein dichtes steinernes Netz. In dem nun große Lücken klafften. Heute, so zeigen mir Satellitenbilder im Inter­net, ist ein Großteil dieser Innenflächen begrünt. Damals wa­ren es Trümmerhaufen, gesperrte Gelände mit verschütteten Kellern, ausgebrannte Hinterhäuser mit hohlen Fenster­öffnun­gen, Brandmauern, geschwärzt von den Feuerlohen der Bombennächte.

Der Geruch nach Feuer und Asche hatte sich in die Gemäuer eingefressen. Wir Kinder kletterten trotz der Verbotsschilder auf Schutthaufen und wagten Exkursionen in vom Feuer ausgehöhlte Gebäude. Zum Brandgeruch kam, je mehr wir uns den Ruinen ­näherten, der penetrante Gestank von Kalkstaub und feuchtem Mörtel, von Moder, Urin und dem Unsäglichen, das sich in den düsteren Gemäuern verbergen mochte. Immer wieder entdeckte man Skelette in den früheren Luftschutzkellern, denn oft waren die Keller, Zuflucht der Bombennächte, zu Gräbern geworden. Schaurige Geschichten wurden erzählt: Beim Öffnen oder Sprengen einer stählernen Eisentür hätte man Erstickte gefunden, Keller voller Leichen, gespenstisch gebleicht durch herabfallenden Kalk und Schimmel. Die Leichen, hieß es, »zerfielen« in dem Augenblick, in dem sie mit frischer Luft in Berührung kamen. Manchmal war es gelungen, vorher ein Foto zu schießen, mit Blitzlicht, im undurchdringlichen Dunkel der unterirdischen Räume. Da saßen sie auf Bänken entlang der Wände, Frauen, Kinder, alte Leute, nahe der Tür der Luftschutzwart mit der Hakenkreuzbinde am Arm, alle in Mäntel und dicke Wolle gehüllt, die Frauen mit Kopftüchern, die Kinder mit Mützen, vermummt, in sich zusammengesunken, und waren allesamt erstickt.

Derlei packte meine Fantasie. Ich hatte nie in einem Luftschutzkeller gesessen und stellte es mir grauenhaft vor. Wegen der Enge, der Unentrinnbarkeit. Wenn man es geschickt anstellte, konnte man die Erwachsenen zum Reden bringen, über die Bombennächte und Luftschutzkeller, die gegen Ende des Krieges eine alltäglich aufgesuchte Einrichtung waren. Die Kinder, hörte ich, ­hätten dort gespielt. Die Frauen Neuigkeiten und Klatsch ausgetauscht, zwischen Halbwüchsigen sei es zu verstohlenen Berührungen, ersten Küssen im Kellerdunkel gekommen. Und immer wären dort Menschen »verschüttet« worden, mit unterschiedlichem Ausgang. Die Geretteten litten oft für den Rest ihres Lebens unter Angst, Albträumen und Panikattacken. Wenn sich jemand sonderbar benahm, zu unkontrollierten Zuckungen, hysterischen Zuständen neigte, hieß es entschuldigend: Er oder sie »war ­verschüttet«. Die spärlichen Erzählungen, die vor dem Hintergrund der Schuttberge, der ragenden Brandmauern, Ruinen und mit Stahltüren versehenen Kellergänge suggestiv und vollkommen realistisch wirkten, haben bei mir tiefen Eindruck hinterlassen. Bis heute meide ich enge Räume, Partys, Einkaufszentren, überhaupt Menschenansammlungen, sitze nicht gern in Flugzeugen, Schnellzügen, lebe in der Wüste, in Weite und Wärme, möglichst bei geöffneten Fenstern und Türen.

Die Trümmergrundstücke waren auch deshalb zu meiden, weil man dort in die Tiefe stürzen und verunglücken konnte. Selbst im weniger schlimmen Fall, wenn man den Sturz überlebte und verletzt in einem dunklen Loch liegen blieb, würde den um Hilfe ­Rufenden wahrscheinlich niemand hören – auch das eine...