Die Lessing-Legende - Zur Geschichte und Kritik des preußischen Despotismus und der klassischen Literatur

von: Franz Mehring

e-artnow, 2015

ISBN: 9788026830207 , 470 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 1,99 EUR

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Die Lessing-Legende - Zur Geschichte und Kritik des preußischen Despotismus und der klassischen Literatur


 

I. Lessing und die Bourgeoisie



Unter den großen Denkern und Dichtern des deutschen Bürgertums hat keiner im Leben tatsächlich ein schwereres, nach seinem Tode anscheinend ein glücklicheres Los gezogen als Lessing. Sein Andenken wird von den bürgerlichen Klassen gepflegt wie eine seltenste Blume im Treibhause. Es gibt zwei wissenschaftliche Ausgaben seiner Werke von hohem Werte; die bahnbrechende von Lachmann erscheint eben in dritter Auflage; die spätere, welche Groß, Redlich, Schöne und andere für den Verlag von Hempel besorgt haben, enthält neben einem sorgfältig geprüften und vermehrten Text eine Fülle erläuternden Stoffs für die Briefe und einen großen Teil der Schriften. Die Zahl populärer Ausgaben ist fast schon nicht mehr zu übersehen.

Dazu kommt eine kleine Bibliothek von Biographien, darunter neben manchem Schunde zwei große, wissenschaftliche Werke, ferner eine populärwissenschaftliche Darstellung, die in neun Auflagen verbreitet ist, endlich zwei englische Biographien, deren jede einen Übersetzer ins Deutsche gefunden hat. Der Schriften aber, die sich teilweise mit Lessing beschäftigen oder einzelne Seiten seines Geistes und Wirkens beleuchten, ist wiederum Legion. Wie sehr Lessing der Held der bürgerlichen Presse ist, braucht nun gar erst nicht hervorgehoben zu werden. Hier darf man wirklich sagen: Lessing und kein Ende! Kurz, vom altkatholischen Bischof Reinkens bis zu den Gelehrten des »Berliner Tageblatts« ist alles ein Herz und eine Seele über »seinen« oder »unsern« Lessing.

Es fehlt freilich auch nicht an abweichenden Stimmen, aber sie fallen nicht sonderlich schwer ins Gewicht. Das Lessing-Pamphlet von Dühring ist ein nur für den Verfasser bedauerliches Machwerk; es steht noch unter Paul Albrechts auf zehn Bände angelegtem Werke »Lessings Plagiate«, das Lessings Lebensarbeit als einen großen Diebstahl nachweisen will, aber in der Lösung dieser erhebenden Aufgabe wenigstens für den Kleinkram der Lessing-Forschung manchen nützlichen Fingerzeig beibringt. Daneben ist Lessing auch – und mit Recht! – einer gewissen Abart von »Naturalisten« ein Dorn im Auge, jener Abart nämlich, die sich mit Vorliebe in den unsauberen Abfall der kapitalistischen Wirtschaft vergräbt und im Haushalte der heutigen Bourgeoisie die Rolle jener Sklaven spielt, die den Schlemmern des versinkenden Römerreichs nach jedem Gange ein Vomitiv zu reichen hatten, um ihnen für den nächsten Gang einen künstlichen Appetit zu erzeugen. Aber alle diese Anfeindungen Lessings sind einzelne Späne, die den großen Strom des Lessing-Kultus nicht dämmen, sondern von ihm nur fortgeschwemmt werden.

Gälte dieser Kultus dem wahren Lessing, er wäre ein hohes Ehrenzeugnis des heutigen Bürgertums. Denn Lessings Werke bieten nichts, was einen Modegeschmack anziehen könnte; sie bieten selbst nur wenig, was sich die landläufige Bildung einfach anzueignen brauchte, um damit prunken zu können. Lessings Ästhetik und Kunstkritik, seine Philosophie und Theologie sind heute überholt. Überholt, weil er selbst die Bahn brach, worauf andere um so schneller zum Ziele gelangen konnten, aber deshalb nicht weniger überholt. Selbst mit Nathan und Tellheim empfinden wir nicht mehr so wie mit Faust und Tell. Was Goethe von Winckelmann sagt: »Wenn bei sehr vielen Menschen, besonders aber bei Gelehrten, dasjenige, was sie leisten, als die Hauptsache erscheint und der Charakter sich dabei wenig äußert, so tritt im Gegenteil bei Winckelmann der Fall ein, das alles dasjenige, was er hervorbringt, hauptsächlich deswegen merkwürdig und schätzenswert ist, weil sein Charakter sich immer dabei offenbart«, das gilt in noch höherem Grade von Lessing. Unter den geistigen Vorkämpfern des deutschen Bürgertums war Lessing nicht der genialste, aber der freieste und wahrhaftigste und vor allem der bürgerlichste; was immer wieder an seine Schriften fesselt, auch an die totgeborenen oder längst abgestorbenen, ist der Charakter dessen, der sie schrieb. Ehrlichkeit und Mannhaftigkeit, eine unersättliche Begierde des Wissens, die Lust mehr noch am Trachten nach der Wahrheit als an der Wahrheit selbst, die unermüdliche Dialektik, die jede Frage kehrte und wandte, bis ihre geheimsten Falten offenlagen, die Gleichgültigkeit gegen die eigene Leistung, sobald sie einmal vollbracht war, die großartige Verachtung aller weltlichen Güter, der Haß gegen alle Unterdrücker und die Liebe zu allen Unterdrückten, die unüberwindliche Abneigung gegen die Großen der Welt, die stete Kampfbereitschaft gegen das Unrechte, die immer bescheidene und immer stolze Haltung in dem verzehrenden Kampfe mit dem Elend der politischen und sozialen Zustände – alles das und wie manches andere Erhebende und Erquickende noch! spiegelt sich in Lessings Briefen und Schriften.

Aber man braucht diese Eigenschaften nur aufzuzählen, um zu erkennen, daß Lessings Charakter im schroffsten Gegensatze steht zu dem Charakter der deutschen Bourgeoisie von heute. Zaghaftigkeit und Zweizüngigkeit, eine unersättliche Begierde nach Gewinn, die Lust am Jagen nach Profit und mehr noch am Profite selbst, die geistige Selbstgenügsamkeit, die sich an ein paar Schlagworten als an der irdischen Weisheit letztem Schlusse genügen läßt, der Humbug eines unendlich verzweigten Cliquen- und Reklamewesens, die unglaublichste Überschätzung alles irdischen Tandes, das Ducken nach Oben und das Drücken nach Unten, ein unausrottbarer Byzantinismus, das stete Totschweigen auch des schreiendsten Unrechts, die immer prahlerische und immer schwächliche Haltung in den politischen und sozialen Kämpfen der Gegenwart – das sind ihre kennzeichnenden Eigenschaften. Und so scharf und stechend ist dieser Gegensatz, daß immer noch, wenn der Lessing-Kultus der Bourgeoisie sich in schäumendem Überschwange brechen wollte, bürgerliche Schriftsteller, die ihren Lessing kannten und liebten, in einen Schrei der Entrüstung ausbrachen. So fragte Xanthippus-Sandvoß, als 1886 bei der Eröffnung der sogenannten Jubiläums-Kunstausstellung in Berlin die »National-Zeitung« den schnöden Byzantinismus von sich gegeben hatte, »Goethe und Lessing« wüßten »von dem gewaltigen und grundlegenden Einflüsse Friedrichs des Großen auf die deutsche Literatur« zu erzählen: »Müssen wir nicht tagtäglich erleben, wie der Name Lessings im Parteihader unnützlich geführt wird? Fühlt man sich nicht hundertmal aufgelegt, im Interesse der Manen des großen Entschlafenen gegen solchen Mißbrauch Protest einzulegen? Ist es nicht widerlich zu sehen ..., wie Leute, die keine Ahnung von dem hohen deutschen Wahrheitssinne des Mannes, die nur Verständnis für die ordinärste Reklame, das verlogenste Selbstlob und für das haben, was Lessingen selber zu allen Zeiten das gleichgültigste von der Welt war, das eigene Fortkommen, wie solche von ihm reden, als sei er von ihren Leuten einer?« Xanthippus, Berlin und Lessing, Friedrich der Große und die deutsche Literatur. Das treffliche Schriftchen ist natürlich von der bürgerlichen Presse totgeschwiegen worden. Eine ausführliche Besprechung in der »Neuen Zeit«, 6, 320 ff. Und als im Oktober 1890 das Lessing-Denkmal in Berlin enthüllt wurde durch eine bombastische Festrede des Professors Schmidt und unter dem tönenden Posaunenschalle der Bourgeoispresse, da schrieb die »Kreuz-Zeitung« fast noch beißender: »Wenn der Oberpastor Goeze heute auferstände, wir würden ihm zur Seite stehen. Das wäre unser Recht und unsere Pflicht ... Lessings Aufrichtigkeit fechten wir darum nicht an. Sie erhebt ihn turmhoch über die meisten von denen, die sich in seinem Ruhme spiegeln. Professor Schmidt hätte das bedenken sollen, als er gerade jetzt – die Welt weiß, was gemeint ist – von Lessing rühmte, daß er dem deutschen Schriftstellerstande den Nacken gesteift. Was er erreicht, davon hat der Fall Lindau ein erbauliches Beispiel gegeben! ... Lessing hat auf Erden nie das gesehen, was man Glück zu nennen gewohnt ist, aber nach seinem Tode ist es ihm beschieden: Er brauchte den Tag nicht zu erleben, da man ihm ein Denkmal errichtet hat. Wenn er heute in Berlin wirkte, er würde von denselben Leuten wie Luft behandelt werden, die ihm jetzt, da er in Marmor gekleidet auf uns herniederblickt, nicht Weihrauch genug zu streuen wissen.« Es sei genug an diesen bürgerlichen Zeugnissen für die Tatsache, daß der Lessing-Kultus der Bourgeoisie nicht aus der Gleichheit des Charakters erwächst. Wenden wir uns nunmehr der Frage zu, worin er denn sonst wurzelt?

Vornehmlich in zwei Ursachen. Erstens in Lessings Stellung zur Judenfrage seiner Zeit. Zwar war die damalige Judenfrage eine ganz andere, als die heutige Judenfrage ist, und Lessings Judenfreundschaft hat mit dem heutigen Philosemitismus nicht mehr zu schaffen als die Menschenfreundschaft, jene Lieblingsvorstellung unseres humanitären Zeitalters, mit dem Kapitalismus der Gegenwart. Lessing schützte die Juden, wie er allen Unterdrückten und Verfolgten, mochten sie sonst sein, wie sie wollten – und er hat die Schattenseiten des jüdischen Charakters nie verkannt –, nicht bloß mit Redensarten, sondern auch mit Taten beisprang. In dem letzten Briefe, den er, selbst schon todkrank, an Moses Mendelssohn schrieb, empfahl er diesem seinem würdigsten jüdischen Freunde einen andern jüdischen Freund, der sich in unrühmlichster Weise bekanntgemacht hat, als einen »Unglücklichen« mit den Worten: »Es ist nicht wahr, daß der Unglückliche ganz unschuldig ist. An Klugheit hat er es wohl immer fehlen lassen. Eigentlich heißt er Alexander Daveson, dieser Emigrant; und daß ihm. unsere Leute auf Verhetzung der Ihrigen sehr häßlich mitgespielt haben, das kann ich ihm bezeugen. Er will von Ihnen nichts, lieber Moses, als daß Sie ihm...