Zeig mir deine Wunde - Geschichten von Verlust und Trauer

von: David Althaus

Verlag C.H.Beck, 2015

ISBN: 9783406674624 , 272 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 12,99 EUR

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Zeig mir deine Wunde - Geschichten von Verlust und Trauer


 

UTA W.:
LEBE WOHL, MEINE KLEINE!


Das Authentischste an uns ist unsere Fähigkeit,

zu erschaffen, zu erdulden, zu verändern,

zu lieben und stärker zu sein als unsere Leiden.

Ben Okri

 

Ich bin heute neununddreißig Jahre alt und Tierärztin. Ich lebe gemeinsam mit meinem Mann und meiner Tochter Ayleen in der Nähe von München. Wir haben zwei Kinder, Ayleen und Maike. Maike ist im Alter von sieben Wochen gestorben. Das ist nun schon über zwanzig Monate her. Ich will hier über Maike schreiben, über das, was sie mir bedeutet, über ihr kurzes Leben, ihren Tod und was es für mich heißt, nun ohne sie leben zu müssen.

Juni 2010: Endlich schwanger! Wir haben es nun doch noch geschafft! Meine Arbeit und meine Karriere waren mir immer sehr wichtig. Doch für den größten Wunsch in meinem Leben, Familie und Kinder, war ich bereit, das alles hinter mir zu lassen. Und nach all den vergeblichen Versuchen bin ich nun schwanger! Es sind Zwillinge, zwei kleine süße Mädchen, Ayleen und Maike sollen sie heißen. Martin, mein Mann, und ich sind sehr glücklich! Wir können es kaum fassen, dass wir nun endlich eine kleine Familie sein werden.

Es ist schwer, für all das Geschehene die richtigen Worte zu finden, denn schnell passiert es, dass ein Satz nicht mehr richtig klingt, nicht nach dem, wie ich es empfinde. Ich weiß, dass ich mich berühren lassen muss von der Erinnerung. Ich muss zulassen, dass sie in mir schwingt und mich bewegt. Das bedeutet dann, dass ich intensiv in meinen Schmerz eintauche, in die unglaublich schmerzhafte Erfahrung, dass Maike sterben musste. Manchmal ist mein Schmerz so groß, dass ich Furcht habe, mich darin aufzulösen, dass nichts von mir übrig bleibt, wenn ich dem Gefühl der Trauer ganz nachgebe. Ich habe auch große Angst vor der Einsamkeit, die direkt neben dem Schmerz sitzt.

Juni 2010: Die Ärzte sagen mir, dass es eine Risikoschwangerschaft sei und dass ich bald nur noch liegen dürfe. Schon in der zweiten Woche bekomme ich Blutungen und Wehen. Es ist Sonntag. Ich bin in Panik, meine Kinder zu verlieren, und fahre mit Martin in die Klinik. Wir warten lange, und endlich wird ein Ultraschall gemacht. Hat die Ärztin gerade wirklich gesagt: Es sieht schlecht um den einen Zwilling aus? Dass ich entweder einen oder sogar beide Föten verlieren würde? Dass man dagegen gar nichts machen könne? Ich habe große Angst, und ich will das so nicht akzeptieren. Es muss doch irgendetwas geben, das ich machen kann. Wieder zu Hause, rufe ich sofort meine Hausärztin an. Sie nimmt sich Zeit für mich, behandelt meine Krämpfe und untersucht mein Blut. Wie sich später herausstellt, ist die Ursache für die Blutungen und Wehen eine Schilddrüsenüberfunktion, die nun therapiert werden muss.

Ich bin eine Meisterin der Fassade. Ich glaube, ich war das schon immer, auch lange vor Maikes Tod. Früher gab es viele Dinge in meinem Leben, die waren sehr hart, sehr schwer, und ich habe mich häufig damit allein gefühlt. Ich hatte das Gefühl, dass niemand da war, mit dem ich das hätte teilen können. Also habe ich versucht, so gut es geht, irgendwie zu funktionieren. Ich war wirklich sehr gut darin, anderen Menschen weiszumachen, dass ich das Leben schon packen würde.

Juli 2010: Seit Beginn der Schwangerschaft bereite ich zu Hause alles für die Ankunft von Ayleen und Maike vor. Es gibt so viel zu tun. Das Kinderzimmer einrichten, Anziehsachen besorgen. Ich habe eine zweiseitige Liste gemacht, die ich akribisch abarbeite. Aber am schwierigsten ist der Kauf der Babyschale. Zwillinge kommen oft zu früh auf die Welt und sind dann kleiner und leichter als andere Babys. Ich habe mich von einem «Frühchenverein» beraten lassen und bin nun auf der Suche nach einer passenden Verkleinerung der Babyschalen. Es macht mir viel Freude, und da ich weiß, dass ich bald nur noch liegen darf, nutze ich die Zeit, solange ich noch kann. Sollen doch alle unken. «Schlechtes Omen!» So ein Quatsch! Oder haben sie vielleicht doch recht? Die Angst bleibt mein Begleiter.

Es fällt mir schwer, meine Gefühle zu zeigen. Wie ich schon sagte: Ich bin ein Mensch, der sich ganz gut eine Maske überstülpen kann, damit die Dinge nicht so wehtun. Es gibt Leute, die mir sagen, wie sehr sie mich bewundern und wie stark ich sei. In Wirklichkeit bin ich nicht stark. In Wirklichkeit fühle ich mich oft ganz klein, ganz schwach und schutzbedürftig. Ich habe jedoch Angst davor, das anderen zu zeigen, und nur kurz lasse ich es durchblitzen, wie es mir wirklich geht. Und dann ziehe ich lieber eine robuste Außenhaut über, damit niemand merkt, wie es in meinem Inneren aussieht.

August 2010: Obwohl ich oft höre, dass ich für eine erste Schwangerschaft alt bin und die Kinder deshalb Behinderungen haben könnten, bin ich nicht bereit, außer den vielen Ultraschalluntersuchungen weitere Tests machen zu lassen. Ich will auf jeden Fall beide Kinder bekommen. Ich würde auch in Kauf nehmen, dass ein oder beide Kinder geistig oder körperlich behindert sind. Das sind meine Kinder, die da im Bauch herumstrampeln. Die Hauptsache ist doch, sie dürfen leben und werden auf ihre Art glücklich. Immer wieder fasse ich auf meinen Bauch. Ich bin so glücklich, wenn die beiden in meinem Bauch rumturnen. Schon jetzt kann ich merken, wie unterschiedlich sie sind. Ayleen ist unentwegt in Bewegung, im Ultraschall kaum einzufangen. Sie zappelt einfach ständig rum. «Mit der bekommen Sie noch Spaß», höre ich scherzend von meinen Ärzten. Maike ist eher still. Sie bringt einfach nichts aus der Ruhe. Es entstand ein lustiges Bild beim Ultraschall. Als ihr die Hampeleien von Ayleen zu bunt geworden sind, hat sie sich flugs auf sie draufgesetzt. Die beiden sind ja so süß!

Seit meiner späten Kindheit leide ich unter Morbus Crohn. Diese entzündliche Darmerkrankung ist bei mir in ausgesprochen aggressiver Weise ausgeprägt, und mein ganzes Leben war immer wieder durch Schmerzen, Durchfälle, Gewichtsverlust, körperliche Schwäche geprägt, und dann natürlich auch noch durch viele Operationen. Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich es ungerecht finde, eine so schlimme Krankheit zu haben. Ich weiß nicht, womit ich es verdient habe und ob es eine Strafe für irgendetwas ist, jedenfalls fühle ich mich oft bestraft. Letztlich habe ich die Erkrankung nie in den Griff bekommen, und immer hing eine weitere Verschlechterung wie ein Damoklesschwert über mir.

1. November 2010: Ich bin in der 18. Schwangerschaftswoche und habe einen Krankheitsausbruch meines Morbus Crohn. Eigentlich heißt es, dass sich eine Schwangerschaft positiv auf die Erkrankung auswirkt. Leider nicht bei mir. Ich muss nun viele Medikamente zu mir nehmen, unter anderem Cortison und andere Immunsuppressiva. Schadet das meinen Kindern? Alle Medikamente für sich genommen sind in der Schwangerschaft erlaubt, doch keiner weiß, ob die Kombination nicht gefährlich ist. Aber ich habe keine Wahl, ich muss sie nehmen. Ich darf nun nicht mehr aufstehen, esse drei warme Mahlzeiten am Tag und zusätzlich noch Astronautenkost. Es ist furchtbar, so tatenlos rumzusitzen.

Der Crohn hat mich wieder und wieder aus allem herausgerissen: aus der Schule, aus dem Studium, später aus dem Beruf. Immer war ich so entmutigt, so enttäuscht, so traurig. Trotzdem habe ich nach außen stets so getan, als würde ich es schon schaffen. «Nur die Harten kommen in den Garten», rufe ich laut, und dann lache ich herzhaft, und die anderen lachen mit. Sie freuen sich, dass es gar nicht so schlimm ist mit mir. Bewundern mich, dass ich so gut drauf bin, obwohl bei mir alles so schwierig ist. Ich mag es selbst nicht, dass ich so bin. Ich würde gerne anders sein, aber es fällt mir sehr schwer.

5. November 2010: Ich bin zur Untätigkeit verdammt. Eigentlich bin ich jemand, der immer etwas tun muss. «Arbeit ist mein halbes Leben.» Nicht einmal meine Hunde sind noch bei mir. Sie sind bei meinen besten Freunden untergebracht. Es macht mich traurig, dass ich sie so lange nicht mehr sehen werde. Aber ich kann sie zu Hause nicht mehr versorgen, darf nicht mehr mit ihnen rausgehen. Ich bin auf die Hilfe meiner Mutter angewiesen. Sie hat alles stehen und liegen lassen und ist bei uns eingezogen. Sie kümmert sich um mich und den Haushalt. Ich bin ihr so dankbar und gleichzeitig irgendwie auch gereizt. Ich will doch alles selbst machen und schaffen. Nach Hilfe zu fragen und sie anzunehmen, fällt mir schwer. Und Hilfe werde ich später noch jede Menge brauchen. Zwillinge – ich freu mich sehr auf die beiden. Aber ich habe Sorgen, dass ich das alles allein nicht schaffe. Ich bin froh, dass sich schon so viele Freunde und Bekannte gemeldet und mir ihre Hilfe angeboten haben.

Wenn ich nun an meine Schwangerschaft zurückdenke, dann war das alles ein ungeheurer Kampf, und von Anfang an lag auch viel Verbissenheit darin. Die ganze Schwangerschaft hindurch musste ich kämpfen! Egal. Ich bin eine gute Kämpferin. Für mich wird es immer dann schlimm, wenn es nichts mehr zu kämpfen gibt, und das waren für mich im Grunde die schlimmsten Momente während der Schwangerschaft, wenn klar war: «Jetzt kannst du nichts mehr tun, du kannst nur...