Gerontologische Pflegeforschung - Ansätze, Ergebnisse und Perspektiven für die Praxis

von: Martina Hasseler, Martha Meyer, Thomas Fischer

Kohlhammer Verlag, 2012

ISBN: 9783170279667 , 260 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen für: Windows PC,Mac OSX,Linux

Preis: 34,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Gerontologische Pflegeforschung - Ansätze, Ergebnisse und Perspektiven für die Praxis


 

1 Alter(n) als soziale Konstruktion?!


Oliver Hautz

Einleitung


Ab wann ist man eigentlich alt? Wie fühlt es sich an, wenn man alt ist? Woher weiß man, dass man alt ist? Wer entscheidet eigentlich, ab wann jemand alt ist? Was ist Alter(n) und was unterscheidet die Menschen im Prozess des Alterns? Warum sind einige Menschen in höheren Lebensaltern noch aktiv und andere sind schon relativ früh in ihrer Aktivität eingeschränkt? Warum fühlen wir uns in manchen Situationen älter als in anderen?

Diese Liste an Fragen könnte wohl noch über mehrere Seiten fortgeführt werden. Wie sieht es aber mit den Antworten auf diese Fragen aus? Seit Jahrzehnten, oder vielmehr seit Jahrhunderten wird versucht, Erklärungen für das Phänomen Alter(n) zu finden. Dabei hängen die angebotenen Erklärungen und Antworten immer davon ab, zu welcher Zeit sie gegeben werden, wer sie gibt, in welchem Kontext sie gegeben werden und natürlich auch wie alt diejenige Person ist, die die Antwort(en) gibt. Die Antwort einer fünfzehnjährigen Schülerin auf die Frage, ab wann man denn alt ist, wird mit Sicherheit anders ausfallen als die ihrer beispielsweise sechzigjährigen Lehrerin. Die Antworten oder Erklärungen werden auch sehr unterschiedlich ausfallen, je nachdem ob man einen Biologen oder eine Biologin beziehungsweise einen Soziologen oder eine Soziologin fragt. Die Antwort wird demnach nicht nur vom fachlichen Hintergrund der befragten Person abhängen, sondern auch vom Geschlecht.

Es ist auch leicht nachvollziehbar, dass man im 18. Jahrhundert eine andere Antwort oder Erklärung bekommen hätte als im 21. Jahrhundert. Woran liegt das? Heute erreichen wesentlich mehr Menschen grundsätzlich höhere Lebensalter als dies noch im 18. Jahrhundert der Fall war. Alleine schon deshalb wird man andere Antworten bekommen. Aber was heißt das denn für jeden Einzelnen oder die Gesellschaft als Ganzes?

Im Folgenden wird ein kleiner Überblick darüber gegeben, welche verschiedenen Antworten es auf die bisher aufgeworfenen Fragen gibt. Ziel wird es sein, aufzuzeigen, dass es sich beim Alter(n) um einen Prozess bzw. eine Kategorie handelt, die man aus ganz unterschiedlichen Perspektiven betrachten und entsprechend unterschiedlich konstruieren kann. Verallgemeinerungen über Erscheinungsformen des »Alter(n)s« sind aus der Perspektive der Alternsforschung mit großer Vorsicht zu behandeln und viele Ergebnisse der traditionellen Alternsforschung müssen heute revidiert werden. Sowohl die biologische als auch die demografische, psychologische und soziologische Alternsforschung können das Phänomen Alter(n) nicht in seiner gesamten Vielschichtigkeit durchdringen, jedoch werden die angebotenen Erklärungen zunehmend robuster (Kruse & Wahl 2010, S. 80).

Insbesondere diejenigen Menschen, die aufgrund ihrer Tätigkeit in den Einrichtungen der Altenhilfe und -pflege mit einem besonderen Ausschnitt des menschlichen Alters und des Alt-Seins konfrontiert sind, erliegen häufig einer verzerrten Wahrnehmung vom »Alter«, da sie fast ausschließlich mit den Facetten Gebrechen, Einschränkungen von Alltagskompetenz, Endlichkeit, Krankheit und Tod konfrontiert sind. Sie »konstruieren« eine soziale und psychologische Einstellung oder Meinung, die sich ihnen in ihren Umwelten über das Alter(n) darbietet.

Das Anliegen dieses Beitrages ist es, auf der Basis einiger zusammengetragener Befunde der Alter(n)sforschung zu einer Reflexion und Diskussion der eigenen Konstrukte zum Alter und Altern anzuregen sowie zu einer Erweiterung der Perspektive auf ein vielschichtiges, widersprüchliches, herausforderndes, »bedrohliches« und anregendes Alter(n) beizutragen.

Zunächst soll ein Überblick darüber gegeben werden, weshalb im Kontext der Pflege eine Beschäftigung mit dem Thema Alter(n) überhaupt notwendig erscheint. Hierzu werden verschiedene Befunde aus der gerontologischen Forschung dargestellt, die sich mit Einstellung(en) gegenüber dem Alter(n) bzw. Altersbildern im Pflegeprozess beschäftigen.

1.1 Altersbilder und Pflege


Arbeiten zum Thema »Altersbilder professioneller Pflegekräfte« zeichnen generell ein sehr uneinheitliches und in Teilen recht undurchsichtiges Bild. Viele Studien wurden mit angehenden Pflegekräften durchgeführt, welche dann nach ihren Präferenzen bezüglich ihres zukünftigen Einsatzgebietes befragt wurden. Aufgrund der Tatsache, dass sich diese tendenziell eher in anderen Arbeitsfeldern als der geriatrischen Versorgung sahen, wurde dann auf ein generell negatives Altersbild von Pflegekräften geschlossen (Pursey & Luker 1995, S. 548; Stevens & Crouch 1995, S. 238 ff). Folgt man den Ausführungen von Stevens und Crouch (1995) so spiegelt sich in der Tatsache, dass angehende Pflegekräfte andere Arbeitsgebiete der Versorgung älterer Menschen – etwa in der Geriatrie – vorziehen, jedoch kein negatives Altersbild wider. Vielmehr kann dies damit begründet werden, dass technisch und auch technologisch anspruchsvollere Arbeitsgebiete der Arbeit »am Menschen« vorgezogen werden (vgl. Stevens & Crouch 1995, S. 233 ff). Trotz einer generellen Uneinigkeit wird in der Literatur ein tendenziell negatives Altersbild bei Pflegekräften unterstellt (Courtney et al. 2000, S. 62). Aber haben Pflegekräfte wirklich ein negativeres Bild vom Alter(n) und von alten Menschen als die allgemeine Bevölkerung? Und weshalb spielt dieser Aspekt eine wichtige Rolle?

In diesem Zusammenhang muss auf die Befunde aus dem Forschungsprogramm von Margret Baltes und Kollegen (1996) hingewiesen werden: Das Hauptaugenmerk der hier durchgeführten Untersuchungen lag auf der Interaktion zwischen Pflegekräften und zu Pflegenden. Aufgrund von sequentiellen Beobachtungen in Pflegeeinrichtungen wurde auf zwei relativ stabile Interaktionsmuster geschlossen. Zum einen wurde aus den Untersuchungsergebnissen geschlossen, dass unselbstständiges Verhalten seitens der zu Pflegenden mit einer Zunahme an Unterstützung durch die Pflegekräfte verbunden war (Unterstützung und Stärkung von Selbstständigkeit). Auf der anderen Seite wurde den Beobachtungen zufolge selbstständiges Verhalten tendenziell eher ignoriert (Missachtung von Selbstständigkeit) (Baltes 1995, S. 165). Diese Verhaltensweise(n) wurden unter anderem aufgrund des theoretischen Rahmens, der diesen Untersuchungen zugrunde lag, als problematisch angesehen und ein Hauptgrund für dieses Verhalten seitens der Pflegekräfte wurde in der Manifestation negativer Stereotype gesehen. Das heißt, dass negative Vorstellungen bezüglich des Verlustes bestimmter Fähigkeiten im Alter auf Seiten der Pflegekräfte handlungsleitend waren und sich somit ein Unselbstständigkeitsunterstützungsskript ausbilden konnte (vgl. Baltes & Horgas 1997; Baltes 1996).

Auch Erlemeier und Kollegen (1997) haben sich mit dem Thema Altersbilder von Pflegekräften befasst, kamen aber nicht zu dem Schluss, dass die Studienteilnehmer generell negative Vorstellungen vom Alter(n) hatten. Im Zentrum dieser Studie stand die Verknüpfung der vorherrschenden Altersbilder mit der Qualität der erbrachten Pflege. Hierzu wurde ein Forschungsansatz gewählt, der sich weniger an der traditionellen Einstellungsforschung orientierte, sondern vielmehr über die Erfassung »sozialer Episoden« versuchte, den jeweils »individuellen« Kontext zur Grundlage zu machen. Im Einzelnen heißt das, dass über die Erfassung der subjektiv erlebten Pflegesituation eine Beurteilungsskala entwickelt wurde, die sich am Erfahrungshorizont der jeweiligen Pflegekräfte orientierte (Erlemeier et al. 1997, S. 208). Zum einen wird hier berichtet, dass das Verhalten bzw. die Persönlichkeitsstruktur der Bewohnerinnen erheblichen Einfluss auf die Differenziertheit der vorherrschenden Altersbilder hat. Zum anderen wurde festgestellt, dass die Differenziertheit der Altersbilder sich auf die Art der erbrachten Pflege auswirkte (Erlemeier et al. 1997, S. 211 ff).

Vergleicht man die Ergebnisse der Studie von Erlemeier und Kollegen (1997) mit denen von Margret Baltes und Kollegen (1996), so lässt sich feststellen, dass zwar in einzelnen Pflegesituationen ein tendenziell negatives Altersbild für die Art und Weise der Pflegeinteraktion verantwortlich sein kann, deswegen aber in keinem Falle auf ein generell negatives Altersbild geschlossen werden sollte. An dieser Stelle wird noch einmal deutlich, dass man im Rahmen dieses Themas sehr genau unterscheiden muss, auf welcher Ebene man argumentiert. So ist es zwar möglich, aufgrund konkreter Studien auf ein negatives Altersbild im jeweiligen Kontext zu schließen; man darf daraus jedoch nicht folgern, der gesamten Gruppe von Pflegekräften – gemessen am »gesellschaftlichen« Altersbild – negative Altersstereotype zuzuschreiben. Es muss also ganz klar zwischen der Einstellung gegenüber einzelnen Patienten oder Bewohnerinnen und Einstellungen gegenüber dem Alter(n) an sich unterschieden werden. Eine weitere Komponente bei der Beschreibung bzw. Erfassung der Altersbilder professioneller Pflegekräfte lässt sich in einer Studie von Walter und Kollegen (2006) finden. Auch hier konnte bei der Erfassung subjektiver Altersbilder auf der Basis episodischer Interviews kein grundsätzlich negatives Altersbild gefunden werden. Vielmehr zeigte sich, dass die Vorstellungen vom Alter meist mit Hochbetagten in Verbindung gebracht wurden und hierbei mehrheitlich negative Assoziationen mit dem körperlichen Zustand der betagten Menschen im Vordergrund standen (Walter et al. 2006, S. 92).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Aussage, Pflegekräfte hätten generell eine negative Einstellung gegenüber dem Alter(n) bzw. deren Einstellung sei grundsätzlich negativer als die der restlichen...