Aus Angst wird Mut - Grundlagen buddhistischer Psychologie

von: Thich Nhat Hanh

Arkana, 2015

ISBN: 9783899019391 , 288 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 16,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Aus Angst wird Mut - Grundlagen buddhistischer Psychologie


 

Einführung

Der vietnamesische Zenmeister Thuong Chieu (12. Jh.) sagte: »Wenn wir verstehen, wie unser Geist funktioniert, wird die Praxis einfach.« Das vorliegende Buch zur buddhistischen Psychologie soll helfen, die Arbeitsweise des Geistes zu verstehen, indem es die Natur des Bewusstseins begreifbar macht. Die Fünfzig Verse lassen sich als eine Art Straßenkarte für den Pfad der Praxis lesen. Der Buddha hat durch Meditation seinen eigenen Geist zutiefst verstehen können, und seit mehr als zweitausendfünfhundert Jahren arbeiten auch die, die seiner Lehre folgen, daran, sich so um ihren Körper und Geist zu kümmern, dass Transformation und Frieden möglich werden.

Die Fünfzig Verse beruhen auf den wichtigsten Strömungen buddhistischen Denkens in Indien, von den Abhidharma-Lehren des Pali-Kanon1 bis zu den späteren Mahayana-Lehren wie dem Avatamsaka-Sutra. Die Entwicklung der buddhistischen Philosophie und Lehre in Indien wird gemeinhin in drei Perioden unterteilt: Ursprungsbuddhismus, Buddhismus der Vielen Schulen und Mahayana-Buddhismus.2 Die Fünfzig Verse enthalten Elemente aus den Lehren aller drei Perioden.

Der Abhidharma (wörtlich »Besonderes Dharma«) ist ein Grundlagentext des Ursprungsbuddhismus. Einhundertvierzig Jahre nach dem Hinscheiden des Buddha, teilte sich die Sangha3 in zwei Strömungen, die Sthaviras4 und die Mahasanghikas. Dies war der Übergang zur Periode der Vielen Schulen, in der achtzehn oder zwanzig neue Schulen entstanden, in den meisten Fällen aufgrund unterschiedlicher Auffassungen über einzelne Punkte der Lehre.5 Aus den Sthaviras entstanden später zwei Unterschulen, die Sarvastivadins und die Sautrantikas. Der andere Hauptzweig des Buddhismus der vielen Schulen, die Mahasanghikas, bildete einen der Vorläufer der dritten großen Phase des Buddhismus in Indien, dem Mahayana (wörtlich »Großes Fahrzeug«).6

Während seiner Lebzeit war es der Buddha, der die Lehren lebte und verkörperte, aber nach seinem Tod blieb seinen Schülern die Aufgabe, seine Lehren zu systematisieren, damit sie auch in Zukunft studiert werden konnten. Der Abhidharma war die erste dieser Sammlungen, aber die Arbeit ging auch in den folgenden Jahrhunderten weiter, in denen sich die buddhistische Philosophie entwickelte. Im fünften Jahrhundert unserer Zeitrechnung verfasste Buddhaghosa ein für die Systematisierung äußerst wichtiges Werk, den Weg zur Reinheit (Visuddhi-Magga).7 Etwa zur gleichen Zeit erarbeitete der Mönchsgelehrte Vasubandhu eine Zusammenfassung und einen Kommentar der Lehren Buddhas unter dem Titel Schatz des Abhidharma (Abhidharma-kosha-bhashya).8

Vasubandhu studierte und praktizierte mit einer Reihe buddhistischer Schulen in der Gegend von Gandhara im heutigen Nordpakistan. Dann begab er sich nach Kaschmir, dem Zentrum der Sarvastivada-Schule (die zur Basis eines Großteils des frühen chinesischen Buddhismus wurde). Die Sarvastivadins gestatteten ausschließlich Kaschmiris, mit ihnen zu studieren und zu praktizieren. Vasubandhu verkleidete sich daher, um die Lehren hören zu können. Nachdem er seine Studien bei den Sarvastivadins abgeschlossen hatte, verfasste Vasubandhu sein Abhidharma-kosha-bhashya. Seine Lehrer erkannten, dass er ein großes Verständnis der Lehren ihrer Tradition erworben hatte, allerdings bemerkten sie nicht, dass das Abhidharma-kosha-bhashya auch Lehren der Sautrantika und anderer Schulen enthielt.

Vasubandhu hatte einen Halbbruder, Asanga, der ein verwirklichter Mönch des Mahayana-Buddhismus war. Dieser verfasste eine wichtige Abhandlung zum Abhidharma vom Standpunkt des Mahayana, das Mahayana-samgraha-shastra9. Asanga sprach mit Vasubandhu oft über die Bedeutung der Mahayana-Lehren; Vasubandhu jedoch blieb skeptisch. Er schätzte die Lehren und die Praxis der Mahayana-Schulen, war jedoch der Meinung, dass die späteren Entwicklungen, einschließlich des Mahayana, kein authentischer Buddhismus mehr seien. In einer Vollmondnacht dann, als Vasubandhu Gehmeditation übte, begegnete er Asanga, der an einem klaren Teich stehend Mahayana-Lehren rezitierte. Plötzlich erlebte Vasubandhu einen Durchbruch zu der Tiefe und Schönheit des Großen Fahrzeugs, und von diesem Zeitpunkt übten und lehrten die Brüder den Mahayana-Buddhismus gemeinsam.

Vasubandhu gilt als Patriarch und bedeutendster Vertreter der Vijnaptimatra- oder Nur-Manifestation-Schule, die aus der Yogacara-Schule des Mahayana hervorging.10 Er schrieb Kommentare über Asangas Werke und verfasste selbst zwei wichtige Abhandlungen in Versform zu den Lehren der Nur-Manifestation-Schule, das Vimshatika (Zwanzig Verse) und das Trimshika (Dreißig Verse).11

Aufgrund von Vasubandhus Training in den unterschiedlichen Traditionen hat sich die Nur-Manifestation-Schule aus dem Abhidharma der Sarvastivada-Schule und Vasubandhus eigenem Werk, dem Abhidharma-kosha-bhashya, das er noch vor seinem Kontakt mit dem Mahayana verfasste, entwickelt. Daher enthält die Nur-Manifestation-Schule viele Elemente nicht mahayanischen Ursprungs. Die Werke Vasubandhus haben dem Großen Fahrzeug tief und wirksam gedient, aber sie wurden niemals hundertprozentig Mahayana. Selbst zweihundert Jahre nach seiner Zeit galt die Nur-Manifestation-Schule noch als »Übergangsfahrzeug«.12

Im siebten Jahrhundert reiste der chinesische buddhistische Mönch Xuanzang (600–664), der auch der »Pilger« genannt wurde, nach Indien und besuchte die Universität von Nalanda, den Hauptsitz buddhistischer Studien. In seinen Reisechroniken aus Zentralasien und Indien beschreibt Xuanzang, dass zu seiner Zeit zehntausend Mönche in Nalanda studierten.13 Unter der Anleitung von Meister Shilabhadra studierte Xuanzang den Nur-Manifestation-Buddhismus. Shilabhadra, damals schon einhundert Jahre alt, war der Rektor von Nalanda und der letzte der berühmten »Doktoren« der Nur-Manifestation-Schule. (Vasubandhu war der erste, Sthiramati14 ein weiterer und Dharmapala, Shilabhadras eigener Lehrer, war der neunte.)

Im Vergleich der Werke Sthiramatis und Dharmapalas lässt sich ihr unterschiedlicher Zugang zur Nur-Manifestation deutlich erkennen. Der Originalkommentar Vasubandhus wurde zudem von Dignaga erweitert, indem er Elemente der Epistemologie und der Logik hinzufügte. Diese Mischung der Lehren studierte Xuanzang in Nalanda und später in China. Gegründet auf die Lehren von der Manifestation des Bewusstseins begründete er eine Schule, die Wei Shi (Nur-Bewusstsein) genannt wurde. Außerdem verfasste er einen Kommentar zu Vasubandhus Dreißig Versen mit dem Titel Standardverse über die Acht Formen des Bewusstseins 15. Xuanzang vertrat auch die Idee der »drei Bereiche« der Wahrnehmung, ein System, das die Qualitäten der Wahrnehmung in Bezug auf unterschiedliche Ebenen des Bewusstseins beschreibt. Er schrieb ein kurzes Gedicht über die drei Bereiche der Wahrnehmung, »Das Wesen des Wahrgenommenen-an-sich, wenn es nicht nach unserem Geist geht«, das in Kapitel Vierundzwanzig des vorliegenden Buches wiedergegeben ist.

Ein Jahrzehnt nach Xuanzang präsentierte der chinesische Mönch Fazang die Lehren der Nur-Manifestation auf eine ganz und gar dem Mahayana entsprechende Weise. Fazang war ein Student der Blumenschmuck-Lehrrede (Avatamsaka-Sutra) und sein wichtiges Werk Die Wunderbare Bedeutung des Avatamsaka16 nahm diese Lehren auf, besonders die Idee des »eins ist alles, alles ist eins«, um die Lehren der Nur-Manifestation zu bestätigen. Fazangs Bemühungen hatten allerdings keine langfristige Wirkung, und nach ihm hat niemand mehr die Arbeit fortgesetzt, die Nur-Manifestation-Lehren ganz im Sinne des Mahayana vorzustellen. Auch heute noch lesen Gelehrte und Praktizierende die Dreißig Verse, ohne sie als bedeutende Mahayana-Lehren zu erkennen.

Als Novize habe ich Vasubandhus Zwanzig und Dreißig Verse auf Chinesisch auswendig gelernt und studiert. Als ich in den Westen kam, erkannte ich, dass diese wichtigen Lehren buddhistischer Psychologie für die Menschen hier Türen zum Verständnis würden öffnen können. Also verfasste ich im Jahre 1990 die Fünfzig Verse, um die von Buddha, Vasubandhu, Sthiramati, Xuanzang, Fazang und anderen übertragenen kostbaren Juwelen zum Strahlen zu bringen. Nachdem Sie die Fünfzig Verse studiert haben, werden Sie die klassischen Werke dieser großen Meister besser verstehen können, und Sie werden erkennen, welches Werk die Grundlage für welchen der Fünfzig Verse ist.

Ich habe versucht, in diesem Buch die Lehren der Nur-Manifestation ganz im Sinne des Mahayana vorzustellen. Wenn Sie bei Ihrer Lektüre gelegentlich ein Wort oder einen Satz nicht verstehen sollten, dann bitte bemühen Sie sich nicht zu sehr. Lassen Sie die Lehren einfach in sich hineinfließen, so wie Sie vielleicht Musik hören oder wie die Erde sich vom Regen durchdringen lässt. Wenn Sie nur Ihren Intellekt gebrauchen, um diese Lehren zu studieren, dann ist das so, als...