Achtsam leben - wie geht das denn?

von: Thich Nhat Hanh

Arkana, 2014

ISBN: 9783899019377 , 144 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 12,99 EUR

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Achtsam leben - wie geht das denn?


 

 

Wie wir das Leiden überwinden können


 

Die Erste Edle Wahrheit des Buddha ist Leiden. Meine Frage ist, was ist der Ursprung des Leidens?

Die Erste Edle Wahrheit beschreibt das Vorhandensein von Leiden und diese Wahrheit sollte verstanden werden. Zunächst müssen wir erst einmal wahrnehmen, dass Leiden vorhanden ist. Leiden ist in dieser Person, deshalb lässt sie mich und andere Menschen leiden. Wir müssen feststellen, dass Leiden vorhanden ist. Bevor wir nicht akzeptieren, dass Leiden da ist, können wir nichts tun. Wahrzunehmen, das Leiden da ist, ist schon sehr hilfreich. Wir hören dann vielleicht auf, zu beschuldigen, zu diskutieren, denn wir wissen, dass die andere Person leidet.

Nun gehen wir zur Zweiten Edlen Wahrheit über. Wir stellen die Frage, wie dieses Leiden entstanden ist, was seine Wurzeln sind, seine Ursachen. Das ist die Zweite Edle Wahrheit. Wir müssen üben, tief zu schauen, um die Zweite Edle Wahrheit zu erkennen.

Nehmen wir an, wir haben eine Depression. Die Depression entspricht der ersten Edlen Wahrheit. Wir müssen akzeptieren, dass eine Depression da ist. Ich stelle fest, ich akzeptiere, dass eine Depression vorhanden ist. Ich leugne sie nicht und so habe ich die Möglichkeit die zweite Edle Wahrheit zu entdecken. Wir üben tiefes Schauen, um die Gründe, die Ursprünge dieses Leidens zu sehen. Wir haben vielleicht auf eine Art und Weise gelebt – vielleicht die letzten sechs Monate –, die es dieser Depression ermöglicht hat, zu entstehen. Die Art und Weise, wie ich lebe, wie ich gehe, wie ich konsumiere, die Art und Weise, wie ich kommuniziere – ich muss diese Elemente anschauen, um die Wurzeln meiner Depression zu finden.

Der Buddha hat oft über die Zweite Edle Wahrheit gesprochen und dabei Begriffe aus der Ernährung verwendet. Er sagte, dass nichts ohne Nahrung überleben könne. Unsere Liebe kann ohne Nahrung nicht überleben. Damit unsere Liebe weiter existieren kann, müssen wir fortfahren, sie zu nähren. Was ist die angemessene Nahrung für unsere Liebe? Das müssen wir herausfinden, sonst wird unsere Liebe sterben und in Hass umschlagen.

Auch unsere Depression braucht Nahrung, um weiter zu bestehen. Wir müssen tief schauen, um die Art der Nahrung zu erkennen, die wir zur Ernährung unserer Depression zu uns genommen haben. Wenn wir das herausgefunden haben, können wir einfach damit aufhören, sie weiter zu nähren, und unsere Depression wird nach ein paar Wochen verschwinden, denn sie kann nicht ohne Nahrung überleben. Das ist die Zweite Edle Wahrheit: die Ursprünge unserer Nahrung finden und ihre Zufuhr dann unterbrechen.

Deshalb hat der Buddha gesagt: Nichts kann ohne Nahrung überleben. Die Zweite Edle Wahrheit kann so unter dem Aspekt der Nahrungszufuhr gesehen werden. Leiden ist da, weil Sie es gefüttert haben. Sie haben vielen Nahrungsquellen erlaubt, es zu füttern. Wenn wir jetzt intensiv praktizieren, können wir die Quellen dieses Leidens identifizieren, ihre Zufuhr unterbrechen und das Leiden wird vergehen. Leiden kann aus Missverständnissen, Vorurteilen, Gier, Diskriminierung herrühren – wir müssen die Nahrungsquellen identifizieren und entschlossen ihre Zufuhr unterbrechen. Deswegen ist diese Feststellung, die der Buddha gemacht hat, sehr tiefgründig. Wenn Sie wissen, wie Sie tief in Ihre Probleme hineinschauen und die Nahrungsquellen identifizieren können, die sie haben entstehen lassen, dann sind Sie am Anfang des Pfades der Befreiung. Tief in das Leiden zu schauen und die Nahrungsquellen des Leidens zu identifizieren – das entspricht der Zweiten Edlen Wahrheit. Das führt zur Transformation des Leidens.

Lieber Thay,
verstrickt im Stacheldraht eines ethnischen Konfliktes, Unrecht auf beiden Seiten ausmachend, vom Wunsch geleitet, als Einzelperson wirkliche Veränderungen herbeizuführen, Änderungen auch in einer Staatsform, die dabei ist, Unterdrückung zu zementieren, möchte ich die Funktion von Neutralität, den Zweck des Nicht-Urteilens verstehen.

Die Lehre des Buddha beruht auf der Grundlage, dass Leiden vorhanden ist. Wenn es kein Leiden gäbe, bräuchten wir die Lehre und die Praxis nicht. Weil wir leiden, praktizieren wir – wir beschreiten den Pfad der Praxis. Wenn wir dem Leiden, der Wut und Verzweiflung erlauben, uns zu überwältigen, haben wir nicht genug Klarheit, um den Pfad zu sehen. Das Erste, was wir tun sollten, ist Ruhe und Heiterkeit zu entwickeln, damit wir den Pfad erkennen können. Dies kann auf einer individuellen Basis, es kann aber auch kollektiv geschehen. Es kann innerhalb eines begrenzten Gebietes geschehen, oder auch außerhalb, denn wir können überall Freunde haben, wenn wir sie als solche erkennen. Wir können um Hilfe bitten, und wir werden Freunde haben, die uns unterstützen. Es gibt viele Möglichkeiten, aber das Wichtigste ist, genügend Frieden und Ruhe in uns aufzubauen, damit wir den Weg sehen, damit wir sehen, was getan werden muss und was wir unterlassen sollten. Sie möchten oft gerne etwas tun, aber ohne diese Klarheit werden Sie die falschen Dinge tun, selbst wenn Sie guten Willen haben. Wir haben so während der Zeit des Krieges in Vietnam praktiziert. In dieser Zeit konnten wir mithelfen, viele Menschen, die in den Kriegszonen lebten, zu retten. Wir konnten mithelfen, Boat People aus dem Meer zu retten. Wir müssen ruhig und klar sein, um zu wissen, was getan werden muss. Wenn ein Boot auf dem Ozean in einen Sturm gerät, werden die meisten Menschen in Panik geraten und das Boot dadurch zum Kentern bringen. Alle werden ertrinken. Aber wenn es eine Person gibt, die genügend spirituelle Autorität hat, um den Leuten zu vermitteln, ruhig zu bleiben, ist das eine Chance. Wenn wir uns engagiert für den Frieden einsetzen, sollten wir diese Person sein. Wir müssen diese Person sein, die ruhig ist, die klar ist. Glauben Sie nicht, dass Aktion alles ist. Ruhe und Klarheit sind sehr wichtig. Es ist nicht einfach, in einem Krieg Ruhe und Klarheit zu bewahren. Deswegen müssen wir praktizieren. Und wenn wir wissen, dass es auch andere Menschen gibt, die praktizieren, im eigenen Land und außerhalb, werden wir mehr Stärke bekommen. Deswegen ist eine Sangha sehr wichtig und entscheidend für die Lösung von Problemen. Uns klar zu sein, dass wir leiden, zu erkennen, dass auch die andere Seite leidet, ist sehr wichtig. Wir vergessen gewöhnlich, dass auch die andere Seite leidet. Wir sehen die andere Gruppe meist nur als Ursache für unser Leiden, unser Elend. Viele Menschen denken so und es ist unsere Pflicht, sie daran zu erinnern, dass sie nicht die Einzigen sind, die leiden. Aus dem Leiden heraus können wir viel Leiden bei anderen hervorrufen.

Leiden wahrzunehmen und dann seine Ursache zu erkennen – das ist die Zweite Edle Wahrheit (die Erste ist das Vorhandensein des Leidens). Wenn wir tief in die Ursachen des Leidens schauen, können wir Ärger, Wut und Verzweiflung erkennen – nicht nur eine bestimmte Politik. Eine politische Richtung ist nicht wirklich unser Feind, sondern die Wut, der Hass, die Verzweiflung, die hinter dieser Politik steckt. Ein Politiker oder eine Politikerin in einer Führungsposition sollte einen spirituellen Führer oder eine Führerin neben sich haben.

Der Politiker kann zugleich auch ein spiritueller Führer sein. Er oder sie sollte den spirituellen Führer in sich tragen. In jedem von uns gibt es mindestens drei Persönlichkeiten: den Kämpfer, den Mönch und den Künstler. Das ist wichtig. Der Künstler kann die Frische, den Sinn des Lebens, die Freude verkörpern; der spirituelle Führer die Ruhe, die Klarheit, die tiefe Einsicht, und der Kämpfer ist der, der entschlossen voranschreitet. Wir sollten alle drei Persönlichkeiten in uns mobilisieren und keinen sterben oder zu schwach werden lassen. Wenn Sie Friedensaktivist, soziale Aktivistin, eine politische Führungsperson oder der Leiter einer Gemeinschaft sind, sollten Sie wissen, wie Sie diese drei Personen in sich kultivieren können. Sie sollten für die Menschen ausgleichend wirken.

Es gab Zeiten, da sah es so aus, als ob der Krieg in Vietnam niemals enden würde. Verzweiflung machte sich breit, besonders unter den jungen Leuten. Ich erinnere mich, dass die jungen Menschen zu mir kamen und fragten: »Thay, glaubst du, das der Krieg eines Tages aufhören wird?« Es sah damals nicht so aus, als ob der Krieg jemals enden würde, eher so, als ginge er bis in alle Ewigkeiten weiter. Es war sehr schwierig für mich, eine Antwort zu finden. Aber nach einigen Atemzügen konnte ich sagen: »Liebe Freunde, ihr wisst, dass alles vergänglich ist, auch der Krieg. Es ist nicht wichtig, eine Antwort auf diese Frage zu geben, es ist wichtig, ob wir in unserem täglichen Leben praktizieren, damit Mitgefühl überleben kann, damit Ruhe und Klarheit weiterhin vorhanden sind. Und wenn diese Dinge am Leben erhalten werden, muss es Hoffnung geben.« Der schlimmste Feind ist die Verzweiflung. Deshalb hören Sie nicht auf zu hoffen. Was unsere Hoffnung nährt, ist unsere Praxis. Unsere Praxis des Beruhigens und tiefen Schauens. Mit dieser Ruhe, dieser tiefen Einsicht, dieser Offenheit können wir wachsen. Wir können sowohl quantitativ als auch qualitativ wachsen. Es wird viele Menschen in unserem Land und auch anderswo geben, die mit uns sind. Es gibt so viele Menschen, die bereit...