Leben mit Hochsensibilität - Herausforderung und Gabe

von: Susan Marletta-Hart

Aurum Verlag, 2011

ISBN: 9783899015355 , 264 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 14,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Leben mit Hochsensibilität - Herausforderung und Gabe


 

Einleitung


Am selben Tag, an dem mir eine Kollegin ein Buch von Elaine Aron gab, erhielt ich von einem Psychotherapeuten einen Artikel über Hochsensibilität. „Auch so sensibel?“ stand dort in fetten Lettern, und weiter ging es mit: „Sind Ihnen Stress, Lärm und grelles Licht schnell zu viel? Haben Sie ein intensives Gefühlsleben, eine reiche Phantasie und lebhafte Träume? Spüren Sie regelmäßig das Bedürfnis, allein zu sein? Finden Sie ein ‚gewöhnliches‘ Arbeitsverhältnis und die Fahrt von und zur Arbeit ermüdend? Werden Sie leicht von der Stimmung, die jemand ausstrahlt, beeinflusst? Sind Sie manchmal grüblerisch oder depressiv? Wurden Sie schon einmal ‚schüchtern‘ oder ‚empfindlich‘ genannt?“ Ich war verblüfft – und auf der Stelle interessiert.

Zu diesem Zeitpunkt war ich schon eine Weile dabei, mich bewusst weiterzuentwickeln – im Streben nach mehr Selbstsicherheit und Glück. Was ich an diesem Tag an Informationen zur Hochsensibilität bekam, schien mir vieles auf den Punkt zu bringen – und es berührte mich zutiefst. Es waren Erkenntnisse der amerikanischen Wissenschaftlerin, klinischen Psychologin und jungianischen Psychotherapeutin Elaine Aron. Nach ihren Untersuchungen ist Hochsensibilität eine Eigenschaft von 15 bis 20 Prozent aller Menschen und Tiere. Diese werden „zarter besaitet“ geboren, ihr Nervenapparat nimmt mehr Details wahr und Reize werden intensiver und umfassender verarbeitet.

Ein hochsensibler Mensch kann so stark in eine Erfahrung oder eine Beziehung zu einem anderen Menschen eintauchen, dass er sich darin verliert. So stark, dass es unerträglich wird. Jede Emotion wird intensiv gespürt; die kleinste Unstimmigkeit wird wahrgenommen. Hochsensibel zu sein ist sowohl aufreibend als auch bereichernd, beängstigend als auch spannend, verbindend als auch trennend. Weil ein Hochsensibler so viel sieht, hört, riecht, schmeckt und vor allem fühlt, wird er schneller von etwas gefesselt und ermüdet auch schneller.

Seit meiner ersten Bekanntschaft mit dem Begriff bedeutet „Hochsensibilität“ für mich so etwas wie „zusätzliche Möglichkeiten“. Nicht nur, dass sich mir dadurch auf dem beruflichen Gebiet neue Wege eröffneten, ich sah vor allem ganz persönlich die Chance, ausgeglichener und glücklicher zu werden. Hochsensibilität bietet meiner Meinung nach vor allem die Möglichkeit eines besseren Zugangs zu verborgenen Schätzen der Weisheit. Für mich bedeutet dies die tiefe Erfahrung von Gesundheit und Glück. Wer hochsensibel ist, will oft anhalten, wenn der Rest der Welt beschleunigt, will Besinnung, wenn andere blind auf Gewinnmaximierung aus sind, will der Stille lauschen, wenn andere nicht schweigen können. Diese Haltung birgt die Chance, die tiefen Wahrheiten und Geheimnisse des Lebens, zumindest einige, zu ergründen. Denn dazu muss ein Mensch fähig sein – sich einzufühlen und einzuleben in das, was er noch nicht kennt. Hochsensible Menschen haben diese Anlage – und darin liegt ihre Chance auf Gesundheit und Glück.

Heute ist Hochsensibilität für mich kein Problem mehr. Seitdem ich dieses Phänomen das erste Mal verstanden habe, ist es zu einer Kraft geworden, die ich in verschiedenen Lebensbereichen bewusst einsetze. Diese Kraft möchte ich mit meinen Lesern teilen. Hochsensibilität mag anfangs als große Herausforderung erscheinen – doch sie kann für jeden zur Gabe werden.

Mir ist bewusst, welches Risiko ich eingehe, ein Buch für hochsensible Menschen zu schreiben. Die größte Gefahr ist die Stigmatisierung dieser Menschen: Man beschreibt bestimmte Kennzeichen und ermöglicht so die Eingruppierung von Menschen nach gewissen Kriterien. Natürlich wird es Menschen geben, die einer solchen Eingruppierung mehr als skeptisch gegenüberstehen und sich heftig gegen Verallgemeinerungen wehren. Diese Gefahr ist ja auch gegeben: Während die Unterschiede zwischen Menschen, wenn es sich um Haut- und Haarfarbe, Körperform und -größe usw. handelt, offensichtlich sind, taucht doch stets die Erwartung auf, dass Gefühle und Empfindungen im Grunde gleich seien. Solch eine Erwartung ist fatal, besonders wenn man sich ihrer nicht bewusst ist. Hochsensible Menschen haben nicht nur Gemeinsamkeiten – sondern mindestens ebenso viel, worin sie sich unterscheiden.

Dennoch hoffe ich, ein Buch zu diesem Thema ist willkommen. Ich habe bemerkt, dass die meisten Hochsensiblen es nicht so wichtig finden, einer Gruppe anzugehören, sondern vor allem Wert auf das legen, was damit zusammen hängt: akzeptiert zu werden, wie sie im Wesen sind. Das Erkennen der eigenen Hochsensibilität ist für viele, die es mir beschrieben, eine Form von Nach-Hause-Kommen. Zum ersten Mal spüren sie ein – nie zuvor gekanntes – Gefühl von Sinnhaftigkeit und Bedeutung. Lose Puzzleteile finden nun einen sinnvollen Zusammenhang; darin kann eine elementare Daseinsberechtigung liegen. Viele hochsensible Menschen haben sich lange danach gesehnt. Sie erleben dieses Nach-Hause-Kommen wie eine Katharsis.

Zum Nach-Hause-Kommen gehört auch das Gefühl des Zusammenströmens – mit jenem großen Strom, der das Leben selbst ist. Dazu gehört, sich nicht mehr als das Hindernis zu erleben, das sich selbst und anderen im Wege steht, sondern fortan die kostbare, ja nahezu heilige Kontinuität seiner selbst und der Welt zu erfahren – mit seiner Eigenart Anschluss an das größere Ganze finden. Die eigene Erfahrung wird wertvoll. Man kann beginnen, an jenem Haus zu bauen, welches man sein Zuhause nennen wird. Für viele ist die Erkenntnis der eigenen Hochsensibilität ein Ausgangspunkt für Heilung, für das Heilen alter Brüche, das Beheben jener Schäden, die man sich selbst durch Unkenntnis und Unverstand zufügte.

Das Werk der Pionierin Elaine Aron wird von vielen wertgeschätzt. Ich denke, hochsensible Menschen in aller Welt sind ihr zutiefst dankbar für das, was sie in Gang brachte, für die Erkenntnisse, die sie sammelte, und die Untersuchungen, die sie durchführte, und dass sie dies bereitwillig mit dem Rest der Welt teilte. Ich schulde ihr Dank, denn ich baue auf ihren Einsichten auf.

Im Unterschied zu Elaine Aron betone ich in meinem Buch indes die eigene Körpererfahrung, und zwar aus taoistischer und zen-buddhistischer Sicht. Darin wurde ich geschult. Ich habe am eigenen Leib erfahren, wie heilend es ist, über den Körper zu emotionaler und geistiger Gesundheit zu gelangen. Erdung, Gleichgewicht und Ruhe sind dabei Schlüsselworte. Durch Erdung und das Finden von Gleichgewicht und Ruhe lernte ich einen Seinszustand kennen, der meine Hochsensibilität kanalisierte und zur Gabe machte. Ich lernte, dass in der Einheit von Körper, Geist und Seele das Potential zur Gesundheit liegt.

Im Rahmen meiner Tätigkeit als Masseurin und Shiatsu-Therapeutin fiel mir auf, dass viele Menschen, auch Hochsensible, verhältnismäßig unbewusst und unwissend mit ihrem Körper umgehen. Die Probleme, die sich ihnen stellen – wie beispielsweise Wohlstandskrankheiten – entstehen durch das Unvermögen, den Signalen des Körpers zu lauschen, kombiniert mit der Weigerung, Verantwortung zu übernehmen. Ich staune darüber immer wieder: Die meisten Menschen betrachten ihren Körper wie einen Gebrauchsgegenstand, wie einen Wagen, der schlicht zu funktionieren hat. Wenn der Körper nicht mehr funktioniert, wird er einem Arzt ausgeliefert, der an ihm herumschneiden und herumdoktern darf, in der Hoffnung, der Motor möge bald wieder laufen… Die meisten Menschen gehen distanziert, unachtsam und geringschätzig mit ihrem Körper um.

Hochsensible Menschen wissen zwar häufig, dass eine andere Haltung besser wäre – doch sie beherrschen diese ungenügend, da sie ihnen nicht beigebracht wurde. Hochsensible sind vielfach sehr gut im Erspüren dessen, was andere benötigen; doch gleichzeitig tendieren sie dazu, ihre eigenen Bedürfnisse zu vernachlässigen. Das ist ein typisches Problem: Bei vielen Hochsensiblen fand ich eine schlechte Verbindung zum eigenen Körper und zur Erde, zusammen mit einem ungenügenden Gefühl für Abgrenzung.

Das Wissen um Gesundheit und Glück, um Ausgeglichenheit und das Einfach-Da-Sein kann man nicht lernen, sondern muss man zutiefst erfahren. Ich hatte in meinem Leben das Glück, eine Lehrmeisterin zu treffen, Joyce Vlaarkamp, die mit ihrer ganzen Existenz Zen ausstrahlte. Sie lehrte vor allem durch ihr lebendes Beispiel, dass das Wissen um das Wohlbefinden nicht durch unser Denken zustande kommt, sondern durch Erfahrung. Um ein Beispiel zu geben: Bei der Shiatsu-Ausbildung sind die Meridiane die Basis der technischen Kenntnisse; das ist unumgänglicher Lernstoff. In vielen Ausbildungskursen, die ich in den Niederlanden und der Schweiz besuchte, lernten die Teilnehmer von der ersten Stunde an eifrig den Verlauf dieser Bahnen auswendig. Meine Ausbilderin hingegen ging anders vor. Sie präsentierte den Verlauf der Meridiane nicht als theoretischen Lehrstoff, sondern als etwas, dessen Wesen tief gefühlt werden sollte. Sie...