PSYCHOLOGIE - Der Mensch auf der Suche nach seiner Identität. - Bd. 2 Architektur der Psyche - Geist und Wissen

PSYCHOLOGIE - Der Mensch auf der Suche nach seiner Identität. - Bd. 2 Architektur der Psyche - Geist und Wissen

von: Horst Kaemmerling

Horst Kaemmerling, 2015

ISBN: 9783956904752 , 425 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

PSYCHOLOGIE - Der Mensch auf der Suche nach seiner Identität. - Bd. 2 Architektur der Psyche - Geist und Wissen


 

2. Das rechtskortikale System des Fühlens: Das Handeln aus dem Bauch

Wie verändern nun diese großen Datenbanken das Wesen des Menschen? Beginnen wir mit der rechten Hemisphäre. Dieses System des Fühlens ist lange unterschätzt worden - neben dem strahlend transparenten Verstand. Doch hier finden jene komplexen Intelligenzleistungen statt, über die wir z.B. unsere motivationalen Leitlinien entwickeln und Systeme verstehen können. Jeder Mensch lebt seinen eigenen Lebensweg und schafft sich dabei seine persönliche Identität. Das ist mehr als das bewusste Wissen über sich selbst. Wir ahnen und fühlen oft mehr, wer wir sind, als dass wir es wissen. Gleichzeitig bewegen wir uns erfolgreich in hochkomplexen Welten, die eigentlich nicht durchschaubar sind. Die Sprache unterscheidet gerne zwischen dem engeren Verstand und der komplexeren Vernunft. Kant hat diesen Unterschied dann systematisch genutzt und präzisiert. Der Verstand unterscheidet und wendet Regeln an. Die Vernunft versteht die Regeln und sieht ihre Zusammenhänge. Wenden wir uns nun der Vernunft zu.

2.1 Das biografische, implizite oder Extensionsgedächtnis

Die normalste Form, Informationen aufzunehmen, ist, zu leben und Erfahrungen zu machen. Vermutlich hat der Mensch zunächst einfach dadurch gelernt, dass er gelebt hat. Da war keine Absicht da, ich muss mir dies hier einprägen. Die Tage sind vergangen und mit den Tagen kamen Ereignisse, die unterschiedlich intensiv im Gedächtnis haften blieben. Dies Lernen nennt man implizites (beiläufiges) Lernen, bzw. es ist das implizite oder biografische Gedächtnis, das hier aufgebaut wird. (Hier entfernen wir uns etwas vom Sprachgebrauch, wie ihn Roth und Prinz benutzt haben. Implizit wird dortnur auf den Bereich des automatisierten Wahrnehmens, Erkennens und Handelns angewandt. Das heißt auf automatisierte Bewegungen, auf unsere Gefühle, auf Wahrnehmungsdetektoren usw. Zunächst ist das wohl auch sinnvoll, da hier kaum Transparenz vorhanden ist. Das rechstkortikale System des Fühlens wird entsprechend als episodisches Wissen zum deklarativen Wissen hinzugerechnet. Dabei geht dann allerdings der Unterschied zwischen diesem und den linkskortikalen Systemen verloren. Ich will auf diese Unterschiede nur aufmerksam machen. Sie werden später verständlich werden.)

Dieses Einprägen von Erlebnissen setzt umfangreichere Prozesse voraus als das Konditionieren, wie wir es früher kennen gelernt haben. Beim Konditionieren werden einzelne Reizkonstellationen und Verhaltens- oder Reaktionsmuster nach mehrmaliger Paarung aneinander gekoppelt. Jetzt geht es darum, Situationen, selbst wenn sie nur einmal aufgetreten sind, in ihrer Bedeutung zu erkennen und unserem biografischen Gedächtnis einzuverleiben. Jeder Tag enthält viele Erlebnisse, die aufzunehmen und zu verarbeiten sind. Sie können aber nicht, wie bei der Konditionierung, so oft erlebt werden, bis man sie sich eingeprägt hat. Zudem enthält jedes Erlebnis nicht nur einen Schlüsselreiz wie den Pawlow’schen Glockenton, sondern einen Raum mit seinen Personen und Dingen und einen Zeitabschnitt mit einem emotionalen und motivationalen Erleben, dem dazugehörigen Körperempfinden sowie den begleitenden Gedanken und Deutungen. Wie kann soviel nach nur einmaliger oder wenigen Wiederholungen dauerhaft eingespeichert werden? Der Schlüssel ist das limbische System. Im Thalamus wird diese Integration von Sinnes- und Körperdaten zu einem zusammenhängenden Eindruck geleistet. Im Hippocampus wird dieser Eindruck dann motivational aufgenommen. Von hier aus kann er dann in die großen Assoziationsfelder unseres biografischen Gedächtnisses eingespeist werden. Hierfür werden vor allem rechtskortikale Felder benutzt. Der Hippocampus ist eine Art Zwischenspeicher. Er speichert Erinnerungen und wartet auf Ruhephasen, in denen vom Hippocampus Erlebnisse immer wieder an das Großhirn geschickt werden, bis sie dort verankert und vernetzt sind.

Dass der Hippocampus eine solche zentrale Rolle spielt, weiß man aus der Beobachtung von Verletzten. Ist der Hippocampus verletzt oder fällt er gar aus, so fällt auch diese Form der Langzeitspeicherung aus. Neue Erlebnisse werden nicht mehr erinnert. Die Zeit bleibt im Extremfall für einen solchen Menschen stehen. Er lernt von nun an nichts mehr an bewusst zugänglichem Material hinzu. Lediglich einige prozessuale Lernfunktionen, wie motorische Fertigkeiten, Konditionierungen und auch logische Denkstrukturen, können sich weiter verbessern. Aber den Menschen, der sich gestern vorgestellt hat, muss er jeden Tag neu kennen lernen. Den freundlichen Pfleger kann er auf die Dauer vom unfreundlichen unterscheiden. Das prägt sich über Konditionierung, nicht über den Hippocampus ein. Parallel entsteht eine Unfähigkeit, belangvolle Entscheidungen zu fällen. Nicht ganz so radikal wirken die diencephalen Amnesien. Hierzu gehört z.B. auch das Korsakow-Syndrom. Dabei werden die relevanten Strukturen des Zwischenhirns und des limbischen Systems nicht zerstört aber durch toxische Stoffe nachhaltig geschwächt. (Kerngebiete des Thalamus, insbesondere Nucleus ventralis, Nucleus medialis und Pulvinar. Dann vom limbischen System das Corpus mamillare, die Endabschnitte der Fornix, aber auch Verbindungen des Thalamus zum basalen Vorderhirn (nach Sturm und Willmes). Lernen ist nicht mehr völlig unmöglich, aber es erfolgt langsam und schwerfällig.

Der Hippocampus hat also eine zentrale Bedeutung für unser Erlebnisgedächtnis. Er speichert kurzfristig komplexe Erlebnisse und füttert sie dann in die großen Gedächtnisspeicher unseres biografischen Gedächtnisses ein. Diese Speicherung ist ein komplizierter Vorgang. Denn natürlich reicht es nicht aus, Erinnerungen in einer Art Tagebuch kalendarisch abzuspeichern. Was hätte das Individuum davon? Die Lebenserinnerungen dienen nicht dazu, sich an seinem eigenen interessanten Lebenslauf zu erfreuen, sie sind aus einem ganz anderen Grund wertvoll. Sie enthalten Erfahrung. Wissen, wie soziale Systeme funktionieren. Wissen, wie eine Familie tickt. Wissen, wie die Natur arbeitet. Derartiges Lebens- und Systemverstehen ist für das Überleben in komplexen Systemen ein unschätzbarer Vorteil. Der Begriff „biografisches Gedächtnis“ führt daher in die Irre. Es geht nicht um eine Chronologie, sondern um ein immer besseres Selbst- und Weltverständnis. Wenn die Mutter schimpft, ist es wichtig, diese Erfahrung festzuhalten. Das Schimpfen und den Zusammenhang, in dem das Schimpfen stattfand. So lernt ein Kind, mit seiner Mutter auszukommen. Und darüber lernt es, wie Menschen generell funktionieren und was man im Zusammenleben mit ihnen beachten muss. Es lernt etwas über das System Familie, es lernt etwas über sich, und über die Person Mutter.

Erfahrungen führen zunächst zu Fallsammlungen. Damit aus Fallsammlungen ein vertieftes Systemwissen wird, müssen Ereignisse miteinander verglichen und gemeinsame Strukturen herausgearbeitet werden. Ereignisse werden dazu durch ihre zeitlich-räumliche Nachbarschaft und noch mehr durch ihre affektmotorische Ähnlichkeit miteinander verbunden. Ein Ereignis hat ja eine Bedeutung für mich. Diese Bedeutung drückt sich in einer Emotion und damit auch in einer Körperhaltung aus. Ereignisse, die von gleichen Gefühlen und Haltungen begleitet werden, gehören auch inhaltlich zusammen. Das sind dann Gruppen von Erfahrungen, die miteinander integriert werden können. In einem solchen Bereich können Erfahrungen und Verhaltensmuster miteinander verknüpft werden. So gibt es Bereiche der Verteidigung, der Beziehungsgestaltung, der Trauerbearbeitung usw. Unseren Gefühlen kommt also beim Aufbau unseres Weltwissens eine ordnende Schlüsselrolle zu. Was dabei entsteht, ist auf der einen Seite ein zunehmend differenzierter werdendes Modell einer Umwelt und auf der anderen Seite ein zunehmend sichereres Gefühl für das eigene Selbst. Ein Kind behält also nicht einfach eine Folge von Familienereignissen, sondern entwickelt ein Systemverstehen seiner Familie, das es ihm ermöglicht, sich in den vielen Interaktionsmustern der Familienangehörigen zurechtzufinden. Ein Kind verinnerlicht so, darüber hinausgehend, soziale Muster, die ihm sagen können, wie Gemeinschaft überhaupt funktioniert. Es legt damit die Grundlage für sein Sozialverstehen und -verhalten. Diese Integration ist ein ständiger Prozess, an dem auch die Traumarbeit beteiligt ist. Denn der Schlaf ist die wohl wichtigste Phase der Interaktion zwischen Hippocampus und den Langzeitspeichern. Hier werden Tageserlebnisse, aktuelle Lebensthemen und kindliche Erfahrungen miteinander vernetzt. Eine Figur kann gleichzeitig, wie der Vater aussehen und wie ein Nachbar. So entstehen Brücken zwischen den Lebenszeiten. Freud hatte also recht damit, als er den Traum als den Königsweg ins Unbewusste begriff. Während wir im Wachzustand das sozusagen fertige realitätsbezogene Systemwissen verwenden, können wir im Traum die assoziativen Verknüpfungen verfolgen, die diesem Systemwissen zu Grunde liegen. Dass Freud dabei vor allem von verdrängten Inhalten ausging, hat mit seiner...