Racheherbst - Thriller

von: Andreas Gruber

Goldmann, 2015

ISBN: 9783641153113 , 528 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 10,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Racheherbst - Thriller


 

PROLOG

Die Musik in der Bar war viel zu laut. Carla musste sich zu Jo herüberbeugen, damit sie überhaupt etwas verstand.

»Kommst du noch mit zu mir?«, fragte er.

Das ist der Moment, in dem sich alles entscheidet.

Sollte sie sich zieren oder nicht? Jo war fünfzig Jahre alt – knapp doppelt so alt wie sie – und stand bestimmt nicht auf Frauen, die nicht wussten, was sie wollten. Andererseits sollte er auch nicht den Eindruck bekommen, dass sie gleich mit jedem nach dem dritten Date ins Bett stieg. Allerdings war er auch nicht jeder. Eigentlich hieß er Johannes, war Chirurg am Wiener Allgemeinen Krankenhaus, äußerst durchtrainiert, weil er jedes Jahr beim Wien-Marathon mitlief, und sah mit seinem braun gebrannten Teint und dem grau melierten Haar wie ein Schauspieler aus.

Aber für Carla war das Wichtigste, dass Jo nach diesem Treffen seinen Internet-Account bei der Partnerbörse Sie sucht Ihn, Alt sucht Jung stilllegen würde. Diesen Mann würde sie nicht mehr so leicht vom Haken lassen.

»Gerne«, antwortete sie. »Hier ist es mir ohnehin zu laut, und der Rauch brennt schon in den Augen.«

Jo zwinkerte ihr zu. Er war nämlich Nichtraucher, also hatte Carla sich das Rauchen vor zwei Stunden abgewöhnt. Er zahlte, reichte ihr den Arm, sie hakte sich unter und ließ sich von ihm aus der Bar führen.

Samstagabend, kurz nach elf Uhr war die Wiener Innenstadt immer noch belebt. Obwohl es Ende Oktober war, wehte eine laue Brise durch die Nacht. Studenten und Touristen drängelten sich mit Zigaretten in der Hand unter den Heizkanonen vor den Lokalen und unterhielten sich. Dumpfe Bässe drangen aus den Bars.

Jo führte Carla durch die Menschenmenge, und schon bald spazierten sie durch eine einsame Seitengasse.

»Mir ist ein bisschen kalt.«

Kommentarlos legte Jo den Arm um ihre Schulter, und sie schmiegte sich an ihn. Die Stimmung war einfach perfekt. Jo trug keinen Ehering, es zeichnete sich nicht mal ein heller Strich auf der gebräunten Haut seines Fingers ab. Wie er Carla erzählt hatte, war seine Frau vor zehn Jahren gestorben. Kinder hatten sie keine gehabt, und so lebte er seitdem allein. Weil er einfach noch nicht die Richtige gefunden hatte. Es war eben verdammt schwierig, den richtigen Partner zu finden – damit hatte sie Erfahrung.

Sie hatte erst kürzlich einen Mann im Internet kennengelernt, und auch der hatte sie nach dem dritten Treffen zu sich nach Hause eingeladen. Tolle Wohnung, Toplage im ersten Bezirk – aber der Kerl war eine Enttäuschung gewesen. Jo hingegen war gebildet, zuvorkommend, hatte Manieren und ging nicht gleich mit der Brechstange auf sie los, um sie ins Bett zu kriegen. Er würde ihr sicher zunächst aus seiner Hausbar einen Drink mixen, sie dann auf den Balkon führen und sich mit ihr unter eine Decke auf die Korbstühle kuscheln, um über das Leben und ihre Träume zu philosophieren. Sie liebte solche Männer.

Sie kamen an einer Litfaßsäule vorbei und gingen in eine schmale Seitengasse. Carla kannte die Gegend und auch das aufgelassene Kino, in dessen Schaufenster vergilbte Filmplakate hingen. Die Leuchtreklame war schon lange außer Betrieb. Zu Vermieten stand in breiten Lettern auf einer Scheibe.

Jo schlug exakt denselben Weg ein, den Carla vor ein paar Tagen schon einmal gegangen war. Sie hielten vor einem Torbogen, und Jo kramte einen Schlüsselbund aus dem Mantel.

Carlas Körper verspannte sich. Sie blickte sich um. »Hier wohnst du?«

»Ich weiß, keine besonders belebte Gegend, aber ich mag es ruhig.«

Ja, hier ist es ruhig. Und ich kenne dieses Haus.

Die Beleuchtung im Treppenhaus ging automatisch an, und Jo führte sie am Abstellplatz für Fahrräder und Kinderwagen vorbei. Er holte den Fahrstuhl.

In genau diesem Gebäude wohnte auch der Typ, mit dem sie sich erst vor ein paar Tagen getroffen hatte. Hoffentlich lief sie ihm jetzt nicht über den Weg – immerhin hatte sie ihn ziemlich ruppig abserviert, als sie dahintergekommen war, dass er beim Alter geschwindelt und ihr einen falschen Namen genannt hatte. Aber es war halb zwölf Uhr nachts, und da wäre es schon ein verdammter Zufall, wenn Hans im Treppenhaus gerade aus dem Fahrstuhl steigen würde, während sie mit Jo auf die Kabine wartete.

Das Licht an der Decke flackerte, dann ging es ganz aus.

Jo seufzte. »Die Lampe ist seit einer Woche kaputt.«

»Ja«, murmelte sie.

Aber eines Tages würden sie sich begegnen – keine Frage. Wie sollte sie das auch verhindern? Mann, wie peinlich wäre das! Sie hatte Jo gesagt, dass sie erst seit Kurzem einen Account bei dieser Partnerbörse besitze und er der erste Mann sei, mit dem sie sich getroffen habe. Hoffentlich hielt Hans die Klappe – er war garantiert nicht daran interessiert, dass seine Nachbarn von dem Treffen mit ihr erfuhren.

»Du wirkst etwas angespannt«, stellte Jo fest. »Ist es dir lieber, wenn ich dich nach Hause bringe? Wir könnten uns …«

»Nein, ist schon okay.« Sie lächelte. »Ich kenne jemanden, der hier gelebt hat. Keine schöne Erinnerung«, log sie.

»Das tut mir leid. Aber du musst dir keine Sorgen machen, in diesem Haus wohnen lauter nette Menschen.«

bis auf Hans.

Das blecherne Rattern des näher kommenden Fahrstuhls und die dunkelrote Farbe an den Wänden waren ihr noch lebhaft in Erinnerung.

Verflucht!

In ihrem Kopf liefen alle möglichen Versionen einer Geschichte ab, die sie Jo auftischen konnte, um zu erklären, woher sie seinen Nachbarn kannte. Aber alle klangen dämlich. Am besten war, so rasch wie möglich mit der Wahrheit herauszurücken und zuzugeben, dass sie bereits seit zwei Jahren Mitglied bei dieser Partnerbörse war. Und dann? Zugeben, dass sie sich mit bisher zwei Dutzend Männern getroffen hatte – manchmal sogar mit zweien gleichzeitig –, immer auf der Suche nach einem reichen Kerl, der gut aussah und ihr das Architekturstudium finanzierte? Ja genau. Guter Plan, Carla.

Sie traten in die Kabine, und Jo drückte auf den Knopf für den vierten Stock.

Das oberste Stockwerk!

Carla wurde übel. Wie viele Wohnungen gab es dort? Zwei, soviel sie sich erinnerte. Jo wohnte also Tür an Tür mit ihrem ehemaligen Date aus der Partnerbörse.

»Wie lange wohnst du schon in diesem Haus?«, fragte sie.

Der Lift ratterte nach oben.

Jo ließ den Schlüsselbund um den Finger kreisen. »Seit zwei Jahren. Die Miete ist günstig für eine Hundertzehn-Quadratmeter-Wohnung, und du wirst die Aussicht lieben. Von der Dachterrasse siehst du den Stephansdom.«

Ich kenne diese Aussicht bereits.

Die Fahrstuhltür öffnete sich, und Jo führte sie durch einen Gang zu einer Wohnungstür, an der ein Schild unter der Türklingel hing.

Johannes.

Das war ja klar. Mein Gott, wie dumm war sie gewesen? Es ist dieselbe Wohnung! Hier hatte vor ein paar Tagen noch Hans gewohnt – heute wohnte Jo darin. Wollt ihr mich verarschen? Er sperrte die Tür auf und machte das Licht an. Sie sah den dunkelroten Läufer, die Gemälde an den Wänden, die Mahagonikommode und den Schuhschrank. Das alles kannte sie.

»Komm doch herein!«

»Ich …« Etwas in ihr sträubte sich, die Wohnung zu betreten. Andererseits wollte sie unbedingt herausfinden, was hier gespielt wurde.

»Komm, ich mach uns etwas zu trinken.« Er zog sie sanft ins Vorzimmer.

Carla versuchte, sich ihre Fassungslosigkeit nicht anmerken zu lassen. »Wohnst du allein?«

Er schmunzelte. »Klar.«

Was für eine miese Nummer läuft hier eigentlich?

Jo half ihr aus dem Mantel.

»Ich meine, hast du einen Bruder?«

Was für eine blöde Frage! Hans hatte Jo vielleicht von ihr erzählt. Wollten die beiden Männer sie reinlegen? Nein, unmöglich. Es war bloß ein unglaublicher Zufall, dass sie hier war. Immerhin hatte sie Kontakt zu Jo aufgenommen, nicht umgekehrt.

»Nein, wie kommst du darauf? Sieht es danach aus?«

Sie fuhr mit dem Finger über das Holz der Kommode und bemerkte, wie ihre Hand zitterte. »Es ist alles so sauber.«

»Ich habe eine Putzfrau, die einmal pro Woche kommt.«

und danach borgst du deine Wohnung einem Freund, damit er Frauen abschleppen kann.

»Nimm auf der Couch Platz. Ich mache uns Drinks, in Ordnung?«

Danke, ich kenne den Weg.

»Einen Margarita-Cocktail, falls du den im Haus hast.«

»Ja, den habe ich.«

Ich weiß!

Carla ging ins Wohnzimmer. Sie wusste, wo sich der Lichtschalter befand, drehte das gedimmte Licht heller. Neben afrikanischen Masken hingen moderne Gemälde an der Wand, ein antiker Säbel und ein am Griff signierter Golfschläger. Doch an jener Stelle über dem Piano und der modernen Hi-Fi-Anlage, wo vor einer Woche noch gerahmte Fotos von Hans gehangen hatten, hingen nun Bilder von Jo. Mit klopfendem Herzen betrachtete sie die Fotos. In welchem Verhältnis standen die beiden Männer zueinander?

Sie hörte, wie Jo in der Küche Schränke öffnete und mit Gläsern hantierte. Hastig zog sie im Wohnzimmer einige Schubladen auf und hoffte, dass das Holz nicht quietschte. Sie kramte durch Tischdecken, Kerzen, Aschenbecher, Spielkartensets … und stieß auf gerahmte Fotos von Hans. Das darf doch nicht wahr sein! Sie...