Der Himmel so weit - Vom selbstbestimmten Sterben der Monika Prause. Ihre Familie erzählt

von: Volker Prause, Sabine Eichhorst

Ludwig, 2015

ISBN: 9783641162719 , 240 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 16,99 EUR

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Der Himmel so weit - Vom selbstbestimmten Sterben der Monika Prause. Ihre Familie erzählt


 

1

Volker Prause

»Aua.« Meine Frau fährt sich mit der Hand in den Rücken. Mit der anderen hält sie den Lenker ihres roten Fahrrads, das bedrohlich schwankt. Hinter ihr fällt das Gartentor zu.

»Was ist?« Ich stütze das Rad und nehme den schweren Einkaufskorb vom Gepäckträger. »Hast du es im Kreuz?« Eine Amsel stürzt aus den Zweigen der Birke, die vom Nachbargrundstück herüberragt, und flattert über uns hinweg, so dicht, dass ich das Geräusch ihres Flügelschlags höre. Über der Straße zieht sie einen Halbkreis und landet auf dem Dachfirst des Hauses gegenüber.

»Ich weiß nicht.« Monis Fuß tastet nach dem Fahrradständer. »Als ich unten in der Stadt losfahren wollte, hat es angefangen zu regnen, also habe ich den Bus genommen. Beim Aussteigen habe ich das Rad aus dem Bus gehoben und plötzlich hat es geknackt. Seitdem tut es weh.«

»Vielleicht eine Muskelzerrung.« Ich stelle den Korb ab und helfe ihr, das Fahrrad in die Garage zu schieben. Der kurze heftige Schauer vor einer Stunde hat die prallen Knospen des Rhododendrons zum Glänzen gebracht, und die Erde, die sich in den vergangenen, unerwartet milden Tagen, aufgewärmt hat, scheint zu dampfen. »Ich werde dich massieren.«

»Oh, das ist lieb.« Sie lässt ihre Hand sinken. In ihrem Blick liegen Erschöpfung und Zärtlichkeit. Die Amsel auf dem Dach gegenüber singt, eine helle, fröhliche Melodie. Eine andere Amsel, die ich nicht sehe, antwortet. Scharf und klar hebt sich der schwarze Vogelkörper vor dem blauen Himmel ab.

Zwei Tage später bewegt Moni sich, als hätte sie einen Hexenschuss. Sie ruft unseren Hausarzt an, mit dem wir auch befreundet sind. Doch die Praxis ist geschlossen.

»Auch ein Arzt wird mal krank«, sage ich. »Ich sehe nach, wer Notdienst hat.«

»Robert hat eine Nummer auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen.« Moni legt einen Zettel auf den Tisch, auf dem sie in ihrer schnörkellosen Schrift eine Telefonnummer notiert hat. »Der Name der Ärztin sagt mir nichts.« Sie zieht einen Stuhl heran und setzt sich, vorsichtig, als wäre sie aus Glas. Sie sieht blass aus. In ihrem Augenwinkel sitzt Schlaf. Ich reibe ihn fort.

»Möchtest du einen Tee?«, frage ich. Sie nickt. Ich streiche ihr über die Wange, dann fülle ich den Wasserkocher, nehme den Zettel und gehe hinauf ins Arbeitszimmer.

Eine Viertelstunde später habe ich einen Termin verabredet. Am Nachmittag fahren wir in die Praxis. Die Ärztin untersucht meine Frau, nimmt ihr Blut ab, misst den Blutdruck.

»Lassen Sie sich röntgen«, sagt sie. »Ich gebe Ihnen eine Überweisung.«

Wieder zu Hause suchen wir erst im Telefonbuch, dann im Internet nach einer Röntgenpraxis, die uns kurzfristig einen Termin gibt. Schließlich ruft Moni Kathrin Kramer an, eine Freundin und Nachbarin, sie und ihr Mann sind Zahnärzte. Am nächsten Morgen ruft Kathrin zurück, nennt einen Namen. »Es ist eine Gemeinschaftspraxis. Der Kollege ist sehr gründlich.«

Ein paar Tage später stehen wir vor einem Mann, der reichlich aufgelöst wirkt. »Frau Krause?«

»Prause«, sagt Moni.

»Kommen Sie bitte mit.« Wir folgen ihm durch einen hellen Flur. An den Wänden Schwarz-Weiß-Fotografien von menschenleeren Landschaften – Seen, Flüsse, Wälder. Licht- und Schattenspiele in grauer Weite.

»Bitte sehr.« Der Arzt öffnet eine Tür. Der Raum ist überraschend klein. Vor dem Fenster eine herabgelassene Jalousie. Auf dem Schreibtisch eine Designerlampe. Sie taucht ihn in weißes Licht – wie eine Insel, denke ich. Wir setzen uns. Der Arzt schiebt Papiere zusammen, wischt Umschläge beiseite. Seine Hände scheinen zu zittern. »Also, Frau Krause …« Er dreht sich zur Seite, drückt ein paar Tasten auf seiner Tastatur, und auf einem Bildschirm an der Wand erscheint ein Röntgenbild.

»Prause«, sagt meine Frau.

Er fährt herum. Er sieht uns an, und einen Moment denke ich: Gleich heult er.

»Entschuldigen Sie.« Er fährt sich mit den Händen durchs kurze Haar. Moni und ich werfen uns einen Blick zu. »Bitte entschuldigen Sie.« Er öffnet eine Schublade, sucht etwas. Er nimmt den Telefonhörer, wartet einen Moment, sagt: »Haben Sie den Befund weitergeleitet? Es ist dringend!« Neben ihm, hell vor dunklem Grund, die Wirbelsäule und die Rippenbögen meiner Frau. Ich spüre, wie eine Gänsehaut über meine Arme kriecht.

Er legt den Hörer auf. Seine Unterlippe zittert, ein wenig nur, doch ich sehe es, denn die Designerlampe taucht auch ihn in helles Licht. Er faltet die Hände. »Eine Patientin, Lungenkrebs«, sagt er mit tonloser Stimme. »Anfang vierzig, drei Kinder. Rennt nach der Diagnose weinend aus der Praxis, rutscht im Treppenhaus aus, stürzt. Ein halbes Stockwerk, Marmorboden …«

Moni atmet scharf ein.

»Hat sich ein Bein gebrochen. Wir haben sie gerade ins Krankenhaus bringen lassen.«

Moni atmet aus.

»Entschuldigen Sie bitte.« Wieder fährt er sich durchs Haar, und plötzlich, als habe jemand einen Schalter umgelegt, ist sein Gesicht ruhig und beherrscht. Er wendet sich dem Bildschirm zu. »Also, Frau Krause, die Aufnahme ist so weit in Ordnung …« Ich sehe, wie der Arzt auf das Röntgenbild starrt, und weiß, dass er nichts darauf sieht.

»Er war nur der Röntgenarzt«, sage ich, als meine Frau und ich zurück ins Wartezimmer gehen. »Den Termin, den Kathrin für uns verabredet hat, haben wir bei seinem Kollegen.«

Moni nickt und setzt sich. Vorsichtig, als wäre sie aus Glas.

Eine halbe Stunde später werden wir wieder aufgerufen. Der Arzt, der uns empfängt, ist Orthopäde. Ein hochgewachsener Mann, wasserblaue Augen, fester Händedruck. Auf seinem Schreibtisch zwei Bildschirme. Auf einem eine Wirbelsäule. Helle Knochen auf dunklem Grund.

»Bitte setzen Sie sich.« Er deutet auf zwei Freischwinger vor seinem Schreibtisch. Sein Blick folgt Monis Bewegungen, als sie sich setzt. Er nickt. Dann schüttelt er den Kopf und wendet sich dem Bildschirm zu. Er betrachtet das Röntgenbild. Es ist still im Zimmer. Es ist, als könnte ich seine Konzentration hören, wie das Britzeln in Hochspannungsleitungen. Oder ist es meine Anspannung?

»Da ist etwas ….« Er deutet auf eine helle Fläche zwischen dunklen Flächen, und ich beuge mich vor. Auf Röntgenbildern erkenne ich selten etwas. »Das hier sollten wir uns noch einmal gründlicher ansehen.«

»Was ist da?«, fragt Moni.

Der Arzt betrachtet das Röntgenbild. Ich sehe, wie seine Wimpern zucken. Der Kollege ist sehr gründlich – Kathrins Stimme am Telefon klingt wie ein Echo durch meinen Kopf.

»Was meinen Sie?«, frage ich.

»Es sieht aus«, sagt der Arzt, »als würde sich ein Wirbel verschieben.«

Ein paar Tage später fahren wir wieder in die Praxis. Es ist später Nachmittag, ein Termin außerhalb der Sprechstunde. Auf dem Flur begegnen wir dem Röntgenarzt. Er trägt einen Mantel, unterm Arm einen Laptop. »Wie geht es Ihnen?«, fragt meine Frau.

Ein wenig irritiert sieht er sie an. Er erinnert sich nicht. »Gut, danke«, sagt er mit geschäftsmäßigem Lächeln, drückt eine Klinke und verschwindet hinter einer Tür. Moni schaut mich an. Und lacht. Ich greife nach ihrer Hand, drücke sie. Sie ist ein Mensch, der Menschen liebt. Als Erstes habe ich mich in ihr stürmisches Lachen verliebt, dann in ihr warmes Herz. Dann in den Rest.

Wir setzen uns ins Wartezimmer. Außer uns wartet eine alte Frau mit einem Pudel, er kauert zu ihren Füßen und sieht irgendwie krank aus. Ein paar Stühle weiter sitzt ein junger Mann, den Fuß in einem grellgelben Kunststoffgipsverband; ich schätze ihn auf Anfang dreißig, wie Henrik und Marten, unsere Söhne. Moni tastet nach meiner Hand. Ich drehe mich zu ihr – du siehst doch überhaupt nicht krank aus, fährt es mir durch den Kopf. Meine Frau sieht strahlend aus und schön, das graue Haar von ein paar blonden Strähnen durchzogen, ihr hellroter Lippenstift, die braunen Augen. Die Ohrringe mit den kleinen Perlen, die wir vor vier Jahren, an ihrem vierundfünfzigsten Geburtstag, im Urlaub in Mailand gekauft haben. Doch liegt etwas Ernstes in ihrem Blick, auch wenn sie lächelt. Seit der Orthopäde uns erklärt hat, was eine Szintigrafie ist, sind unsere Nerven angespannt. Er kennt die Vorgeschichte.

»Den Brustkrebs hatten Sie vor dreiundzwanzig Jahren?«, fragte er bei unserem letzten Besuch und blätterte durch die Befunde.

»Ja, als ich fünfunddreißig war.« Moni nickte. »Ich wurde operiert. Anfangs musste ich alle vier Wochen zur Kontrolluntersuchung, später alle drei, dann alle sechs Monate. Nach zehn Jahren wurden erneut Metastasen gefunden, ich wurde wieder operiert. Inzwischen gelte ich seit über zehn Jahren als geheilt.«

»Machen Sie sich keine Sorgen, das muss alles nichts bedeuten.« Er lehnte sich zurück und betrachtete sie mit freundlichem, ruhigen Blick. Trotzdem gab er uns einen Termin für eine Skelettszintigrafie, ein nuklearmedizinisches Verfahren, das Knochenerkrankungen sichtbar macht. Auch Tumore und Metastasen. Seither war sie wieder da, die Angst, die uns viele Jahre begleitet hat. Gegen die wir gekämpft haben. Die wir besiegt glaubten.

»Da ist etwas«, sagte meine Frau, als wir wieder zu Hause...