Die 50 wichtigsten Fälle Orthopädie

Die 50 wichtigsten Fälle Orthopädie

von: Nicolas Gumpert, Matthias Fischer, Martina Henniger, Gerret Hochholz, Tobias Kasprak, Jürgen Specht

Urban & Fischer Verlag - Lehrbücher, 2014

ISBN: 9783437295713 , 225 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

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Preis: 31,99 EUR

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Die 50 wichtigsten Fälle Orthopädie


 

02

Zehenfehlstellung


Anamnese


Eine 48-jährige Verkäuferin berichtet über eine seit ihrer Jugend zunehmende Fehlstellung der Großzehen. Seit 2 Jahren habe sie regelmäßig belastungsabhängige Schmerzen im Bereich der Vorfüße. Die Schuhversorgung werde immer schwieriger. Die Einlagen, die sie seit Jahren trage, brächten keine Besserung der Beschwerden mehr.

Untersuchungsbefunde


48-jährige Frau in gutem AZ und schlankem EZ. Die Rückfußachse ist regelrecht. Die Längswölbung des Fußes erhalten. Verbreiterter Vorfuß im Stand. Großzehenfehlstellung nach lateral von 30°. Prominente Pseudoexostose medial mit Bursitis. Das Metatarsophalangealgelenk 1 ist gut beweglich. Keine Instabilität im Tarsometatarsalgelenk 1. Vorfußkompressionsschmerz. Die Fußpulse sind tastbar. Die orientierende neurologische Untersuchung ist unauffällig.

1. Wie lautet Ihre Verdachtsdiagnose? An welche Differenzialdiagnosen müssen Sie denken?

2. Was wissen Sie über die Ätiologie, Epidemiologie und Pathogenese der Erkrankung?

3. Welche Diagnostik führen Sie durch?

4.Welche Therapiemaßnahmen sind bei der Erkrankung sinnvoll?

5. Welche Komplikationen sind relevant?

1. Verdachtsdiagnose/Differenzialdiagnosen

Es handelt sich um einen Hallux valgus, also die Abweichung der Großzehe im Zehengrundgelenk nach lateral. Zusätzlich besteht meist ein Spreizfuß.

Differenzialdiagnostisch müssen beachtet werden:

 Hallux valgus interphalangeus (Valgusfehlstellung der Großzehe durch Fehlstellungen im Phalanxbereich)

 Arthrose des Großzehengrundgelenks (Hallux rigidus)

 Instabilität im 1. Tarsometatarsalgelenk

 Knick-Plattfuß mit Pronationsstellung des Rückfußes und Tiefertreten von Talus und Os naviculare, was zur Abflachung der Fußlängswölbung führt

 Entzündlich-rheumatische Erkrankung

 Paresen

 Posttraumatische Veränderungen

2. Ätiologie, Epidemiologie und Pathogenese

Die Ursache des Hallux valgus kann eine angeborene Achsabweichung des Metatarsale 1 sein. Häufiger entsteht der Hallux valgus mit gleichzeitiger Spreizfußbildung aber durch Überlastung durch inadäquates Schuhwerk (zu enge und kurze, vorne spitz zulaufende Schuhe mit hohen Absätzen). Der Hallux valgus ist mit Prävalenz von 2–4 % die häufigste Deformität des Vorfußes. Frauen sind aufgrund der Schuhmode und des lockereren Bindegewebes häufiger betroffen. Die Deformität besteht oft beidseitig und wird meist im Alter zwischen 50–70 Jahren klinisch relevant.

Zu Beginn kommt es zunächst zur Pronation der Großzehe, wodurch die Sehne des M. abductor hallucis nach plantar verlagert wird. Der M. adductor hallucis verliert seinen Antagonisten, was zur chronisch-progredienten Abweichung der Großzehe nach lateral führt. Im weiteren Verlauf kommt es zur Dezentrierung der Streck- und Beugesehnen. Die Dezentrierung der Beugesehnen ist an der Verlagerung der Sesambeine nach lateral zu erkennen. Medial wird das 1. Metatarsalköpfchen prominent (Pseudoexostose). Durch Druckbelastung im Schuh können hier schmerzhafte Bursitiden entstehen. Der pathologische Zug der Beugesehnen führt zur axialen Belastung des 1. Metatarsale und bedingt die weitere knöcherne Abweichung und die zunehmende Destabilisierung im 1. Tarsometatarsalgelenk. Im Verlauf trägt der 1. Strahl beim Abrollvorgang immer weniger Last, was zu Überlastung der Nachbarstrahlen führt (sog. Transfermetatarsalgie). Durch die zunehmende Valgusfehlstellung der Großzehe haben auch die kleinen Zehen immer weniger Platz im Schuh. Sie weichen dann meist nach oben aus und werden als Hammer- oder Krallenzehen bezeichnet. Durch entsprechenden Druck im Schuh und an den Nachbarzehen können schmerzhafte Druckstellen entstehen.

3. Diagnostik

Neben der klinischen Untersuchung sind Röntgenaufnahmen des ganzen Fußes im a. p. Strahlengang und streng seitlich unter Belastung (im Stehen) erforderlich (Abb. 2.1). Typischerweise zeigt sich beim Hallux valgus eine Vergrößerung des Intermetatarsalwinkels (Winkel zwischen dem 1. und 2. Metatarsale; normalerweise beträgt er 8–10°) und des Hallux-valgus-Winkels (Winkel zwischen Metatarsale 1 und der Grundphalanx der Großzehe; normalerweise beträgt er 5–10°). Die Sesambeine, die normalerweise unter dem Metatarsaleköpfchen stehen, sind nach lateral dezentriert.


Abb. 2.1 Röntgenaufnahmen des Fußes dorsoplantar im Stehen mit vergrößertem Intermetatarsalwinkel MT 1–2, vergrößertem Hallux-valgus-Winkel sowie nach lateral dezentrierten Sesambeinen [T698]

Für eine dezidierte OP-Planung spielen außerdem der distale und proximale Gelenkwinkel (DMAA: „distal metatarsal articular angle“; PMAA: „proximal metatarsal articular angle“ – Winkel der Verbindungslinie vom medialen und lateralen Rand der Gelenkfläche und der Achse des Metatarsale 1, der normalerweise 90° beträgt) eine wichtige Rolle. Falls eine Abweichung > 5° besteht, muss evtl. eine zusätzliche operative Korrektur des Gelenkflächenwinkels erfolgen.

Im Bereich der Gelenke können degenerative Veränderungen und Subluxationsstellungen gefunden werden.

Der Metatarsalindex beschreibt das Längenverhältnis der Metatarsalia zueinander (normalerweise harmonischer Bogen).

4. Therapie

In leichteren Fällen kommen zunächst konservative Therapiemaßnahmen zum Einsatz. Diese bestehen in einem Wechsel des Schuhwerks, einer Einlagenversorgung nach Maß mit retrokapitaler Pelotte zur Entlastung der Metatarsaleköpfchen bei Spreizfüßen, Weitung des Oberleders der Schuhe, Hallux-valgus-Nachtschiene, lokal symptomatische Maßnahmen wie Fußwechselbäder, Hautpflege, Iontophorese, Infiltrationen bei Bursitis, NSAR. Dadurch kann zwar die Stellung der Zehen nicht dauerhaft verbessert werden, sie lindern jedoch die Symptome.

In fortgeschrittenen Fällen mit entsprechenden Beschwerden ist eine operative Therapie angezeigt. Aus rein kosmetischen Gründen sollte keine operative Therapie durchgeführt werden. Die Wahl des operativen Verfahrens richtet sich nach dem Grad der Fehlstellung, dem Zustand des Tarsometatarsal- und Metatarsophalangealgelenks und der Erfahrung des Operateurs. Die gebräuchlichsten Verfahren sind:

 OP nach Austin: Indikation: Hallux valgus-Winkel von 15–35° ohne Großzehengrundgelenkarthrose, Intermetatarsalwinkel I/II bis 16°. OP-Prinzip: Tenotomie der Adduktorsehne, Resektion der Pseudoexostose, V-förmige Osteotomie in der distalen Metaphyse (Abb. 2.2a und b), Fixierung mittels Schraube, mediale Kapselraffung.


Abb. 2.2 OP-Verfahren bei Hallux valgus. a und b) Austin-OP, c) Scarf-OP, d) basisnahe Osteotomie des 1. Metatarsale, e) Lapidus-Arthrodese TMT 1 [L157]

 OP nach Scarf: Indikation: Hallux valgus ohne Großzehengrundgelenkarthrose, Intermetatarsalwinkel I/II 12–23°, gute Knochendichte. OP-Prinzip: Tenotomie der Adduktorensehne, Z-förmige metadiaphysäre Osteotomie und Verschieben des distalen Fragments nach lateral und plantar, Fixierung mit zwei Schrauben, mediale Kapselraffung (Abb. 2.2c).

 Basisnahe Osteotomie des 1. Metatarsale: Indikation: Hallux valgus > 35° ohne Großzehengrundgelenkarthrose, Intermetatarsalwinkel > 17°. OP-Prinzip: lateralbasige Keilentnahme basisnah, Fixierung mit winkelstabiler Platte, distaler Weichteileingriff (Abb. 2.2d).

 Lapidus-Arthrodese TMT 1: Indikation: Metatarsus primus varus, Instabilität des TMT 1, Intermetatarsalwinkel I/II > 18°. OP-Prinzip: Korrekturarthrodese TMT 1, Fixierung mit winkelstabiler Platte oder zwei gekreuzten Schrauben, distaler Weichteileingriff (Abb. 2.2e).

Kontraindikationen für eine operative Therapie sind pAVK mit mangelhafter Durchblutung des Fußes, insulinpflichtiger...