Mehr zum Inhalt

Lehrbuch der Geschichte der Philosophie - Die Philosophie der Griechen + Die hellenistisch-römische Philosophie + Mittelalter + Renaissance + Aufklärung + Die deutsche Philosophie (Kant und Idealismus) + Die Philosophie des 19. Jahrhunderts


 

§ 2. Die Geschichte der Philosophie.

Inhaltsverzeichnis


  • Literatur: R. EUCKEN, Beitrage zur Einführung in die Geschichte der Philosophie (Leipzig 1906) p. 157 ff..
    W. WINDELBAND, Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts (Heidelberg 1905) II 175 ff, 2. Aufl. 529 ff.

Je verschiedener im Laufe der Zeiten Aufgabe und Inhalt der Philosophie bestimmt worden sind, um so mehr erhebt sich die Frage, welchen Sinn es haben kann, so nicht nur mannigfache sondern auch verschiedenartige Vorstellungsgebilde, zwischen denen es schließlich keine andere Gemeinschaft als diejenige des Namens zu geben scheint, in historischer Forschung und Darstellung zu vereinigen.

Denn das anekdotenhafte Interesse an dieser buntscheckigen Mannigfaltigkeit verschiedener Meinungen über verschiedene Dinge, welches wohl früher, gereizt auch durch die Merkwürdigkeit und Wunderlichkeit mancher dieser Ansichten, das Hauptmotiv einer »Geschichte der Philosophie« gewesen ist, kann doch unmöglich auf die Dauer als Keimpunkt einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin gelten.

1. Jedenfalls ist klar, daß es mit der Geschichte der Philosophie eine andere Bewandtnis hat, als mit der Geschichte irgend einer andern Wissenschaft. Denn bei jeder solchen steht doch das Forschungsgebiet wenigstens im allgemeinen fest, wenn auch seine Ausdehnung, seine Herauslösung aus einem allgemeineren Gebiete und seine Abgrenzung gegen die benachbarten noch so vielen Schwankungen in der Geschichte unterlegen sein mögen. Für eine solche Einzelwissenschaft macht es also keine Schwierigkeit, die Entwicklung der Erkenntnisse auf einem derartig bestimmbaren Gebiete zu verfolgen und dabei eventuell eben jene Schwankungen als die natürlichen Folgen der Entwicklung der Einsichten begreiflich zu machen.

Ganz anders aber steht es bei der Philosophie, der es an solch einem allen Zeiten gemeinsamen Gegenstande gebricht, und deren »Geschichte« daher auch nicht einen stetigen Fortschritt oder eine allmähliche Annäherung zu dessen Erkenntnis darstellt. Vielmehr ist von je hervorgehoben worden, daß, während in andern Wissenschaften, sobald sie nach den rhapsodischen Anfängen erst eine methodische Sicherheit gewonnen haben, die Regel ein ruhiger Aufbau der Erkenntnisse ist, der nur von Zeit zu Zeit durch ruckweisen Neuanfang unterbrochen wird, umgekehrt in der Philosophie ein dankbares Fortentwickeln des Errungenen durch die Nachfolger die Ausnahme ist, und jedes der großen Systeme der Philosophie die neu formulierte Aufgabe ab ovo zu lösen beginnt, als ob die andern kaum dagewesen wären.

2. Wenn trotz alledem von einer »Geschichte der Philosophie« soll die Rede sein können, so kann der einheitliche Zusammenhang, den wir weder in den Gegenständen finden, mit denen sich die Philosophen beschäftigen, noch in den Aufgaben, die sie sich setzen, schließlich nur in der gemeinsamen Leistung gefunden werden, welche sie trotz aller Verschiedenheit des Inhalts und der Absicht ihrer Beschäftigung sachgemäß herbeigeführt haben.

Dieser gemeinsame Ertrag aber, der den Sinn der Geschichte der Philosophie ausmacht, beruht gerade auf den wechselnden Beziehungen, in denen sich die Arbeit der Philosophen nicht nur zu den reifsten Erzeugnissen der Wissenschaften, sondern auch zu den übrigen Kulturtätigkeiten der europäischen Menschheit im Laufe der Geschichte befunden hat. Denn mochte mm die Philosophie auf den Entwurf einer allgemeinen Welterkenntnis ausgehen, die sie, sei es als Gesamtwissenschaft sei es als verallgemeinernde Zusammenfassung der Resultate der Sonderwissenschaften, gewinnen wollte, oder mochte sie eine Lebensansicht suchen, welche den höchsten Werten des Wollens und Fühlens einen geschlossenen Ausdruck geben sollte, oder mochte sie endlich mit klarer Beschränkung die Selbsterkenntnis der Vernunft zu ihrem Ziele machen, – immer war der Erfolg der, daß sie daran arbeitete, die notwendigen Formen und Inhaltsbestimmungen menschlicher Vernunftbetätigung zum bewußten Ausdruck zu bringen, und sie aus der ursprünglichen Gestalt von Anschauungen, Gefühlen und Trieben in diejenige der Begriffe umzusetzen. In irgend einer Richtung und in irgend einer Weise hat jede Philosophie sich darum bemüht, auf mehr oder minder umfangreichem Gebiete zu begrifflichen Formulierungen des in Welt und Leben unmittelbar Gegebenen zu gelangen, und so ist in dem historischen Verlaufe dieser Bemühungen Schritt für Schritt der Grundriß des geistigen Lebens bloßgelegt worden. Die Geschichte der Philosophie ist der Prozeß, durch welchen die europäische Menschheit ihre Weltauffassung und Lebensbeurteilung in wissenschaftlichen Begriffen niedergelegt hat.

Dieser Gesamtertrag aller der geistigen Gebilde, die sich als »Philosophie« darstellen ist es allein, welcher der Geschichte der Philosophie als einer eigenen Wissenschaft ihren Inhalt, ihre Aufgabe und ihre Berechtigung gibt: er ist es aber auch, um dessenwillen die Kenntnis der Geschichte der Philosophie ein notwendiges Erfordernis nicht nur für jede gelehrte Erziehung, sondern für jede Bildung überhaupt ist; denn sie lehrt, wie die begrifflichen Formen ausgeprägt worden sind, in denen wir alle, im alltäglichen Leben wie in den besonderen Wissenschaften, die Welt unserer Erfahrung denken und beurteilen

Die Anfänge der Geschichte der Philosophie sind in den (zum weitaus größten Teil verloren gegangenen) historischen Arbeiten der großen Schulen des Altertums, insbesondere der peripatetischen zu suchen, welche wohl meist in der Art, wie Aristoteles32 selbst schon Beispiele gibt, den kritischen Zweck hatten durch dialektische Prüfung der früher aufgestellten Ansichten die Entwicklung der eigenen vorzubereiten. Solche historische Materialiensammlungen wurden für die verschiedenen Gebiete der Wissenschaft angelegt, und es entstanden auf diese Weise neben Geschichten der einzelnen Disziplinen, wie der Mathematik, der Astronomie, der Physik u.s.w. auch die philosophischen Doxographien33. Je mehr indessen später Neigung und Kraft zum selbständigen Philosophieren abnahmen, um so mehr artete diese Literatur in einen gelehrten Notizenkram aus worin sich Anekdoten aus den Lebensumständen und einzelne epigrammatisch zugespizte Aussprüche der Philosophen mit abgerissenen Berichten über ihre Lehren mischten.

Den gleichen Charakter von Kuriositätensammlungen trugen zunächst die auf den Resten der antiken Ueberlieferung beruhenden Darstellungen der neueren Zeit, wie STANLEYs34 Reproduktion des Diogenes von Laerte oder BRUCKERs Werke35. Erst mit der Zeit traten kritische Besonnenheit in der Verwertung der Quellen (BUHLE36, FÜLLEBORN37), vorurteilsfreiere Auffassung der historischen Bedeutung der einzelnen Lehren (TIEDEMANN38, DE GÉRANDO39) und systematische Kritik derselben auf Grund der neuen Standpunkte (TENNEMANN40, FRIES41, SCHLEIERMACHER42) in Kraft.

Zu einer selbständigen Wissenschaft aber ist die Geschichte der Philosophie erst durch HEGEL43 gemacht worden, welcher den wesentlichen Punkt aufdeckte, daß die Geschichte der Philosophie weder eine bunte Sammlung von Meinungen verschiedener gelehrter Herren »de omnibus rebus et de quibusdam aliis«, noch eine stetig sich erweiternde und vervollkommende Bearbeitung desselben Gegenstandes, sondern vielmehr nur den vielverschränkten Prozeß darstellen kann, in welchem successive die »Kategorien« der Vernunft zum gesonderten Bewußtsein und zur begrifflichen Ausgestaltung gelangt sind.

Diese wertvolle Einsicht wurde jedoch bei HEGEL durch eine Nebenannahme verdunkelt und in ihrer Wirkung beeinträchtigt, indem er überzeugt war, daß die zeitliche Reihenfolge, nach der jene »Kategorien« in den historischen Systemen der Philosophie aufgetreten sind, sich mit der sachlichen und systematischen Reihenfolge decken müßte, worin dieselben Kategorien als »Elemente der Wahrheit« bei dem begrifflichen Aufbau des abschließenden Systems der Philosophie (wofür HEGEL das seinige ansah) erscheinen sollten. So führte der an sich richtige Grundgedanke zu dem Irrtum einer philosophisch systematisierenden Konstruktion der Philosophiegeschichte und damit vielfach zu einer Vergewaltigung des historischen Tatbestandes. Dieser Irrtum, den die Entwicklung der wissenschaftlichen Geschichte der Philosophie des 19. Jahrhunderts zu Gunsten der historischen Richtigkeit und Genauigkeit beseitigt hat, entsprang aber der unrichtigen (wenn auch mit den Prinzipien der HEGELschen Philosophie selbst folgerichtig zusammenhangenden) Vorstellung, als ob der geschichtliche Fortschritt der philosophischen Gedanken lediglich oder wenigstens wesentlich einer ideellen Notwendigkeit entspränge, mit der eine Kategorien die andere im dialektischen Fortgange hervortriebe. In Wahrheit ist das Bild der historischen Bewegung der Philosophie ein ganz anderes: es handelt sich dabei nicht lediglich um das Denken »der Menschheit« oder gar »des Weltgeistes«, sondern ebenso auch um die Ueberlegungen, die Gemütsbedürfnisse, die Ahnungen und Einfälle der philosophierenden Individuen.


3. Jenes Gesamtergebnis der Geschichte der Philosophie, wonach in ihr die Grundbegriffe menschlicher Weltauffassung und Lebensbeurteilung niedergelegt worden sind, entspringt aus einer großen Mannigfaltigkeit von Einzelbewegungen des Denkens, als deren tatsächliche Motive sowohl bei der Aufstellung der Probleme, als auch bei den Versuchen ihrer begrifflichen Lösung verschiedene Faktoren zu unterscheiden sind.

Bedeutsam genug ist allerdings der sachliche,...