Kinder psychisch kranker Eltern

von: Albert Lenz

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2014

ISBN: 9783840925702 , 259 Seiten

2. Auflage

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 32,99 EUR

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Kinder psychisch kranker Eltern


 

Im deutschen Sprachraum gilt das auf der ICD-Systematik beruhende multiaxiale Klassifikationsschema für psychische Erkrankungen im Kindesund Jugendalter von Rutter (WHO, 1997) als einschlägig. Für die Bestimmung, ob eine psychische Störung vorliegt oder nicht sind wesentlich:
• die Stärke und Anzahl der Symptome,
• die mit den Symptomen einhergehenden psychosozialen Beeinträchtigungen und
• Leistungsbeeinträchtigungen, die auch durch mögliche Ausgleichsprozesse nicht mehr verhindert werden können sowie
• die Dauer der Symptomatik und der Beeinträchtigung. Bei der Ermittlung der Art, Häufigkeit und Verteilung psychischer Störungen im Kindesund Jugendalter ist zu berücksichtigen, dass eine Einschätzung psychischer Störungen und damit eine eindeutige Abgrenzung zum Gesunden in diesem Altersbereich schwieriger ist als im Erwachsenenalter (Petermann et al., 2013). Es gibt hierfür eine Reihe von Gründen:
• die schnelle und umfassende Veränderung von Physis, Fähigkeiten, Verhalten und Emotionen in der kindlichen Entwicklung;
• die meisten Störungen im Kindesalter fallen nicht in den Bereich klar abgrenzbarer diagnostischer Kategorien;
• die meisten Symptome, die als Kriterium für Diagnosen dienen, sind auch bei gesunden Kindern vorhanden, allerdings in quantitativ anderer Ausprägung;
• eine Verhaltensweise kann je nach Alter und Entwicklungsstand normal oder pathologisch sein (z. B. Einkoten, Trennungsängste oder Trotzreaktionen);
• bestimmte Störungen im Kindesalter (z. B. oppositionelles Verhalten) zeigen sich unter Umständen lediglich in bestimmten Umgebungen (z. B. im Kindergarten) oder gegenüber bestimmten Personen (z. B. ausschließlich gegenüber den Eltern);
• die altersund entwicklungsabhängig eingeschränkte Fähigkeit der Kinder zur Krankheitswahrnehmung, -bewertung und Selbstauskunft;
• Fremdurteile (z. B. von Eltern, Erziehern oder Lehrern) werden wiederum von der Subjektivität und den Eigeninteressen der Beurteiler, aber auch vom Bildungsniveau und von der Beziehung zum Kind etc. beeinflusst;
• in sehr jungen Jahren sind körperliche und seelische Störungen nur schwer zu trennen (z. B. Bauchschmerzen).

1.1.1 Gesamtprävalenz psychischer Störungen im Kindesund Jugendalter

Zuverlässige Prävalenzdaten liefert eine Messung der „wahren“ Prävalenz. Dazu müssen psychische Störungen im Feld repräsentativer Bevölkerungsstichproben untersucht werden. Als Erhebungsverfahren werden meist Fragebögen, wie z. B. die Child Behavior Checklist (CBCL) oder der Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ) von Goodman (1997), verwendet.

Barkmann und Schulte-Markwort (2004) haben alle 30 repräsentativen empirischen Studien zur Gesamtprävalenz, die seit 1952 in Deutschland durchgeführt wurden, vergleichend gegenübergestellt und deskriptiv analysiert. Die ungewichteten Prävalenzen in diesen Studien, die überwiegend mit einem einstufigen Querschnittsdesign durchgeführt wurden, schwanken zwischen 10,3 % und 29,9 % mit einem Mittelwert von M = 17,2 % (SD = 5,54). Die mit der Stichprobe gewichteten Ergebnisse sind ähnlich (M = 17,2 %, SD = 5,07). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Ihle und Esser (2002), die in einer Überblicksarbeit, in die 19 nationale und internationale repräsentative Studien mit genügend großen Stichproben einbezogen waren, eine mittlere Prävalenzrate von 18 % herausfanden: In der aktuellen BELLA-Studie, an der 2863 zufällig ausgewählte Familien aus der KiGGS-Studie mit Kindern zwischen 7 und 17 Jahren teilnahmen, zeigen 21,9 % aller Kinder und Jugendlichen Hinweise auf psychische Störungen (Ravens-Sieberer et al., 2007). Die Zahlen in der repräsentativen Substichprobe der KiGGSStudie liegen also etwas höher, bewegen sich aber im Rahmen der bislang vorliegenden Studien und bestätigen das hohe Niveau der Auftretenshäufigkeit psychischer Störungen im Kindesund Jugendalter.

9,7 % aller in der BELLA-Studie einbezogenen Kinder und Jugendlichen werden als „auffällig“ klassifiziert, bei weiteren 12,2% liegen deutliche Hinweise auf psychische Störungen vor. Getrennt nach Alter und Geschlecht zeigt sich insgesamt ein leichter Anstieg der Auftretenswahrscheinlichkeit mit zunehmenden Alter, wobei bis zu einem Alter von 13 Jahren eine höhere Gesamtprävalenzrate bei Jungen festzustellen ist, wogegen nach den Ergebnissen der Analyse von Ihle und Esser (2002) im Zuge der Adoleszenz eine Angleichung der Gesamtraten bei Jungen und Mädchen erfolgt. Da die befragten Familien mit Migrationshintergrund keine repräsentative Auswahl der in Deutschland lebenden Migrantenfamilien darstellen, musste in der BELLA-Studie auf eine Differenzierung nach Migrationshintergrund verzichtet werden.

Eine Gegenüberstellung der Ergebnisse zeigt, dass eine Zunahme oder Abnahme der mittleren Gesamtprävalenz psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland über die letzten 50 Jahre aus den bislang vorliegenden Studien nicht ableitbar ist. Die sowohl in der Fachöffentlichkeit als auch in der Presse – vor allem in medialen Sensationsberichten über jugendliche Amokläufer oder Selbstmörder – immer wieder vertretene These, Kinder und Jugendliche würden psychisch immer auffälliger, lässt sich also zumindest nach dem bisherigen empirischen Kenntnisstand nicht belegen. Allerdings muss hierbei berücksichtigt werden, dass bis auf eine Ausnahme die in die Analyse einbezogenen Studien weder mit vergleichbarer Methodik noch an vergleichbaren Stichproben durchgeführt wurden. Die Ergebnisse können daher auch auf Designeffekte rückführbar sein (Barkmann & Schulte-Markwort, 2007). Interessanterweise konnten aber auch Roberts et al. (1998) in einer Analyse von 52 Forschungsarbeiten zur Bestimmung der Gesamtprävalenz psychischer Störungen im Kindesund Jugendalter aus 20 verschiedenen Ländern keinen aufoder absteigenden Trend in der mittleren Prävalenz über die Zeit feststellen.

1.1.2 Prävalenz spezifischer psychischer Störungen im Kindesund Jugendalter

Bezogen auf die spezifischen psychischen Störungen kommt die BELLA-Studie (Ravens-Sieberer et al., 2007) zu folgenden Ergebnissen: Angststörungen treten bei 10 % der Kinder und Jugendlichen auf. Am häufigsten betroffen ist hierbei die Altersgruppe zwischen 11 und 13 Jahren. Deutliche Hinweise für Störungen im Sozialverhalten finden sich bei 7,6 % der Kinder und Jugendlichen, wobei sich eine größere Auftretenswahrscheinlichkeit von aggressiven im Vergleich zu dissozialen Auffälligkeiten zeigt. Depressive Störungen werden bei 5,4 % und hyperkinetische Störungen (ADHS) bei 2,2 % der Kinder und Jugendlichen festgestellt. Während bei depressiven Störungen in der Auftretenshäufigkeit weder ein bedeutsamer geschlechtsspezifischer Unterschied noch ein Unterschied für verschiedene Altersgruppen festzustellen ist, zeigt sich bei den hyperkinetischen Störungen eine deutlich größere Häufigkeit bei Jungen und bei den jüngeren Kindern.

Durchgängig zeigt sich in der BELLA-Studie bei allen erfassten spezifischen psychischen Störungen, dass Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status deutlich häufiger betroffen sind. Die Ergebnisse der BELLA-Studie zur Prävalenz spezifischer psychischer Störungen zeigen eine hohe Übereinstimmung mit den bisherigen nationalen und internationalen Studien, wie die deskriptive Analyse von Ihle und Esser (2002) zeigt. Als häufigste Störungen zeigen sich hier ebenfalls Angststörungen mit 10,4 %, gefolgt von Störungen des Sozialverhaltens mit 7,5 % sowie depressiven Störungen und hyperkinetischen Störungen mit jeweils 4,4 %.

Diagnosenspezifische Verläufe psychischer Störungen

Alle Studien kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass bei allen Altersstufen des Kindesund Jugendalters die Persistenzrate psychischer Störungen konsistent hoch ist. Sie liegt bei Zeiträumen von 2 bis 5 Jahren in der Regel über 50 %. Das heißt, dass die psychischen Störungen im Kindesund Jugendalter zu einem beträchtlichen Teil keine vorübergehenden und entwicklungsbedingten Auffälligkeiten sind, sondern gravierende und gesundheitspolitisch relevante Krankheiten (Esser et al., 2000).