Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie von A bis Z

von: Hendrik Berth, Friedrich Balck, Elmar Brähler

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2008

ISBN: 9783840917899 , 603 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen für: Windows PC,Mac OSX,Linux

Preis: 43,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie von A bis Z


 

Anamneseexploration und Interview (S. 27)

GK-Nr. 2.2.1, 2.2.2

Friederike Stölzel

Die Anamnese ist die Vorgeschichte des Kranken (griech.: anamnesis = Wiedererinnerung). Für die Arzt-Patient-Beziehung und den Aufbau eines gemeinsamen Arbeitsbündnisses ist der Erstkontakt zwischen Arzt und Patient von großer Bedeutung. Vor allem durch Erhebung der Anamnese und Exploration des Patienten in einer für beide angenehmen und vertrauenswürdigen Situation sollen die Informationen erhoben werden, die für die Therapieplanung als auch letztendlich für den Therapieerfolg entscheidend sind.

Die Beziehung zwischen Arzt und Patient stellt das Kernstück der klinischen Medizin dar (Stewart, 1995). Maßgeblich beteiligt an der Entstehung der Arzt-Patient- Beziehung ist der Erstkontakt, an den sowohl Arzt als auch Patient Erwartungen haben.

Erstkontakt
Erwartungen aus Arztperspektive: Zunächst einmal begegnet der Arzt dem Patienten mit einem bestimmten Krankheitsmodell, dem vorwiegend organzentriert und sachlichen Modell. Die Wahrnehmung des Patienten kann durch Erwartungen des Arztes verzerrt werden, so können etwa bestimmte Beurteilungsfehler das Stellen einer Diagnose erschweren. Stereotype, d. h. stark vereinfachte Vorstellungen über eine Personenkategorie oder über ein anderes soziales Objekt (z. B. das so genannte „Mittelmeersyndrom": „Südländische Männer sind schmerzempfindlicher") können die Wahrnehmung und das Urteil über einen Patienten ebenso beeinflussen wie der „Primacy-Effekt" und/oder der „Recency-Effekt", was bedeutet, dass der erste und/ oder der letzte Eindruck entscheidend für die Beurteilung des Patienten sind. Auch die Einschätzung der Angemessenheit des Beratungsanlasses kann den Eindruck des Arztes mitbestimmen.

Erwartungen aus Patientenperspektive: Im Gegensatz zu eher sachlichen, nicht personenbezogenen Erwartungen des Arztes haben Patienten häu. g persönlichere Erwartungen an die Rolle des Arztes. So kann eine Diskrepanz zwischen dem Wunsch des Arztes, die Symptome präzise zu klären und den Erwartungen des Patienten, z. B. einfühlendes Verständnis (Empathie) für seine Beschwerden zu erhalten, entstehen.

Neben Empathie erwarten Patienten von Ärzten u. a. Gewissenhaftigkeit, Fachkompetenz, dass sie sich Zeit nehmen und Informationen über Krankheiten verständlich und bereitwillig vermitteln. Vorerfahrungen der Patienten mit dem medizinischen System beeinflussen die Erwartungen. Hat man z. B. einen sehr positiven Klinikaufenthalt hinter sich, kann das die positiven Erwartungen an den Arztbesuch verstärken.

Neben den allgemeinen Vorerfahrungen spielen die Vorkenntnisse des Patienten über seine Erkrankung und seine subjektiven Erklärungen, Einstellungen (Krankheitsüberzeugungen, z. B. Health-Belief-Modell) und Kontrollüberzeugungen eine große Rolle, da sie unter anderem die Erwartungen in Bezug auf die Betreuung und die Informationsvermittlung beeinflussen.

Exploration und AnamneseDie Anamneseerhebung ist Voraussetzung für zielsichere Diagnostik und Therapie. Sie besteht aus mehreren Punkten, die exploriert werden müssen: Die Jetzige Anamnese oder Krankheitsanamnese ist die detaillierte Exploration des momentanen Leidens, dessen Entstehung und Verlauf. Sie beinhaltet auch die Theo rie des Patienten über die Erkrankung.

In der Erkrankungsanamnese oder persönlichen Anamnese werden frühere Erkrankungen (in Kindheit und Erwachsenenalter) erhoben. Sie müssen nicht mit den jetzigen Beschwerden in Zusammenhang stehen, sondern werden zwecks Überblick über den körperlichen Allgemeinzustand und eventuelle Risikofaktoren erfragt. Die Entwicklungsanamnese umfasst die Exploration der psychischen Entwicklung des Patienten, um u. a. Hinweise auf typische Interaktionsmuster, mögliche psychische Ressourcen (Stärken) und die Art der Stressbewältigung zu bekommen.