Mr. Mercedes - Roman

von: Stephen King

Heyne, 2014

ISBN: 9783641142933 , 608 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Mr. Mercedes - Roman


 

9.–10. April 2009

Augie Odenkirk besaß einen Datsun Baujahr 1997, der noch ziemlich gut lief, obwohl er allerhand Meilen auf dem Buckel hatte, aber Benzin war teuer, vor allem wenn man keinen Job hatte, und das City Center stand am anderen Ende der Stadt, weshalb er beschloss, den letzten Bus des Abends zu nehmen. Um zwanzig nach elf stieg er aus, seinen Rucksack auf dem Rücken und den zusammengerollten Schlafsack unter dem Arm. Wenn es auf drei Uhr morgens zuging, würde er für das mit Daunen gefüllte Teil sicher dankbar sein. Die Nacht war neblig und kühl.

»Viel Glück, Mann«, sagte der Fahrer, als Augie auf die Straße trat. »Eigentlich solltest du schon dafür was kriegen, dass du als Erster kommst.«

Bloß war das gar nicht der Fall. Als er am oberen Ende der breiten, steilen Rampe angelangt war, die zu dem großen Veranstaltungssaal führte, sah er vor der Türreihe bereits eine Schar von Leuten warten, mindestens zwei Dutzend. Manche standen da, die meisten hockten auf dem Boden. Man hatte Ständer aufgestellt und so mit gelbem Absperrband verbunden, dass sie einen Korridor mit labyrinthartigen Kehrtwendungen bildeten. Augie kannte so etwas aus Kinos und aus der Bank, bei der er derzeit sein Konto überzogen hatte, und begriff den Zweck: möglichst viele Leute auf möglichst kleinem Raum unterzubringen.

Als er sich dem Ende dessen näherte, was sich bald zu einer langen Schlange von Jobsuchenden entwickeln sollte, stellte er ebenso erstaunt wie verärgert fest, dass die Frau vor ihm eine Bauchtrage mit einem schlafenden Baby umgeschnallt hatte. Die Wangen des Babys waren von der Kälte gerötet; ein leises Rasseln begleitete jedes Ausatmen.

Die Frau hörte, wie Augie sich ein wenig außer Puste von hinten näherte, und drehte sich um. Sie war jung und ziemlich hübsch, obwohl sie dunkle Ringe unter den Augen hatte. Vor ihren Füßen stand eine Henkeltasche mit Steppbezug. Wahrscheinlich enthielt sie Sachen für das Baby.

»Hi«, sagte sie. »Willkommen im Club der frühen Vögel.«

»Hoffentlich fangen wir einen Wurm.« Er rang mit sich, dachte Was soll’s und streckte ihr die Hand hin. »August Odenkirk. Augie. Man hat mich neulich downgesizt. So heißt das im 21. Jahrhundert, wenn man gefeuert wird.«

Sie schüttelte ihm die Hand. Ihr Händedruck war gut, fest und kein bisschen schüchtern. »Ich bin Janice Cray, und die kleine Süße da heißt Patti. Mich hat man wohl auch downgesizt. Ich war Haushälterin bei einer netten Familie in Sugar Heights. Der Mann … äh … ist Autohausbesitzer.«

Augie zuckte zusammen.

Janice nickte. »Tja. Er hat gesagt, es tut ihm leid, dass sie mich gehen lassen müssen, aber sie müssten den Gürtel enger schnallen.«

»Das hört man jetzt oft«, sagte Augie und dachte: Hast du tatsächlich niemand zum Babysitten gefunden? Absolut niemand?

»Ich musste sie mitnehmen.« Wahrscheinlich musste Janice Cray nicht mal besonders gut Gedanken lesen können, um zu wissen, was er dachte. »Ich hab sonst niemand. Buchstäblich niemand. Da gibt’s zwar ein Mädchen aus der Nachbarschaft, aber die dürfte nicht die ganze Nacht bleiben, selbst wenn ich sie bezahlen könnte, und das kann ich sowieso nicht. Wenn ich keinen Job bekomme, weiß ich auch nicht, was wir tun.«

»Können Ihre Eltern nicht auf die Kleine aufpassen?«, fragte Augie.

»Die wohnen in Vermont. Wenn ich ein bisschen Grips hätte, würde ich mit Patti hinfahren. Es ist hübsch dort, bloß haben die beiden ihre eigenen Probleme. Dad sagt, ihr Haus wär Land unter. Aber nicht wirklich, sie sind nämlich nicht vom Fluss oder so überschwemmt worden, es hat eher mit den Finanzen zu tun.«

Augie nickte. Auch das hörte man jetzt oft.

Einige Autos kamen die steile Rampe hochgefahren, die von der Marlborough Street, wo Augie aus dem Bus gestiegen war, heraufführte. Sie bogen nach links auf die riesige, leere Fläche des Parkplatzes ab, der bei Tagesanbruch zweifellos voll sein würde … Stunden bevor die erste jährliche Jobbörse der Stadt ihre Tore öffnete. Keiner der Wagen sah neu aus. Sie parkten, und aus den meisten stiegen drei oder vier Arbeitsuchende und marschierten auf die Türen des Saals zu. Nun stand Augie nicht mehr am Ende der Schlange. Sie hatte schon fast die erste Biegung erreicht.

»Wenn ich einen Job bekomme, kann ich einen Babysitter bezahlen«, fuhr Janice fort. »Aber heute Nacht müssen ich und Patti einfach durchhalten.«

Das Baby gab ein bellendes Husten von sich, das Augie gar nicht passte. Es regte sich in seiner Trage und beruhigte sich dann wieder. Wenigstens war es gut eingepackt; es hatte sogar winzige Fäustlinge an den Händen.

Kinder überstehen noch viel Schlimmeres, sagte Augie sich mit einem unbehaglichen Gefühl. Er dachte an die Staubstürme im Mittleren Westen zur Zeit der Weltwirtschaftskrise. Na, die jetzige Krise reichte ihm völlig. Vor zwei Jahren war alles in bester Ordnung gewesen. Er hatte zwar nicht gerade auf großem Fuß gelebt, aber er war gut über die Runden gekommen und hatte am Monatsende meistens noch etwas übrig gehabt. Inzwischen war alles den Bach runtergegangen. Irgendwas war mit dem Geld passiert. Was, kapierte er nicht; er hatte einen Schreibtischjob in der Versandabteilung von Great Lakes Transport gehabt, und womit er sich auskannte, waren Rechnungen und das Computerprogramm, mit dem man Waren per Schiff, Eisenbahn und Flugzeug durch die Gegend schickte.

»Wenn man mich mit dem Baby sieht, hält man mich bestimmt für unverantwortlich«, sagte Janice Cray bedrückt. »Das weiß ich, hab ich schließlich schon auf den Gesichtern hier gesehen. Auf Ihrem auch. Aber was soll ich sonst tun? Selbst wenn das Mädchen aus der Nachbarschaft die ganze Nacht aufbleiben dürfte, hätte das vierundachtzig Dollar gekostet. Vierundachtzig! Ich hab die Miete für nächsten Monat beiseitegelegt, und abgesehen davon bin ich pleite.« Sie lächelte, und im Licht der hohen Natriumdampflampen des Parkplatzes sah Augie Tränen auf ihren Wimpern. »Was plappere ich da bloß vor mich hin!«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, falls Sie das tun wollten.« Inzwischen war die Schlange um die erste Ecke gebogen und dort angekommen, wo Augie stand. Die Frau hatte recht. Er sah allerhand Leute auf das schlafende Kind in der Trage starren.

»Ach, ist schon in Ordnung. Ich bin eine alleinstehende Mutter ohne Job. Da will ich mich bei jedem und für alles entschuldigen.« Sie drehte sich um und warf einen Blick auf das über der Türreihe angebrachte Transparent. GARANTIRT 1000 JOBS! stand dort. Und darunter: »Wir halten zu den Bürgern unserer Stadt!« BÜRGERMEISTER RALPH KINSLER.

»Manchmal will ich mich für das Massaker in Columbine entschuldigen, für Nine-Eleven und dafür, dass Barry Bonds gedopt hat.« Sie stieß ein leicht hysterisches Kichern aus. »Sogar dafür, dass mal ein Spaceshuttle explodiert ist, will ich mich manchmal entschuldigen, und als das passiert ist, hab ich gerade laufen gelernt.«

»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Augie zu ihr. »Es wird schon werden.« Das war einer der Sprüche, die man so von sich gab.

»Wenn es bloß nicht so feucht wäre! Ich hab sie gut eingepackt, falls es richtig kalt wird, aber diese Feuchtigkeit …« Sie schüttelte den Kopf. »Aber wir schaffen es, oder, Patti?« Sie schenkte Augie ein kleines Lächeln, aus dem wenig Zuversicht sprach. »Hoffentlich regnet es wenigstens nicht.«

Das tat es tatsächlich nicht, aber die Feuchtigkeit nahm zu, bis im Licht der Natriumdampflampen feine Tröpfchen sichtbar wurden. Irgendwann wurde Augie klar, dass Janice Cray im Stehen schlief. Ihre Hüften standen schief, die Schultern waren eingefallen, die Haare hingen ihr in feuchten Strähnen ins Gesicht, und ihr Kinn war fast bis aufs Brustbein gesunken. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und sah, dass es Viertel vor drei war.

Zehn Minuten später wachte die kleine Patti Cray auf und fing zu weinen an. Ihre Mutter – unwillkürlich kam Augie der Ausdruck mit Kind sitzengelassen in den Sinn – zuckte zusammen, gab ein pferdeähnliches Schnauben von sich, hob den Kopf und versuchte, den Säugling aus der Trage zu ziehen. Zuerst klappte das nicht; die Beine der Kleinen hingen fest. Augie half, indem er die Seiten der Trage festhielt. Als Patti, inzwischen heulend, herausglitt, sah er auf ihrer winzigen, rosa Jacke und dem farblich passenden Mützchen überall Wassertropfen glitzern.

»Sie hat Hunger«, sagte Janice. »Ich kann ihr die Brust geben, aber sie hat auch eine nasse Windel. Das spür ich durch das Höschen. Du lieber Himmel, hier kann ich sie doch nicht wickeln – sehen Sie mal, wie neblig es geworden ist!«

Augie fragte sich, welche komisch veranlagte Gottheit wohl dafür gesorgt hatte, dass er in der Schlange hinter ihr stand. Außerdem fragte er sich, wie zum Teufel diese Frau wohl...