Mtitos Weg in die Freiheit - Die Geschichte einer Freundschaft in Afrika

von: Nana Grosse-Woodley

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2014

ISBN: 9783838758763 , 397 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 15,99 EUR

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Mtitos Weg in die Freiheit - Die Geschichte einer Freundschaft in Afrika


 

3

Erste Begegnung

Unruhig schaute ich aus dem Fenster meiner Unterkunft auf dem Wilson Airport am Stadtrand Nairobis und sah den laut brummenden Buschflugzeugen zu, die zum Greifen nah auf der Landebahn direkt vor meinem Zimmer aufsetzten. Hier war ich unzählige Male zuvor mit meinem Mann Danny gelandet und gestartet, wenn wir für Einkäufe aus unserem Paradies in den Moloch der kenianischen Hauptstadt reisen mussten und im Aero Club wohnten.

Heute jedoch, am 10. Februar 2002, wartete ich nicht auf die alte Maschine am Himmel, sondern auf unseren Geländewagen, mit dem Danny Hunderte Kilometer östlich von hier zu mir aufgebrochen war. Während ich noch zu Besuch bei Freunden in Nanuyki am Mount Kenya weilte, hatte er mich an diesem Morgen am Telefon mit der Nachricht überrascht, dass Ranger im entfernten Tsavo Park ein verwahrlostes Tierkind gefunden hatten. Umgehend waren wir uns einig, uns so schnell wie möglich in Nairobi zu treffen, um den Findling von einem Tierarzt in der Metropole untersuchen zu lassen.

Denn bei uns zu Hause, in der Wildnis der Savanne, gab es keinen Veterinär. Möglicherweise hätte das hilflose Tier dort ohne medizinische Betreuung keine Überlebenschance gehabt. Nun endlich, fünf Stunden nach dem Gespräch mit Danny, erkannte ich am unverkennbar lauten Heulen unseres Geländewagens, dass er angekommen war – mit seinem vierbeinigen Passagier im Gepäck.

»Hier ist der Wildfang«, rief mir Danny zu und stellte einen verschlossenen Korb vorsichtig auf den Tisch unseres Zimmers.

»Ich bin ja so gespannt!«, sagte ich und begann gleichzeitig, den zugebundenen Korb zu öffnen. »Das muss ja ein Winzling sein«, meinte ich, und schon schob sich mir ein gefleckter Fellball entgegen, der leise Töne von sich gab, die man durchaus als zaghaftes Fauchen bezeichnen konnte.

»Der ist ja hinreißend!«, rief ich.

»Pass auf, das Kerlchen ist ziemlich kratzbürstig«, warnte mich Danny.

Langsam ertastete ich die scharfen Krallen, und dann zeigte mir der Kleine auch schon leise fauchend seine spitzen Zähnchen. Viele schwarze Punkte auf hellbraunem Fell – sein Fleckenmuster verriet mir gleich: Es war ein Leopardenbaby! Ich blickte in seine blauen, milchigen Augen, die mich wie die Knöpfe im Gesicht eines Stofftieres anschauten: einfach umwerfend. Vorsichtig hob ich die kleine Raubkatze hoch, um sie mir genauer anzusehen.

Bei der Berührung des Tieres erschrak ich jedoch. Das Fell fühlte sich hart und struppig an, ich spürte die Knochen des dünnen Körpers. Unübersehbar zeigten sich nun auch Wunden am Hals und der Schulter und eine Schramme am Unterkiefer. Der kleine Kerl wirkte verwahrlost, schwach und hilfsbedürftig.

»Wo haben die Ranger ihn denn gefunden?«, fragte ich Danny.

»Auf der Höhe der Stadt Mtito, nicht weit von der Grenze des Tsavo-Nationalparks. Sie waren auf Patrouille gegen Wilderer, suchten wie üblich zu Fuß in Büschen und Bäumen nach illegalen Drahtschlingen und Fallen. Auf einem schmalen Pfad sind sie dann fast über den kleinen Wicht gestolpert. Er fauchte, war ganz verschreckt und blutete. Die Männer haben das einzig Richtige gemacht: ihn sofort gepackt, in einen Korb gesteckt und zu mir gebracht.«

»Gut, dass du gleich mit ihm hergekommen bist. Er braucht dringend Hilfe.«

Ich wusste nicht, wie lange das Jungtier nicht mehr gesäugt worden war, und das machte mir am meisten Sorgen. Kleine Raubkatzen können nach mehr als zwei Tagen ohne Muttermilch eine bedrohliche Infektion und Würmer bekommen, was dazu führt, dass sie schnell den Appetit verlieren und letztlich verhungern. Weil ich das zuvor schon bei anderen Pfleglingen miterlebt hatte, wollte ich jetzt keine Zeit mehr verlieren.

Schnell griff ich zum Telefon und wählte die Nummer einer sehr guten Tierärztin, mit der ich befreundet war und der ich zuvor schon ein Löwenbaby namens Jipe erfolgreich anvertraut hatte.

»Diesmal ein Leopardenbaby?«, fragte Dr. Surita Ghalay am anderen Ende der Leitung erstaunt nach, denn solche Waisen werden selten gefunden. »Nun gut, bringen Sie es sofort vorbei, ich bereite alles vor.«

Ich war froh, das zu hören, und packte umgehend den Korb samt dem kleinen Patienten ins Auto. Überfüllte Matatus – Kleinbusse, die als Sammeltaxis genutzt werden – und unzählige Autos verstopften die Straßen. Nur langsam kämpfte ich mich durch den dichten Verkehr der kenianischen Metropole. Bei jedem Halt schaute ich besorgt in das Körbchen auf dem Beifahrersitz. Schwach fauchte der kleine Kerl und wirkte ausgelaugt. Es war höchste Zeit, dass ich die Praxis der erfahrenen Tierärztin erreichte.

»Er sieht nicht gut aus«, sagte sie mit ernstem Gesichtsausdruck beim ersten Blick auf den jungen Leoparden und begann sofort, ihn genauer zu untersuchen. Sie drehte und wendete ihn und tastete ihn ab. Dann hantierte sie mit einem Thermometer, packte den mauzenden Kerl auf eine Waage und schaute ihm in Rachen und Ohren. So vergingen einige Minuten, die sich für mich wie eine Ewigkeit anfühlten.

Dr. Ghalay schwieg zunächst, das Tier fauchte, dann endlich sprach die Ärztin. »Er hat hohe Temperatur, ist unterernährt, anämisch und zu klein für sein Alter. Seine Knochen sind spröde, und er leidet unter Würmern und Entzündungen.«

Und als sei das nicht schon alles schlimm genug, fügte sie noch hinzu: »Ach ja, und es ist ein Männchen.«

Die Ärztin schaute mich dabei an, als hätte das Tier eine unheilbare Krankheit. Denn sie wusste genau wie ich, dass Kater viel schwerer aufzuziehen und auszuwildern sind als Kätzchen, weil sie eine stärkere Beziehung zu ihrer Mutter aufbauen, die viel länger anhält als bei Weibchen, mitunter mehr als zwei Jahre.

»Es gibt ein paar Leute, die haben Leopardenkatzen aufgezogen und freigelassen«, sagte Dr. Ghalay, »aber mir ist niemand bekannt, der es je mit einem Kater versucht hätte. Die gelten als hinterhältig und gefährlich.«

Mit kleinen Löwen kannte ich mich bereits aus, aber einen Leopardekater? Mir wurde heiß und kalt. Wie also sollte es weitergehen, falls der Bursche überleben würde? Die letzte Frage hing unausgesprochen in der Luft.

Zugegeben, ich war sehr entmutigt von Dr. Ghalays Diagnose. Sie aber untersuchte unbeeindruckt von meinem vielsagenden Gesichtsausdruck ihren Patienten vorsichtig und liebevoll weiter, hielt ihn mit einer Hand fest, während die andere sich durchs struppige Fell tastete.

»Die Wunden hat er entweder von einem Greifvogel oder von Drahtschlingen, in denen er sich verfangen haben könnte.«

»In letzter Zeit wird viel gewildert im Park. Sicher hat er seine Mutter verloren. Vielleicht ist sie in einer Schlinge verendet oder erschossen worden«, mutmaßte ich.

Dr. Ghalay ergänzte: »Es kann aber auch sein, dass sie ihn verstoßen hat. Wenn er der Schwächste ihres Wurfs gewesen ist, könnte sie ihn einfach liegen gelassen haben. Möglich ist auch, dass sie zwei Männchen geboren hat. Dann musste sie sich von einem trennen, um spätere Kämpfe zwischen ihnen zu vermeiden, denn nur einer kann das Revier der Mutter übernehmen. Vielleicht hat sie ihn einfach allein zurückgelassen.«

Welches Schicksal auch immer hinter ihm lag – der kleine Kater war in schlechter Verfassung, ein kleines Bündel Elend, das mein Mitleid weckte. Seine Zukunft hing – wenn überhaupt – von mir und meiner Entscheidung ab, ihn erst einmal gesund zu pflegen.

»Ich gebe ihm eine Wurmkur und spritze ihm ein Antibiotikum gegen die Infektionen«, beschloss Dr. Ghalay. Dann zwang sie den Schützling mit kräftigem Griff der einen Hand, die Kiefer zu öffnen, und drückte ihm mit der anderen Hand eine dicke Spritze in das kleine Maul.

»Das ist Milchersatz für Hauskatzen, der sollte wohl auch bei Leoparden helfen«, erklärte sie lächelnd.

»Was glauben Sie, wie alt ist er?«, fragte ich die erfahrene Ärztin.

»Hm, na ja … ich denke, der Bursche ist so etwa einen Monat alt, auch wenn er wegen seines schlechten Zustands jünger aussieht.«

Er wog knapp zwei Kilogramm und maß nur fünfundzwanzig Zentimeter. Vom Kopf bis zum Schwanzansatz passte er locker auf ein Blatt Papier.

»In seinem Alter sollte er ein, zwei Kilo mehr wiegen und fast zehn Zentimeter länger sein«, stellte Dr. Ghalay fest, zog die Augenbrauen hoch, atmete langsam ein und sagte dann mit einem tiefen Seufzer: »Liebste Nana, ich glaube kaum, dass er die erste Nacht überstehen wird. Es tut mir leid.«

Ich schaute sie mit großen Augen an, schluckte einmal, nickte leicht – und schwieg. Sie hatte ja recht, es sah nicht gut für ihn aus.

Noch während die Ärztin ihre Bestecke und Medikamente zusammenpackte, rollte sich das zitternde Leopardenkind im Körbchen zusammen und schlief erschöpft ein. Ob es überhaupt wieder aufwachen würde?

Frustriert bahnte ich mir meinen Weg durch die Blechlawine Nairobis zurück zum kleinen Flughafen. Und jedes Mal, wenn ich im Verkehr feststeckte, schaute ich wieder voll Sorge in das Körbchen auf dem Beifahrersitz. Doch alles schien erst einmal gut. Der kleine Kater lag dort zusammengerollt wie ein Ball, die Augen geschlossen, und atmete ruhig.

So brachte ich ihn im Korb zurück in unser Zimmer im Aero Club und achtete darauf, dass niemand etwas von meinem Begleiter bemerkte. Vor einiger Zeit hatte mein anderer Pflegling, das Löwenbaby Jipe, dort ein ziemliches Chaos angerichtet, daher wären die Manager über eine weitere Raubkatze als Gast sicher nicht besonders erfreut gewesen. Sollten sie den Leoparden...