Ethik als Schutzbereich

von: Martin W. Schnell

Hogrefe AG, 2008

ISBN: 9783456944920 , 148 Seiten

Format: PDF, OL

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Preis: 26,99 EUR

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Ethik als Schutzbereich


 

2 Leiblichkeit und Selbstsorge (S. 21-22)

2.1 Leiblichkeit

Es ist ein Fehler, das Phänomen der Pflege von vornherein zu eng zu definieren. Im Unterschied zum Pflegeberuf, der ein Beruf unter anderen ist, und zur Pflegewissenschaft, die eine unter vielen anderen Wissenschaften darstellt, ist das Phänomen der Pflege ein allgemeines und somit nicht auf einen bestimmten Wirkungsbereich beschränkt. Es ist nämlich bei jedem Menschen und auch bei den meisten Tieren beobachtbar. Pflege ist, wie Christel Bienstein sagt, eines der Urphänomene. In dieser Hinsicht ist Pflege als Teil der ‹cura sui› eines jeden Menschen anzusehen. Hier fängt die Rede von einer Pflege an und nicht etwa erst im Bereich der Krankenpflege oder der Medizin. Das ist heute noch aus den Texten der antiken Philosophie zu lernen. Wir sprechen zunächst von Menschen und nicht von Patienten.

Es empfiehlt sich, eine systematische Abhandlung, in deren Mittelpunkt die Sache der Pflege steht, mit der Leiblichkeit des Menschen und einem daraus resultierenden Verständnis von Selbstsorge zu beginnen. Der Hauptgrund für diesen Anfang liegt auf der Hand: Nur weil derMensch leiblich ist, kann er krank, behindert, therapie- und pflegebedürftig werden. Hinter diesen Möglichkeiten steht das Grundfaktum: DerMensch ist endlich und damit zum Tode verurteilt. Wenn hier von Leiblichkeit die Rede ist, dann im Sinne der Phänomenologie, die eine Philosophie der Erfahrung ist und der Autoren wie Martin Heidegger, Edmund Husserl, Aron Gurwitsch, Maurice Merleau-Ponty, Helmuth Plessner und Bernhard Waldenfels zuzurechnen sind. Dieser Ausgangspunkt hat weitreichende Konsequenzen, die im Laufe der Argumentation verdeutlicht werden. Zur allgemeinen Orientierung sei vorab gesagt: Der Leib ist dadurch definiert, dass er den Menschen insgesamt ausmacht und keinen Gegensatz zur Seele oder zum Bewusstsein darstellt. Es wird damit bestritten, dass es am Menschen etwas gibt, das nicht leiblich wäre. Rein Geistiges ist nicht existenzfähig. Sprechen und Denken zählen zu den leiblichen Verhaltensweisen.

Der Leib ist das Grundphänomen. Er ist die erste Person Singular. Ich selbst bin es. Das Buch Leib. Körper. Maschine (vgl.: Schnell, 2004a) handelt nicht von drei verschiedenen Dingen, sondern von einem Erfahrungsgegenstand, der in verschiedenen Weisen gegeben und erschlossen wird und werden kann. Der Körper ist ein und derselbe Leib, jedoch in der Stellung der dritten Person Singular. Wenn ich meinen verletzten Finger mit einem Pflaster versorge, bin ich immer noch dieser Finger, obwohl er in der Versorgungssituation von mir wie ein Objekt behandelt wird, an dem ich etwas verrichte. Er ist nicht in erster Linie tätiger Leib, der etwas tut, sondern derjenige, dem etwas widerfährt. Leib und Körper sind dasselbe und zugleich nicht dasselbe.

In der Kultur- und Literaturgeschichte mangelt es nicht an Visionen, den Menschen auch als Maschine zu betrachten. Von exotischen Vorstellungen abgesehen, spricht manches durchaus für den entsprechenden Gesichtspunkt. Die Maschine ist der eine und derselbe Leib, jedoch im Hinblick auf seine nicht spontanen und somit geregelten und festgestellten Eigenschaften. Verhaltensweisen können sich zu Gewohntem und Routinen verfestigen. Das Gangbild einer Person ist so charakteristisch, dass es zur sicheren Identifizierung ausreicht. Der Schriftsteller James Joyce hat ganze Theorien über das Verhältnis zwischen dem Gang und dem Bildungsstand einer Person entworfen. Als Maschine in einem anderen Sinne erscheint der Mensch, wenn ihm eine Gewebeprobe entnommen wird, die einerseits stofflich zu bestimmende Materie ist und anderseits ein Datensatz, der Exaktheit verspricht und der dem Datenschutz unterliegt. Aber darin erschöpft sich der Mensch nicht, denn er ist zugleich Leib und Körper. Leib, Körper und Maschine sind dasselbe und zugleich nicht dasselbe. Diese Unschärfe gehört zur Sache selbst, als deren Grundphänomen die Leiblichkeit hervortritt.