Von Pferden lernen, sich selbst zu verstehen

von: Jenny Wild

Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, 2014

ISBN: 9783440143346 , 200 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Von Pferden lernen, sich selbst zu verstehen


 

Die private Zone


Wofür ich also als Erstes sorgen muss, ist genügend Platz für mich und für das Pferd. Wir nennen das „Die private Zone“. Der Mensch soll lernen, den Raum um sich herum für sich zu beanspruchen. Im besten Fall handelt es sich um einen Kreis, da dies ein Bereich ist, den man zu allen Seiten gleich beanspruchen kann. Den Radius sollte der Mensch festlegen, damit ganz klar ist, ob das Pferd diese Grenze akzeptiert oder überschreitet. Sobald das Pferd in den privaten Raum des Menschen eindringt, soll dieser dafür Sorge tragen, dass er schnellstmöglich wieder den gesamten Raum für sich beanspruchen kann. Die Energie, die der Mensch hierfür aufwendet, muss nicht zwangsläufig gegen das Pferd gerichtet sein, ganz im Gegenteil, es soll nämlich nicht darum gehen, das Pferd zu verscheuchen, sondern einfach nur für etwas Platz um sich herum zu sorgen. Mein Standardspruch ist in diesem Moment immer: „Ich bin ein Mensch, der sehr viel Platz braucht!“ Mit Hilfe der privaten Zone sind wir also in der Lage, dem Pferd zu sagen, dass es keine Möglichkeit mehr hat, seine Angriffsenergie gegen uns einzusetzen.

Gleichzeitig kommt es zu einem mehr als positiven Nebeneffekt:

Da wir für Raum sorgen, bewegen wir das Pferd von uns weg, ohne dass wir uns selbst von der Stelle bewegen. Das Pferd erkennt ein Muster aus seinem natürlichen Herdenverhalten. Wenn es von einem anderen Individuum durch die Gegend bewegt wird, kann der andere bei dem, was er tut, gar nicht so schlecht sein. Der Mensch wendet also automatisch das Prinzip von „Wer bewegt wen“ an, ohne fordernde oder negative Energie gegen das Pferd einzusetzen. Unser Verhalten löst somit keinen weiteren Stress beim Pferd aus, weil es ja nicht um das Pferd, sondern um unseren Raum geht. Das Pferd fühlt sich in diesem Moment weder kritisiert noch gemaßregelt und wird langsam zu dem Schluss gelangen, dass es von dem Menschen am Ende des Seils nichts zu befürchten hat.

Wenn ich anderen Menschen die Frage stelle, welche Art von Mensch ihnen Sicherheit gibt, kommen häufig folgende Attribute dabei heraus:

  • Es sollte jemand sein, der kompetent ist bei dem, was er tut;
  • er sollte gerecht sein;
  • er sollte ehrlich sein;
  • er sollte wissen, was er tut, und den Überblick über die Lage haben;
  • es sollte jemand sein, der zu seinem Wort steht;
  • etc.

Private Zone = Raum beanspruchen, ohne fordernde oder negative Energie gegen das Pferd einzusetzen!

Dies ist vor allem dann wichtig, wenn die Möglichkeit einer Gefahr nicht ausgeschlossen werden kann. Da Pferde nicht so rational denken wie wir, sollte uns immer bewusst sein, dass für Pferde die Möglichkeit einer Gefahr nie ausgeschlossen werden kann. Wir können ihnen jedoch helfen, ihre Einstellung zu manchen Dingen zu verändern und somit ihr und unser Leben leichter und sicherer zu gestalten.

Jeder, der ein Pferd besitzt oder etwas mit Pferden zu tun hat, ist gerne bei seinem Pferd, streichelt es, nimmt es in den Arm, liebkost es, lässt ihm also in der Regel gerne Zuwendungen zukommen. Dies sind alles Dinge, die ich auch gerne mit meinen Pferden mache, jedoch habe ich immer ein wichtiges Grundprinzip im Hinterkopf: Ich kann Nähe nur zulassen, wenn ich für Distanz sorgen kann! Je besser ich als Mensch in der Lage bin, für meine private Zone zu sorgen, umso einfacher kann ich zulassen, dass mein Pferd in meine Nähe kommen darf oder ich mich dem Pferd annähere.

Ich kann Nähe zu meinem Pferd nur dann zulassen, …

… wenn ich auch in jeder Situation für Distanz sorgen kann.

Ein typisches Bild ist aber nun einmal, dass Menschen nah bei ihrem Pferd sind bzw. das Pferd nah bei seinem Menschen ist. Schon allein aufgrund der Größe des Pferdes kann dies schnell zu Problemen führen, weil wir als Mensch zum einen nur einen Teilbereich unseres Pferdes sehen können und zum anderen häufig den Raum und mögliche andere Pferde oder Gefahren, die sich hinter oder neben unserem Pferd befinden, gar nicht wahrnehmen können. Ich als Mensch habe in diesem Moment keinen Überblick über die Situation.

Wir können davon ausgehen, dass Pferde bei der Wahl eines Individuums, bei dem sie sich sicher fühlen, die gleichen Attribute wählen würden wie wir. Wenn ich als Mensch also nicht in der Lage bin, den Überblick über eine bestimmte Situation zu behalten, so erfülle ich schon im Ansatz nicht die notwendigen Fähigkeiten, nach denen das Pferd sucht.

Wenn das Pferd zu nahe steht, sieht man wenig!

Mit genügend Abstand hat man die Situation im Blick!

Im Grunde sind es eine Reihe kleiner Angewohnheiten, die uns den Umgang mit unseren Pferden erleichtern, weil sie für das Pferd logisch und nachvollziehbar sind. Für uns sind sie einigermaßen leicht umzusetzen und ohne großen Aufwand durchführbar.

Wenn wir nun wieder das Thema der privaten Zone betrachten, erfüllen wir durch sie automatisch das nächste Kriterium, um unserem Pferd und uns Sicherheit zu geben. Wir verschaffen uns durch den vorhandenen Raum die notwendige Übersicht, um die Situation besser im Griff zu haben.

Menschen sind in ihren Reaktionen sehr viel langsamer und schätzen Situationen, aus Pferdesicht gesehen, häufig falsch oder viel zu spät ein. Allein das macht es schon notwendig, dass wir genügend Freiraum haben, um daraus resultierend genügend Zeit zu haben, reagieren zu können, falls es notwendig ist.

Je unsicherer das Pferd und je unübersichtlicher die Lage, umso größer sollte die private Zone sein!

Wie bereits erwähnt, beginnt man automatisch mit dem Pferd das Spiel „Wer bewegt wen“ zu spielen. Im besten Fall bleibt der Mensch an einem festen Punkt stehen. Hier habe ich sofort ein paar Redensarten im Kopf: „Seinen Standpunkt vertreten“, „Zu seinem Wort stehen“, „Fest mit beiden Beinen auf dem Boden stehen“. Vielleicht fällt dem einen oder anderen ja noch ein weiteres gutes Bild ein. All diese Umschreibungen haben eines gemeinsam: Sie beschreiben ein Individuum, das Sicherheit ausstrahlt. Also haben wir automatisch einen weiteren Faktor, wie wir für unsere und die Sicherheit unseres Pferdes sorgen können, einfach indem wir unsere private Zone beanspruchen.

Wenn ich einen festen Mindestabstand definiere und immer darauf achte, dass das Pferd diesen auch einhält, wird es sehr schnell merken, dass ich meine, was ich sage, ohne sauer zu werden. Das Pferd kann sich hierdurch auf mich verlassen und wird mir ganz automatisch immer mehr vertrauen können und so ein Gefühl von Sicherheit zurückerlangen. Ich als Mensch werde ganz nebenbei darin geschult, mehr auf mein Pferd zu achten und frühzeitiger zu reagieren. Immer wieder wird ein weiteres großes Thema die „Energie“ sein. Es sei aber schon hier erwähnt, dass ich viel weniger Energie brauche, wenn ich frühzeitig reagiere, als wenn ich die Dinge, die ich eigentlich nicht haben möchte, erst passieren lasse. Ist das Kind erst einmal in den Brunnen gefallen, ist die Kraftanstrengung ziemlich groß, die man braucht, um es wieder herauszuholen. Wenn ich ihm aber schon vorher sagen kann, dass es in den Brunnen fallen könnte, wenn es über den Rand klettert, und so verhindere, dass dies passiert, ist das erheblich weniger Energieaufwand. Genauso ist es bei der privaten Zone. Der Vorteil, der sich hieraus ergibt, ist Folgender: Je weniger Energie ich gegenüber meinem Pferd aufbringen muss, desto weniger wird es das Gefühl haben, dass zu viel Druck ausgeübt wird, der vielleicht wieder gutartige Aggressionen auslösen könnte.

Weniger Energie schafft weniger Abwehr.

Für viele Menschen stellt es häufig zunächst ein Problem dar, ihren Standpunkt wirklich zu vertreten, tatsächlich zu sagen: „Ich meine das so!“ Viele Leute können nicht effektiv gegenüber ihrem Pferd sein. Sie haben das Gefühl, sie tun ihrem Pferd damit weh, und das widerspricht einem Grundmuster, was schon vor langer Zeit in ihnen festgelegt wurde: Einem Tier füge ich keinen Schmerz zu!

Ich bin die Letzte, die einem Tier Schmerz zufügen möchte. Wenn es jedoch die Situation erfordert, bin ich sehr gut in der Lage, meine private Zone zu verteidigen.

Was wir also immer sein müssen, ist freundlich und doch effektiv, wenn nötig.

Lerne, die Dinge richtig zu tun, und lerne, die richtigen Dinge zu tun.

Wenn Menschen ihre private Zone nicht effektiv beanspruchen, ist der Eindruck, den sie vermitteln, genau das Gegenteil von dem, was sie eigentlich erreichen wollen: Sie wirken unsicher, meinen das, was sie sagen, nicht wirklich ernst, sind angreifbar und verletzlich. Auf keinen Fall vermitteln sie das Gefühl, dass man sich auf sie verlassen könnte.

Eine Schülerin von uns mit einem jungen Pferd wirkte in ihrer ganzen Art, in ihrem gesamten Auftreten sehr unsicher. Sie hatte ständig das Gefühl, etwas falsch zu machen, und hatte keine wirkliche Idee, wie sie mit ihrem Pferd so umgehen könnte, dass es beiden Seiten auch wirklich Spaß macht. Wenn man sich die beiden zusammen anschaute, war das häufigste Bild ein Pferd, das irgendwie um seinen Menschen herumlief, diesen anrempelte, zur Seite schubste oder wegzog, und auf der anderen Seite sah man einen Menschen, der mit zaghaften Versuchen seinem Pferd sagen wollte: „Wir könnten ja vielleicht mal hier rübergehen? Na gut, dann nicht.“

Als ich das Pferd zum ersten Mal an der Hand hatte, war schnell...