Erstgeborene - Über eine besondere Geschwisterposition

von: Jirina Prekop

Kösel, 2014

ISBN: 9783641141462 , 208 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 10,99 EUR

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Erstgeborene - Über eine besondere Geschwisterposition


 

Warum gibt es so wenig Literatur über Erstgeborene?


Ein Entsetzen ergreift mich, wenn ich bedenke, dass ich mein Verständnis für meine Schwester und die Liebe zu ihr nur gewinnen konnte, weil mir ein langes Leben gegönnt wurde. Trotz meiner reichen Lebenserfahrungen und trotz meines intensiven Berufslebens als Kinderpsychologin war ich gegenüber den Erstgeborenen taub und blind. Solange ich mich persönlich betroffen fühlte, da ich von klein auf zum Gegenangriff gegen diese bedrohliche Übermacht bereit war, konnte ich keine objektive Einsicht gewinnen. Mein Herz war nicht frei.

Ist vielleicht diese frühe Verblendung auch für andere Autoren der Grund dafür, warum bis heute niemand ein Sachbuch über Erstgeborene geschrieben hat und auch die Beziehung zu den nachfolgenden Geschwistern oft zu kurz kommt? In seinem Buch über Geschwister Brüder und Schwestern. Geburtenfolge als Schicksal stellt Karl König eine ähnliche Frage. Er staunt darüber, dass »noch niemand versuchte, das soziale Verhalten innerhalb der Geschwisterreihe ins Auge zu fassen ...«. Er meint, dass man die Antwort auf die Auswirkungen der Geburtenfolge auf einer falschen Fährte gesucht hat. Man dachte irrtümlicherweise an Unterschiede der Intelligenz und der Charaktere. Die wesentlichen Unterschiede aber ergeben sich in den sozialen Einstellungen. »Ja, ein erster Sohn ordnet sich sozial ganz anders als ein zweites Kind«, stellt König fest. Eine einfache Tatsache, an welcher die meisten Forscher vorbeigehen, ganz so, als hätten sie Scheuklappen gegen das Naheliegende aufgesetzt. Scheuklappen, die dem Herzen das Sehen nicht gestatten. Wie sagt der Fuchs in Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry? »Man sieht nur mit dem Herzen gut.«

Ist das vielleicht die besondere sozial-emotionale Sichtweise, die eher den Zweitgeborenen als den Erstgeborenen zum Schreiben eines Buches über die Geschwistersituation anspornt und diese durch die Brille des Zweitgeborenen sehen lässt? Höchstwahrscheinlich ging es Alfred Adler, dem zweitgeborenen Sohn, nicht anders, als es mir früher erging. Er war in dem Widerstand gegen seinen erstgeborenen Bruder gefangen (und in der Nachfolge auch gegen Sigmund Freud, den erstgeborenen Muttersohn), sah die vielen Vorteile, die Spätgeborene hatten, und deutete die Erstgeborenen eher als die Unfreien und Machthungrigen, als würden sie ein potentielles Kainzeichen auf der Stirn tragen. Von ihm stammt auch die verletzende Metapher von der »Entthronung« des Erstgeborenen.

Erst nachdem ich meine eigenen Scheuklappen ablegen und Verständnis für die Situation der Erstgeborenen entwickeln konnte, war ich in der Lage, die Beschwerden derjenigen Mütter und Väter, die in ihrer Ursprungsfamilie selbst spät geboren waren und sich in die Not ihres erstgeborenen Kindes nicht hineinversetzen konnten, zu verstehen. Die Verhaltensauffälligkeiten ihrer Ältesten riefen allzu oft den alten Groll gegen das eigene ältere Geschwister in Erinnerung. Als selbst Leidgeprüfte können sie sich gut in die Betroffenheit des Jüngeren einfühlen und ihm die Stange halten. Bereits am Telefon erkenne ich mittlerweile an der Stimme, worum es geht: »Mein ältester Sohn weigert sich, dem kleinen Brüderlein sein Spielzeug zu leihen. Wie soll ich ihm helfen?« – »Wem eigentlich?«, frage ich scheinbar naiv zurück. »Die Wievielte sind Sie selbst in ihrer Geschwisterreihe?«, frage ich weiter, obwohl ich die Antwort meist ganz genau weiß. Denn meistens klagt die kleine Schwester über ihren großen Bruder. »Kann es überhaupt sein, dass das erste Kind völlig anders als das zweite wurde, obwohl es die gleichen Eltern hat?«, fragen manche Eltern, als könnten sie nicht sehen, dass jedes Kind in eine andere Lage hineingeboren wird.

Das erklärt vielleicht auch die seltene Nachfrage nach Büchern über Erstgeborene. Über alle möglichen psychologischen Themen gibt es Bücher. Über die bösen Mädchen, die überall hinkommen, über die Frauen, die zu viel lieben, über die Männer, die sich lieben lassen, und über solche, die schweigen und und und. Und all diese Bücher werden mit Interesse gelesen, obwohl sie manchmal weit davon entfernt sind, was den jeweiligen Leser in seinem Leben bewegt. Das Schicksal der Erstgeborenen jedoch spricht fast jeden Mensch an. Nur die Einzelkinder bilden eine gewisse Ausnahme. Aber auch sie berührt das Thema, denn es ist durchaus möglich, dass ein Elternteil in seiner Ursprungsfamilie der Erstgeborene war oder unter dem Einfluss des Erstgeborenen aufwuchs und dementsprechend in seinem Verhalten geprägt wurde. So gibt es niemanden, den das Thema der Erstgeborenen nicht berührt. Entweder weil sie selbst Erstgeborene sind oder jahrelang die Konfrontation mit dem erstgeborenen Geschwister gelebt haben. Wie kommt es dennoch, dass das Interesse an diesem Thema so gering ist?

Ehrlich gesagt, ich weiß es selbst nicht. Ich kann nur spekulieren. Wuchs vielleicht der Erstgeborene in seine Rolle so selbstverständlich hinein, dass er sie für etwas völlig Normales hält? So gesehen würde niemand ein Buch über die Haut, in der er steckt, schreiben oder lesen. Er wäre höchstens rein sachlich daran interessiert, wie die Haut beschaffen ist und wie er sie pflegen kann. Es wird ihm aber nicht einfallen darüber nachzudenken, ob diese Haut für ihn vorteilhaft oder ungünstig ist und wie es wäre, wenn er keine Haut hätte. Er steckt in dieser Haut und diese Haut ist sein Schicksal und er kann sie nie loswerden. Auch an der Tatsache, dass einer erstgeboren ist, lässt sich nichts ändern. Dieser Zustand ist definitiv. Wenn er diese Haut in Frage stellen würde, müsste er nicht auch das Auseinanderbröckeln seiner Identität riskieren? Seiner Identität, die ihm so kostbar ist?

Ich kenne so gut wie keinen Erstgeborenen, der es auf Dauer bedauert hätte, vom Schicksal die erste Stelle bekommen zu haben, und der mit dem Jüngeren gerne tauschen würde. Sicherlich haben Sie bemerkt, dass ich »auf Dauer« betont habe. Vorübergehend kommen diese Wünsche häufig schmerzhaft hoch, wie ich später berichten möchte. Dagegen kenne ich viele Spätgeborene, die sich benachteiligt fühlen und den Neid auf das erstgeborene Geschwister ihr ganzes Leben lang mit sich herumtragen. Der Erstgeborene nimmt sein Los als Selbstverständlichkeit hin. Mit allen Vor- und Nachteilen, mit Ehre und Opfer. Wozu sollte er sich also mit Büchern befassen, die sein Los kritisch analysieren? Warum sollte er an seiner unveränderbaren Position rütteln? S.P. Bank und M. Kahn betonen in ihrem Buch Geschwister-Bindung, eine Erklärung für die überwiegend irrationalen Elemente in der Geschwisterbeziehung sei äußerst schwierig.

Unsere Märchenwelt hingegen hat zahlreiche Geschwisterschicksale thematisiert. Denken wir an die erstgeborenen Töchter aus der ersten Ehe des Vaters, an Schneewittchen und Aschenputtel, die einen Opfergang für die nicht geehrte verstorbene Mutter antreten und von den Stiefschwestern geplagt werden. Von zwei Brüdern ist der Ältere meist der Klügere, der in jeder Situation einen Rat weiß. Der Jüngere hingegen erscheint dumm und ungeschickt, letzten Endes aber gewinnt er. Merkwürdigerweise bleibt der Erstgeborene so, wie er ist, während sich die märchenhafte Verwandlung um das Wunder des Lebensglücks beim Jüngeren abspielt. Ähnlich wird in der Bibel von zwei Schwestern gesprochen: Die ältere Martha ist die fleißige, pflichtbewusste, verantwortungsvolle, sachlich sorgende Schwester. Während sie sich mit vielen Diensten plagt, setzt sich die jüngere Maria Jesus zu Füßen und hört ihm zu. Wie gewohnt bemüht sich Martha, ihre jüngere Schwester zu erziehen. Aus diesem Grunde verpetzt sie diese bei Jesus. »Herr, kümmert es dich nicht, dass meine Schwester mich allein dienen lässt? Sag ihr doch, dass sie mit mir zufasst.« Doch Jesus deutet Marias Verhalten nicht in Marthas Sinne als Faulheit, sondern als »den gewählten guten Teil, der ihr nicht genommen werden soll«.

Genauso entsetzt war auch der erstgeborene Bruder, als sein jüngerer Bruder, der das Erbe nicht schätzte, sondern heillos verschleuderte und deshalb verloren ging, nach seiner Reue vom Vater liebevoll in den Arm genommen wurde. Wenn wir die Bibel aufschlagen, fällt auf, dass das Problem der Erstgeborenen zum Vorzeichen der ganzen Menschheitsgeschichte gesetzt wurde: Kain, das erste Kind von Adam und Eva, und der zweitgeborene Abel. Der Entwurf des Urdramas, ein prägendes Muster: Ein Kind wird weniger als das andere geliebt, obwohl es sich bei den Eltern um Anerkennung bemüht. Es plagt sich mit dem Schmerz des Unrechts und der Eifersucht, und die Eltern scheinen den Schmerz gar nicht wahrzunehmen. Obwohl jeder von den beiden nach seinen Möglichkeiten ein Opfer darbringt – Kain opfert als Ackerbauer von den Früchten des Feldes und Abel als Schafhirt das Fett von den Erstlingen seiner Herde –, »schaute Jahwe gnädig auf Abel und sein Opfer. Auf Kain und sein Opfer aber schaute er nicht. Deshalb wurde Kain sehr zornig.« Als er dann auch noch von Jahwe getadelt wird, nimmt Kain den bevorzugten Rivalen Abel aufs Feld mit und tötet ihn. Von Jahwe wird er verflucht und vertrieben. Er muss jedoch nicht mit dem eigenen Tode sühnen, wie es die alttestamentarische Ordnung und das normale Gerechtigkeitsgefühl nahe legen würden. Jahwe entscheidet völlig anders: Kain darf von niemandem getötet werden. Um von jedem erkannt zu werden und damit ihn nicht jeder, der ihn fände, töte, bekommt Kain stattdessen auf die Stirn ein Merkmal als Schutzmarke. So soll er »unstet und flüchtig auf Erden sein«, im Grunde eine lebenslängliche Plage. Unmittelbar darauf...