Einfach weitertanzen - Von der Kunst, erwachsen zu werden

von: Katharina Höftmann

Heyne, 2014

ISBN: 9783641124236 , 208 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 6,99 EUR

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Einfach weitertanzen - Von der Kunst, erwachsen zu werden


 

Über sieben Brücken – oder die Frage: Wann ist das alles so kompliziert geworden?

Alles tut weh. Hals. Kopf. Nacken. Schultern sowieso. Beine. Bauch. Und Füße. Ich bin die Art von krank, bei der man sich kaum noch erinnern kann, wie sich Gesundsein anfühlt. Es ist die Art von Krankheit, die elementare Fragen des Daseins aufwirft. Wer bin ich und wenn ja, warum so krank?

Es muss wohl eine Grippe sein. Oder irgendeine andere vernichtende Krankheit, die sich in den Ackerhallen verbreitet. Das war der letzte Ort, an den ich mich vor meinem Sterben begeben habe. Die Ackerhallen in Berlin-Mitte. Auch Fashion-Rewe genannt. Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Einkauf dort, vor sechs Jahren. Als ich, die alte Umzugshose tragend, nur mal kurz zum Supermarkt neben der neuen Wohnung wollte. ER und ich waren gerade zusammengezogen, und das war … Aber ich greife vor. Ich also in die sorgfältig für Salami und Gemüse ausgeleuchteten Ackerhallen. Doch im Angesicht ihrer Konsumenten verblassten die Lebensmittel völlig. Im ersten Moment dachte ich, ich sei in eine Art Guerilla-Fashion-Show hineingeraten. Eine große Dürre im Couturekleid lief mit großen, federnden Schritten an den saftigen Tomaten vorbei. Sie sah aus, als hätte man sie gerade aus der neuen Vogue oder dem VICE-Magazin herausgeblättert. Links neben der Wurst posierte ein schneidiger Kerl, Typ Max Herre, mit dunklen Locken und Vollbart, den grauen Schal lässig über die schmalen Schulterblätter gelegt. Die kaputte Jeans genau richtig kaputt. Das Second-Hand-T-Shirt nur auf den ersten Blick alt und abgenutzt. Und dazwischen ich. Mit verklebten Haaren und Flecken auf der Hose. Wie ein CSU-Wähler auf dem CSD. Nur eben völlig anders unpassend.

Dieses Erlebnis war mir eine Lehre, weswegen ich die Hallen seitdem nur noch in durchgeplanten Komplett-Outfits betrete (außer frühmorgens, da schlafen die Kreativen noch). Mein stylischer Look hat mich aber leider nicht gegen ansteckende Mitte-Menschen-Viren immunisiert. Und deswegen bin ich ja jetzt auch so krank.

Ich schleppe mich zum Allgemeinarzt auf der Fischerinsel. Hier, in Berlins uncoolster Mitte, habe ich mal in einem der Hochhäuser gewohnt. Ganz am Anfang, als ich in die Hauptstadt gekommen bin, um mit 19 mein Psychologiestudium zu beginnen. Der Arzt heißt Jens und sieht aus wie Mister Big für Arme. Ich kann mir seinen Nachnamen nie merken, deswegen nenne ich ihn nur Dr. Jens.

Als ich 20 war, hat Dr. Jens mich mal gefragt, ob wir etwas essen gehen wollen. Da war er schon gute 35. Ich habe natürlich abgelehnt, mir aus purer Faulheit aber keinen neuen Allgemeinarzt gesucht. Ich habe ja eigentlich auch nie was. Bis. Ja, bis ich dann doch mal was habe. So wie jetzt.

Dr. Jens guckt mir in den Rachen. Tastet am Hals herum. Dann platziert er das kalte Stethoskop auf meinem Rücken.

»Ja. Is wohl ’ne Grippe«, sagt er schließlich so unmotiviert wie nur möglich.

»Können Sie mir bitte Antibiotika verschreiben?«, flehe ich.

»Hilft nicht bei ’nem Virus.« Dr. Jens’ wegwerfende Handbewegung verschwimmt schon vor meinen Augen.

»Ja, aber gegen die Halsschmerzen hilft nur das. Da sind auch Bakterien drin. Das weiß ich. Und dagegen brauche ich Antibiotika.«

»Schwanger?«

Ich schüttle vehement den Kopf. Etwas zu vehement für Dr. Jens’ Geschmack.

»Immer noch nicht?«

Hat der das jetzt wirklich gesagt? »Was soll das denn heißen? Wir probieren es doch gar nicht«, gebe ich vorsichtshalber zurück.

»Wie alt sind Sie jetzt?«, Dr. Jens tut gar nicht erst so, als würde er das in seinen Unterlagen nachsehen wollen.

»28.«

Dr. Jens nickt wissend.

»Ich habe ja wohl noch gut fünf Jahre Zeit«, protestiere ich. »Zur Not zumindest«, schiebe ich etwas leiser hinterher. Was will der Kerl von mir? Dr. Jens hat bestimmt selbst auch noch keine Kinder. Der sieht aus, als würde er sein ganzes Geld in einen weißen BMW und Reisen nach Las Vegas investieren.

»Fünf Jahre Zeit? Wo denn? In Hollywood?« Dr. Jens sieht mich halb zweifelnd, halb mitleidig an. »Wissen Sie denn nicht, dass es ab 25 abwärtsgeht? Ihr Gesicht, Ihr Körper, Ihre Haut, Ihr Gewebe, Ihre Knochen … das wird ja alles nicht besser! Und glauben Sie mir, Ihre Krähenfüße, die ich hier schon eindeutig sehen kann …« – er pocht schwungvoll auf meine Wangenknochen, als wolle er testen, ob meine Falten schon eigene Reflexe haben – »… sind nur das geringste Übel. Ganz zu schweigen von Ihren Eierstöcken – die schrumpfen Ihnen einfach so im Unterleib weg, und Sie merken es nicht mal. Ach so, und das Risiko, an einer schizophrenen Psychose, Angststörung oder Neurose zu erkranken, steigt selbstverständlich auch. Aber das muss ich Ihnen als Psychologin ja nicht sagen.« Dr. Jens lacht schallend. In diesem Moment wird mir klar, dass er etwas völlig anderes gesagt haben muss, als bei mir im Kopf angekommen ist. Ich habe halluziniert. Solche Dinge darf ein Arzt ja gar nicht sagen. Aber woher kommen plötzlich diese Gedanken? Wie kann eine einfache kleine Grippe derart existenzielle Fragen auslösen? Ticken in meinem aufgeblähten Bauch plötzlich so starke, durch chemische Reaktionen ausgelöste biologische Uhren, dass ich den Leuten Sachen in den Mund lege? Vielleicht stecke ich ja auch nur mitten in einem Fiebertraum. Ich verlasse Dr. Jens’ Praxis so schnell wie möglich. Schwester Anne-Kathrin ruft mir noch etwas hinterher. Aber meine biologische Uhr tickt so laut, ich höre sie nicht.

Vor der Praxis zücke ich mein iPhone. »Sofia«, schreie ich meine beste Freundin an, »unsere Eierstöcke schrumpfen! Die schrumpfen einfach weg! Und ER nimmt jetzt schon dieses Haarwuchs-Medikament, das die Spermien langsamer macht. Ogottogottogott.«

»Du willst doch noch gar keine Kinder«, schnauft Sofia mäßig interessiert. Meine liebe Freundin sitzt schon in ihrem Büro, vergisst aber immer, dass man sie über Facetime sehen kann.

»Ich sehe, dass du gelangweilt auf den Computer guckst. Hallo, kannst du mir mal zuhören?«

»Scheiß Facetime.« Sofia – seit wir uns kennen meine beste Freundin und außerdem meine zumeist besser funktionierende Gehirnhälfte – dreht sich langsam zu ihrem iPhone um, das wohl neben ihr auf dem Schreibtisch liegt. Jetzt sehe ich nur noch ihre Nasenlöcher.

»Beruhige dich. Es ist alles gut. Du bist gerade mal 28. Deine Eierstöcke strotzen nur so vor Kraft und Energie. Du hast alle Zeit der Welt. Abgesehen davon: Ich kann meinen 30. Geburtstag nicht erwarten! Endlich wissen wir, wer wir sind! Gott, was stehen da für großartige Zeiten an!« Die Nasenlöcher haben gesprochen.

Ich lege auf und drehe mich kurz um die eigene Achse. Die gute alte Fischerinsel umgibt mich wie ein warmer Schoß. Vor dem trüben Kanal die grauen Hochhäuser. Daneben der abgekämpfte Edeka, der früher mal Spar hieß. Dort die Schwimmhalle mit dem Flachdach. Ein Stück DDR mitten in Berlins Mitte. Wir wissen, wer wir sind, hat Sofia gesagt. Es war wohl kein Zufall, dass ich, geboren in einem Land, das es nicht mehr gibt, aufgewachsen zwischen Plattenbauten, ausgerechnet hier in einer Dreier-WG landete, als ich nach Berlin gezogen bin. Alle wollten in einen Altbau mit abgezogenen Dielen und Flügeltüren. Und ich strandete im elften Stock eines Plattenbau-Hochhauses und fühlte mich sofort heimisch. Hier auf der Fischerinsel ist immer noch alles wie vor zehn Jahren. Wahrscheinlich sogar wie vor 30 Jahren. Langsam schaue ich an dem grauen Gebäude hoch, das mal mein Zuhause war. Erinnerungsfetzen an vergangene Zeiten blitzen mir durch den Kopf. Partys, haarige Jungs und Frühstücke mit Fremden, die mir von der Bar 25 nach Hause gefolgt sind. Eine schmuddelige Küche und mein kleines 18-Quadratmeter-Zimmer, das immer aussah, als hätte dort gerade ein Junkie nach Drogen gewühlt. Unser Hängemattensitz im knallrot gestrichenen Wohnzimmer, auf dem ich mich manchmal sonnte, indem ich einfach das Fenster öffnete. Das kleine Bad mit dem großen Kurt-Cobain-Poster, das man gezwungenermaßen anstarrte, wenn man auf dem Klo saß. Wechselnde Mitbewohner und am Ende, nach fast vier Jahren, das Gefühl, es nicht abwarten zu können, dort herauszukommen.

Einerseits fühlt es sich wie ein anderes Leben an, andererseits spüre ich das alles noch so intensiv, als wäre es erst gestern zu Ende gegangen und nicht schon vor vielen Jahren. Es wäre schlimm, wenn sich seitdem nichts verändert hätte. Wenn man nicht erwachsener geworden wäre. Aber fühle ich mich schon erwachsen?

Was heißt das denn überhaupt, erwachsen werden? Während sich die Pubertät durch ein sichtbares, äußerliches Wachstum ankündigt, ist der Prozess des Erwachsenwerdens deutlich diffuser und schwieriger zu definieren. Ich versuche es trotzdem mal:

Bis Mitte 20 hängt der Lebenshimmel noch voller Geigen. Alles wird immer nur besser. Mehr Freiheit, mehr Party, mehr Persönlichkeit, mehr Spaß. Man zieht bei den Eltern aus und geht wann und mit wem man will ins Bett. In schmuddeligen WG-Küchen diskutiert man engagiert über die großen...