Ohnmacht der Helfer - Reaktionen erster Ansprechpartner nach sexueller Gewalt

von: Monika Schwarz

Tectum-Wissenschaftsverlag, 2013

ISBN: 9783828856363 , 124 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 19,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Ohnmacht der Helfer - Reaktionen erster Ansprechpartner nach sexueller Gewalt


 

3. Empirische Untersuchung

3.1 Struktur

In der empirischen Sozialforschung werden Hypothesen und Theorien über die Beschaffenheit der Wirklichkeit entwickelt und mit empirischen Daten aus Befragungs- oder Beobachtungsstudien geprüft. Grundlage jeglicher wissenschaftlicher Untersuchung ist eine Dreiteilung der wichtigsten Forschungskriterien in Entdeckungszusammenhang, Begründungszusammenhang sowie Verwertungszusammenhang.34 Auch wenn diese drei Strukturelemente nachfolgend einzeln näher erläutert werden, so sind sie in der Forschungspraxis nicht getrennt voneinander zu betrachten.

3.1.1 Entdeckungszusammenhang

Unter dem Begriff Entdeckungszusammenhang ist die Fragestellung bzw. die Definition eines sozialen Problems zu verstehen, welches untersucht werden soll. Dieser Anlass, welcher auch „Interessensbasis“35 genannt wird, bezeichnet verschiedene Gründe für den Beginn der Untersuchung. Zum einen können aktuelle soziale Probleme untersucht und somit möglicherweise zu deren Klärung beigetragen werden. Weiterhin könnte auch das Vorliegen eines Forschungsauftrages eine systematische Untersuchung begründen, um daraus resultierend praktische Handlungsmöglichkeiten zu ermitteln. Während Friedrichs Definition in dem Anlass einer empirischen Sozialforschung immer ein soziales Problem einbezieht, welches es zu untersuchen gilt36, so benennen Pfeiffer und Püttmann im weiteren Sinne auch Gespräche oder die Suche nach einer Forschungsidee als Entdeckungszusammenhang.37 Aus den vorher genannten Beweggründen ist jedoch grundsätzlich erkennbar, dass diese im Vorfeld einer wissenschaftlichen Untersuchung abzuwägen sind und sich in direkter Abhängigkeit vom Interesse und Standpunkt des Forschers befinden. Friedrich definiert bezüglich der Wertigkeit wissenschaftlicher Studien:

„Die Exploration ist

- um so nützlicher, je mehr gegensätzliche und dem Vorverständnis des Forschers widersprechende Aspekte des Problems gesammelt werden;

- um so notwendiger, je weniger Literatur zu dem Problem vorliegt und je weniger Gesetze von allgemeiner Gültigkeit herangezogen werden können;

- um so relevanter, je eher man vermuten kann, hierdurch das begrenzte Problem auf ein allgemeines, d. h. die speziellen Hypothesen auf allgemeine Gesetze zurückführen zu können.“38.

Hinsichtlich der im Vorfeld gesammelten Erfahrungen besitzt die vorliegende Untersuchung einen entsprechend hohen Nutzen. Sie ist aufgrund des geringen bisherigen Forschungsinteresses am mütterlichen Verhalten in Aufdeckungssituationen notwendig.

3.1.1.1 Forschungshintergrund

Der Anlass der hier durchgeführten Untersuchung ist zunächst als eine Interessensbildung aufgrund einer Fernsehsendung und darauf folgenden Gesprächen zu benennen. Innerhalb persönlicher Kontakte beschrieben Opfer sexualisierter Gewalt stets den Tathergang in Verbindung mit ersten folgenden Gesprächssituationen. Es war auffällig, dass die Versuche, sich anderen, nahe stehenden Personen zu öffnen, ein sehr bedeutsamer aber auch belastender Schritt für die Opfer war. Die Äußerungen der Betroffenen legten eine Bildung von Hypothesen nah, welche später als Inhalt dieser wissenschaftlichen Untersuchung definiert werden sollen. Während der durchgeführten Exploration kristallisierte sich bereits bei der vorangehenden Suche nach vorliegenden Theorien oder Forschungsergebnissen heraus, dass den ersten Gesprächssituationen nach sexuellen Übergriffen bisher wenig Bedeutung seitens der Wissenschaft zuteil wurde. So gehen Hilfsorganisationen bei der Bearbeitung des Themas stets von einem besorgten familiären Umfeld aus. Dies zeigt sich anhand der Darstellungen in Broschüren sowie auf Homepages von Opferhilfevereinen. So schreibt beispielsweise das Landeskriminalamt Baden-Württemberg auf der Homepage der Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes: „Ein Kind wird ‚entführt, missbraucht, ermordet’ – die Angst davor erschreckt und beunruhigt Eltern zutiefst. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind Opfer eines derartigen Verbrechens wird, ist äußerst gering.“39.

Zwar wird im nachfolgenden Text darauf eingegangen, dass die Täter meist im sozialen Nahfeld der Kinder zu finden sind, jedoch hat dies keinen Einfluss darauf, die Rolle und besonders die Reaktion der Eltern einer kritischen Analyse zu unterziehen. Einzig von Betroffenen initiierte Homepages räumen mittels Erfahrungsberichte ein, dass Eltern als erste Ansprechpartner auch negativ reagieren oder die Übergriffe selbst initiieren können.40 Es entstand somit schon in der ersten Phase der Untersuchung der Eindruck, dass gängige Auffassungen über Reaktionen erster Ansprechpartner nach sexuellen Übergriffen nicht mit den geäußerten Opfererfahrungen übereinstimmten.

3.1.1.2 Vorliegende Studien

Wie im Kapitel 3.1.1.1 beschrieben, lagen dieser Ausarbeitung wenig aktuelle wissenschaftliche Studien vor, welche der Orientierung dienen konnten. Ein Großteil auffindbarer deutscher Untersuchungen beschäftigte sich mit Übergriffen aus der Sicht der Opfer. So wertete beispielsweise Baurmann im Auftrag des BKA von 1969 bis 1972 alle angezeigten Sexualkontakte in Niedersachsen quantitativ aus. Es erfolgte in dieser Längsschnittstudie eine Kategorisierung sexueller Übergriffe anhand der damaligen gesetzlich formulierten Straftatbestände, wie „exhibitionistische Handlungen“ oder „Beischlaf zwischen Verwandten“. Weitere erfragte Informationen bezogen sich auf das Familienmilieu, Schullaufbahn der Betroffenen, Vernehmungen sowie eine subjektive Schadenseinschätzung.

Eine Häufung quantitativer Studien zum Thema sexuelle Gewalt lässt sich in den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts finden. Innerhalb dieser Zeit führten beispielsweise Bange und Deegener eine der umfangreichsten Dunkelfeldstudien durch. Es wurden dabei Studierende, sowie Berufs- und Fachschüler aus den Städten Dortmund und Homburg nach sexuellen Gewalterfahrungen vor dem 16. Lebensjahr befragt.41

Weitere studentische Stichproben wurden unter anderem 1991 von Schötensack, Elliger, Gross und Nissen sowie von Raupp und Eggers im Jahre 1993 quantitativ befragt. Beide Untersuchungen hatten als Inhalt die Prävalenz sexueller Gewalt gegenüber Männern und Frauen, wobei weitere Faktoren wie Umfeld, Biografie oder Situationen nach den Übergriffen nur geringfürgig Betrachtung fanden. Lediglich in der quantitativen Studie durch Richter – Appelt und Tiefensee im Jahr 1994 wurde auf dem damaligen Gebiet der BRD bislang die Frage eines möglichen Zusammenhanges von innerfamiliärer physischer Gewalt und späterer Sexualität der Opfer aufgegriffen. Für die Studie wurde ein umfangreicher Fragebogen entwickelt, welcher neben demographischen Daten sexuelle Erfahrungen und körperliche Umgangsformen sowie Aspekte der sozialen und familiären Situation, aber auch der elterlichen Partnerschaft sowie der Eltern-Kind Beziehung erfasste.

Im Jahr 1997 wurde eine deutsche Studie von Tiefensee publiziert, welche auf die Eltern-Kind Beziehung fokussiert war. Auslöser dieser Exploration war Tiefensees Kritik an der isolierten Betrachtung sexueller Gewalt in bisher durchgeführten wissenschaftlichen Studien. Diesbezüglich schreibt sie: „Entweder werden Eltern-Kind-Beziehungen in Familien, in denen ein Kind Opfer von sexuellen Übergriffen wurde, ohne weitere Differenzierungen hinsichtlich der sozialen Nähe zum Täter betrachtet, oder es werden spezielle Inzestopfer herausgegriffen.“42.

Dementsprechend betrug der Forschungsinhalt dieser quantitativ durchgeführten Untersuchung die Auswirkung des Erziehungsverhaltens auf gesundheitliche Besonderheiten, welche aus sexuellen Gewalterlebnissen von Mädchen resultierten. Tiefensee grenzte dabei die Betrachtung eines möglicherweise negativen Elternverhaltens aus und konkretisierte ihre Studie vornehmlich auf positive Einflussmöglichkeiten elterlicher Reaktionen.

Im Vergleich zu den bisher aufgezählten Studien wurden jedoch auch qualitative Befragungen durchgeführt. So interviewte Eva Breitenbach bereits 1987 von Gewalt betroffene Mütter, wobei eine Auswertung dieser Ergebnisse erst fünf Jahre später veröffentlicht wurde. Innerhalb dieser qualitativen Untersuchung nahmen sechs Mütter von kindlichen Opfern sexueller Gewalt die Rolle der Befragten ein. Sie sprachen über ihre Vorstellungen von Mutterschaft, Sexualität, sexuelle Gewalt und Beziehungen. Die durchgeführten Interviews bezogen sich thematisch sowohl auf die Zeit vor als auch nach Entdeckung der sexuellen Übergriffe. Breitenbach führte diese Studie durch, da es viel Material über die Mütter sexuell ausgebeuteter Kinder gibt „und zwar vornehmlich aus der Sicht der Täter, der Opfer und der Therapeuten und Erforscher der Täter und Opfer“43. Eine Bewertung und Interpretation des mütterlichen Handelns erfolgte demnach nicht in Auseinandersetzungen mit den betroffenen Müttern selber, sondern nur über sie. Die Interpretation der von Breitenbach gewonnenen Daten erfolgte anhand einer Beurteilung der Beziehungen zwischen den jeweiligen Müttern und ihren Kindern. Parallel dazu führte Gerwert 1996 problemzentrierte Interviews mit 14 Müttern, deren Kinder von sexualisierter Gewalt betroffen waren. Schwerpunkt dieser Studie war, ebenso wie bei Breitenbach, das Verstehen mütterlicher Erlebnis- und Verarbeitungsweisen44. Gerwert teilte dazu das Erleben der Mütter in fünf Krisen ein, welche bei Bekanntwerden der Übergriffe konfrontierend wirken. Diese Krisen bezogen sich auf die Partnerschaft, das Selbstbild, die Mutterrolle, soziale sowie materielle Faktoren.

3.1.2....