Brücken bauen - Perspektiven aus dem Einwanderungsland Deutschland

von: Bertelsmann Stiftung

Verlag Bertelsmann Stiftung, 2013

ISBN: 9783867935425 , 204 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: frei

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Preis: 3,99 EUR

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Brücken bauen - Perspektiven aus dem Einwanderungsland Deutschland


 

Typisch deutsch!? – Die Veränderung des Deutschseins


Andreas Wojcik

Was heißt es in meiner Wahrnehmung, deutsch zu sein? Ist das die Herkunft oder ist es viel mehr? Ich bin in Polen geboren, in Polen zur Schule gegangen, habe polnisch gesprochen, gesungen, gegessen und mich durch und durch als Pole gefühlt. Als ich 16 Jahre alt war, erfuhr ich von meiner Großmutter, dass ich deutscher Herkunft bin. Was für ein Gefühl sollte ich nun entwickeln – als Deutscher und Pole zugleich? Diese besondere Situation griff tief in meine Gefühlswelt ein, hatte ich doch in der Vergangenheit gelernt, ein guter Pole zu sein. Von heute auf morgen prüfte ich alle meine Handlungen und meine Gedanken unter diesem neuen Aspekt: deutsch oder polnisch? So begann meine Auseinandersetzung mit dem Deutscher-Sein im Vergleich zum Pole-Sein.

Von nun an prüfte ich quasi in einer Art Selbstkontrolle mein Handeln unter zwei Gesichtspunkten: Was an mir ist deutsche Wesensart und was ist polnische Wesensart? Von meiner Schulbildung und meinem damaligen Umfeld her war ich antideutsch geprägt. Als Schüler in einem sozialistischen System lernte ich Deutschland nur als Bedrohung – den Klassenfeind – für unser polnisches Vaterland kennen. So lernten wir in der Schule beispielsweise, dass die deutschen Kreuzritter das Gebiet der Pruzzen besetzt und sie mit Feuer und Schwert christianisiert hatten. Da sie aus ihrem herrschaftlichen Selbstverständnis heraus an die sie umgebenden Völker ständig Gebietsansprüche stellten, war der Deutschritterorden für Litauer und Polen eine immerwährende Bedrohung, die ihren Höhepunkt in der Schlacht bei Grünwald 1410 fand. Dieses Feindbild hatte sich bei mir bis zur Ausreise nach Deutschland verfestigt. Gleichzeitig lernte ich, die Vorzüge des Sozialismus in all seinen Ausprägungen zu lieben. Mit diesen Einstellungen fuhr ich in den Westen.

Erste Erfahrungen beim Klassenfeind


Hier angekommen suchte ich sofort nach dem Klassenfeind. Ich ging mit meiner Tante in den Supermarkt und war erstaunt über das üppige Angebot, das der Klassenfeind (Kapitalismus) seinen Bürgern gegen Bezahlung zur Verfügung stellte. Dies glich ich mit einem gleichwertigen Geschäft in Brzeg ab und kam zu dem Ergebnis: 1:0 für den Kapitalismus. Das hatte nichts mit dem Wesen der Deutschen zu tun, sondern galt lediglich meiner ersten positiven Erfahrung.

Mein nächstes einschneidendes Erlebnis war der Besuch einer deutschen Schule. Ich wurde zu Beginn meiner schulischen Laufbahn in Deutschland auf die Hauptschule verwiesen, obwohl ich polnischer Gymnasiast in der Oberstufe war. Schon nach wenigen Tagen stand es in der Bewertung zwischen West und Ost 1:1, konnte ich doch behaupten, dass meine Mitschüler im Vergleich zu meinem Bildungsstand erheblichen Nachholbedarf hatten. Noch mehr erstaunte mich ihre Sozialisierung. Galten für mich nach wie vor die deutschen Tugenden Sauberkeit, Pünktlichkeit, Ordnungsliebe, Gehorsam, hatten meine Klassenkameraden von all dem offenbar noch nie was gehört.

Es galt, mich so schnell wie möglich anzupassen. Dafür musste ich mich nicht besonders anstrengen. Und niemanden in meiner Klasse störte meine holprige deutsche Aussprache, da die meisten dies bei einem Jungen mit Zuwanderungsgeschichte ganz normal fanden. Auch für die Lehrkräfte war mein mangelndes Sprachvermögen kein Problem, denn sie waren die Vielsprachigkeit gewohnt und machten kein besonderes Aufheben davon. Da ich bald durch glänzende Noten auffiel, verhalfen mir die Lehrer, vor allem der Direktor der Schule, zum Wechsel auf ein Gymnasium. In dieser Lebensphase bestanden meine sozialen Kontakte ausschließlich zu Menschen, die ebenfalls eine Zuwanderungsgeschichte hatten. Diese Kontakte waren multikulturell und sind bis heute Bestandteil meines Lebens.

Der Wechsel zum Gymnasium verlief völlig problemlos, da mir der Stoff im Wesentlichen bekannt war. So ergaben sich für mich Möglichkeiten in anderen schulischen Bereichen, wie etwa Deutschförderunterricht, um meine Sprachkenntnisse zu verbessern. Mit 17 Jahren war ich der deutschen Sprache so mächtig, dass ich bei allgemeinen wissenschaftlichen Themen mitreden konnte. Parallel dazu war die wirtschaftliche Situation meiner Familie ausreichend, sodass für mich ein Leben in der Wohlstandsgesellschaft möglich war, aus der heraus ich meine Zuwanderungsgeschichte verdecken konnte.

Was ist Freiheit?


Ich begann die beiden Systeme unter folgendem Gesichtspunkt zu vergleichen: War Freiheit der Begriff, der systemisch über allem stand, und erlaubte er mir im Beziehungsgeflecht meiner Lebenserfahrung eine Definition, welche sich mit der politischen Bedeutung des Begriffs deckte? Wenn Freiheit die freie Verfügbarkeit von Waren und Meinungen meint, dann hatte ich in meinem Heimatland auch eine gewisse Freiheit erlebt, und zwar die Freiheit im Geiste und die Freiheit durch Mangel. Damit will ich sagen, dass der Mangel an Waren eine deutlich menschlichere und harmonisierende Wirkung auf mich hatte, weil es eine Form von Gleichheit unter den Menschen gab, welche sich mehr mit dem Individuum in seiner Not und in seiner Vertrautheit politischer Unwägbarkeit beschäftigte. Das heißt, die sozialen Unterschiede waren erkennbar gering und erlaubten mir ein Lebensgefühl von Gleichen unter Gleichen. Das meint nicht die Harmonisierung einer Gesellschaft, sondern eher »verfügbare« Menschlichkeit.

Ganz anders in meiner neuen Heimat. Hier roch alles nach Freiheit, denn ich konnte mit dem riesigen Warenangebot Lust befriedigen, die ich bis dahin in dieser Art gar nicht kannte, welche mich aber gleichzeitig auch isolierte, da es hieß: nicht anfassen, nur gucken! Ich brauchte mit niemandem zu reden, ich brauchte niemanden zu fragen, ich war Herr all dieser Dinge – doch nie Eigentümer, da ich die Wunschliste aus finanziellen Gründen nicht erfüllen konnte. Wenn ich jetzt also Freiheit meinte, so konnte ich diesem Gefühl nur folgen, indem ich mich dem kapitalistischen System unterwarf – diese Freiheit kann man nur leben, wenn man die Systematik des Systems akzeptiert. Wer also wie ich in einem System der menschlichen Hilfsbereitschaft groß geworden ist, scheitert unversehens an der Wirklichkeit des Kapitalismus. Mein jugendliches Fazit war: lernen, lernen, lernen, um mit möglichst hoher Bildung ein auskömmliches Einkommen zu erzielen und damit alle Wünsche erfüllbar zu machen. Dies bedeutete für mich einen klaren Punkt für das Miteinander in meiner alten Heimat (1:2).

Politisches Engagement


Aufgrund dieser Erkenntnis begann ich, mich für Politik zu interessieren. Zunächst übte ich mich im demokratischen System der freien Wahl, indem ich mich als Einzelkandidat in den Ausländerbeirat wählen ließ. Hier bin ich kläglich gescheitert, musste ich doch erkennen, dass dieses Einzelkämpfertum nicht erfolgreich sein kann. Es war notwendig, gruppenbildende Maßnahmen einzuleiten. Die gute Idee, der gute Wille allein sind im freiheitlich kapitalistischen System nicht zielführend. Ich war gezwungen, meine Vorstellungen und Ideen einem Gruppenziel unterzuordnen, denn ich brauchte eine Mehrheit. Also musste ich meinen freien Geist so weit »herunterbrechen«, dass meine Ideen gruppenkonform werden konnten – und das bedeutete, dass ich Mitglied der CDU wurde! In die Sozialdemokratische Partei konnte und wollte ich nicht eintreten, weil ich für eine begrifflich saubere Definition von Sozialdemokratie und Sozialismus noch nicht reif war. Vorbehaltlich aller Zweideutigkeiten geht an dieser Stelle ein Punkt an den Westen und die Wertesysteme meiner alten und meiner neuen Heimat sind nach meinem Empfinden ausgeglichen (2:2).

Meine Bemühungen als Mitglied der CDU waren und sind getragen von der Idee, dass viele Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in unserem Land keine wirkliche politische Interessengruppe hinter sich haben. Dies wird deutlich in der Haltung der Parteien. Bisher, so empfand ich es, waren in den Vertriebenenverbänden die politischen, meinungsbildenden Interessen vertreten, welche aber mit einem gänzlich anderen Ansatz operierten als meinem. Denn der bedeutet Integration statt Ausgrenzung. Im freien Westen eine eigenständige Meinung mehrheitsfähig zu machen, verlangt jedoch eine ordentliche Portion Optimismus, Begeisterungsfähigkeit und unerschütterlichen Glauben an die systemische Veränderungsmöglichkeit. Vorausgesetzt, dieser Satz entspricht der Wahrheit: Haben alle Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in Deutschland die Möglichkeit, ihre Meinung, ihre Wünsche und ihre Interessen innerhalb einer Gruppe zu vertreten?

Das Problem mit dem Begriff »Patriotismus«


Auf dem Weg zur Gründung der »Migranten-Union«, die als Vereinigung innerhalb der CDU die Interessen von Mitgliedern mit Zuwanderungsgeschichte wahrnehmen und vertreten möchte, habe ich viele Gespräche mit Politikern und sozial verantwortlichen Menschen hierzulande geführt. Das Ziel ist die Etablierung einer politischen Willkommenskultur. Hierzu möchte ich einen Beitrag leisten, damit Menschen mit Zuwanderungsgeschichte...