Muss Strafe sein? - Positionen der Philosophie

von: Norbert Hoerster

Verlag C.H.Beck, 2012

ISBN: 9783406629921 , 144 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,49 EUR

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Muss Strafe sein? - Positionen der Philosophie


 

II
Strafe zur Vergeltung?


Beginnen wir nun mit dem Vergeltungskonzept der Strafe und seinem Für und Wider. Eine Strafe ist, wie wir sahen, stets die Zufügung eines Übels in Reaktion auf eine (angenommene) Normverletzung. Eine Normverletzung ist also die unabdingbare Voraussetzung des anschließenden Strafübels. Wenn das aber richtig ist, spricht das dann nicht für die folgenden ethischen Positionen? 1. Nur der Täter einer begangenen Normverletzung darf bestraft werden. Keinesfalls darf man jemandem das Strafübel für eine Tat zufügen, die ein anderer begangen hat. Und 2. Die Rechtfertigung für die Zufügung des Strafübels kann nur darin liegen, dass dem Täter das durch seine Normverletzung angerichtete Übel mit dem Strafübel vergolten wird. Durch die Strafe wird so die Normverletzung in einem gewissen Sinn wieder ausgeglichen. Die Strafe zum Zweck der Vergeltung einer begangenen Normverletzung dient insofern nichts anderem als dem Ziel der ausgleichenden Gerechtigkeit.

Diese Sicht der Dinge mag auf den ersten Blick plausibel erscheinen. Bevor ihr jemand aber wirklich zustimmt, sollte er Folgendes bedenken. Die ausgleichende Gerechtigkeit spielt bei den meisten strafbaren Handlungen ohnehin schon, auch wenn diese Handlungen gar nicht bestraft würden, eine äußerst wichtige Rolle. Denn die meisten strafbaren Handlungen – wie etwa Diebstahl oder Körperverletzung – sind ja nicht nur Straftaten, sondern fügen außerdem einem anderen Menschen, dem Opfer der Straftat, einen erheblichen Schaden zu. Das aber bedeutet: Die ausgleichende Gerechtigkeit verlangt selbstverständlich, dass dieser Schaden ausgeglichen oder wiedergutgemacht, das heißt dass er – der geschädigten Person gegenüber – vergolten wird. Diese Form der ausgleichenden Gerechtigkeit bzw. Vergeltung unterliegt dabei überhaupt keinem Zweifel und wird auch überall anerkannt. Nur: Sie hat, wie ich schon deutlich gemacht habe (S. 12), mit einer Strafe nichts zu tun! Im Übrigen wird sie dem Opfer der Straftat in der Regel auch nicht von dem zuständigen Strafrichter, sondern in einem eigenen Verfahren von einem Zivilrichter zugesprochen. Die Strafe ist in all diesen Fällen ein Übel, das dem Täter neben seiner Verpflichtung zum Schadensersatz noch zusätzlich auferlegt wird.

Gleichwohl haben viele Menschen durchaus so etwas wie ein spontanes Bedürfnis nach einer strafenden Vergeltung typischer Übeltaten wie der oben genannten: Wer willentlich einen anderen Menschen bestohlen oder verletzt hat, soll – ganz unabhängig von seiner Verpflichtung zur Wiedergutmachung des angerichteten Schadens – zusätzlich dafür büßen. Dieser Forderung würden, wie gesagt, wohl viele Menschen ohne weiteres zustimmen. Das Ziel einer solchen Strafe zur Vergeltung, einer solchen Vergeltungsstrafe, scheint dabei jedenfalls auf den ersten Blick rein rückwärts gerichtet zu sein: Welche Folgen die Strafe in der Zukunft für den Bestraften selbst oder für die Gesellschaft insgesamt hat, bleibt bedeutungslos. Es geht allein darum, dass dem Täter seine Normverletzung oder Übeltat durch die Zufügung des Strafübels angemessen vergolten wird.

Dabei ist dieses Bedürfnis des Normalbürgers nach Vergeltung sicher nicht bei allen Menschen, die es besitzen, gleich stark ausgeprägt. Nicht auf jeden Menschen, der sich an das Recht hält, trifft die Behauptung der Bibel zu: «Wenn er die Vergeltung sieht, freut sich der Gerechte; er badet seine Füße im Blut des Frevlers» (Psalmen 58,11). Eine besondere Bedeutung gewinnt die Vergeltung normalerweise jedoch für jene Menschen, die selbst Opfer einer Straftat sind. Das Bedürfnis nach Vergeltung wird hier nicht selten zu einem Bedürfnis nach persönlicher Rache. Dabei gehen dieses Bedürfnis nach Rache und das oben erwähnte, fraglos gerechtfertigte Bedürfnis nach Schadensersatz häufig ineinander über. Und dieser Übergang ist besonders in jenen Fällen leicht nachvollziehbar, in denen ein Schadensersatz aus bestimmten Gründen gar nicht oder nicht in vollem Umfang geleistet werden kann.

Man denke in diesem Zusammenhang zum einen an solche Fälle, in denen der Täter finanziell nicht in der Lage ist (und vielleicht nie in der Lage sein wird), den durch seine Straftat angerichteten Schaden in vollem Umfang zu ersetzen. Auf nicht wenige Täter, die etwa ein Haus in Brand gesetzt haben, dürfte dies zutreffen. Und man denke zum anderen an solche Fälle, in denen der angerichtete Schaden seiner Natur nach gar nicht angemessen ersetzt werden kann. Dies trifft etwa auf eine Körperverletzung mit Folge einer Querschnittslähmung und erst recht auf eine Tötung zu. Es liegt natürlich nahe, dass in solchen Fällen die Opfer der Tat bzw. ihre engsten Angehörigen in besonderem Maße dazu neigen, die Täter zum Ausgleich für ihre Tat, die sich nicht wiedergutmachen lässt, wenigstens das Strafübel erleiden zu lassen.

Es ist wichtig zu sehen, dass die Berufung auf ein verbreitetes Bedürfnis nach Vergeltung nicht dasselbe ist wie die eigentliche, klassische Vergeltungstheorie. Für die Vergeltungstheorie, wie sie in verschiedenen Versionen in diesem Kapitel zur Diskussion steht, ist die Forderung nach Vergeltung eine der Erkenntnis zugängliche Forderung der Gerechtigkeit, die von einem auf Vergeltung gerichteten Interesse oder Bedürfnis der Menschen völlig unabhängig ist. Es ist nach dieser Theorie eine den Menschen vorgegebene, mit der bloßen Vernunft erfassbare Norm, die die Vergeltung durch Strafe fordert, nicht irgendein empirisch vorhandenes menschliches Bedürfnis, das die Strafe allenfalls für die Besitzer dieses Bedürfnisses, also subjektiv begründen kann.

Damit soll nicht gesagt sein, dass zwischen der Vergeltung fordernden, objektiv vorgegebenen Norm und dem empirischen Bedürfnis nach Vergeltung nicht ein enger Zusammenhang bestehen kann. Es spricht einiges dafür, dass jene Menschen, die dieses Bedürfnis haben und es im Sinn eines berechtigten Interesses auch nach außen vertreten und geltend machen, außerdem von der objektiv gegebenen Legitimation einer Vergeltungsstrafe auch durchaus überzeugt sind. Insofern ist zwar nicht die tatsächliche Möglichkeit einer objektiven Rechtfertigung der Vergeltung, wohl aber die Überzeugung von der Möglichkeit dieser Rechtfertigung unter Umständen die Voraussetzung für ein faktisch vorhandenes Vergeltungsbedürfnis bzw. Vergeltungsinteresse. Inwieweit jedoch überhaupt ein Bedürfnis nach oder Interesse an Vergeltung bei der Begründung von Strafe eine Rolle spielen kann, werde ich in Kapitel IV noch erörtern.

Im vorliegenden Kapitel geht es allein um die Überzeugungskraft einer objektive Geltung beanspruchenden Vergeltungstheorie der Strafe. Eine solche Vergeltungstheorie lässt sich nur dann ethisch begründen, wenn auf philosophischem Weg ein objektiv geltendes moralisches Prinzip erweisbar ist, das als Reaktion auf eine Normverletzung ausdrücklich eine Strafe zur Vergeltung vorsieht. Es gibt in der Tat bedeutende Philosophen, die genau dies behauptet haben. Ihren Straftheorien wollen wir uns nun zuwenden.

1
Kants «Talionsprinzip»


Kaum ein anderer Philosoph hat sich so entschieden für eine reine Vergeltungsstrafe ausgesprochen wie Immanuel Kant (1724–1804). Seiner Auffassung nach kann Strafe «niemals bloß als Mittel» verhängt werden, um «ein anderes Gute zu befördern», sei es «für den Verbrecher selbst, oder für die bürgerliche Gesellschaft». Strafe darf und muss vielmehr «nur darum» gegen den Verbrecher verhängt werden, «weil er verbrochen hat». «Das Strafgesetz ist», wie Kant schreibt, «ein kategorischer Imperativ» und kann deshalb keinem weiteren Zweck dienen. Dabei muss «das Wiedervergeltungsrecht (ius talionis) … die Qualität und Quantität der Strafe» bestimmen. Das aber bedeutet, dass stets «Gleiches mit Gleichem» vergolten werden muss (Kant, S. 453f.).

Kant zeigt am Beispiel des Mordes sehr eindrucksvoll, wie er seine Vergeltungstheorie der Strafe im Einzelnen versteht und welche Konsequenzen er mit ihr verbindet: Wenn jemand gemordet hat, so Kant, dann «muss er sterben»; zur Todesstrafe gibt es «kein Surrogat zur Befriedigung der Gerechtigkeit». Und weiter: «Selbst, wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflösete (z.B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse, auseinander zu gehen, und sich in alle Welt zu zerstreuen), müsste der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind» (Kant, S. 455).

Wenn Kant in diesem Zusammenhang von einem «Verbrechen» (bzw. von einem «Verbrecher») spricht, so setzt er damit bereits voraus, dass die betreffende Handlung tatsächlich als rechtswidrige Handlung oder Verletzung der Rechtsordnung, die Strafe verdient, zu betrachten ist. Diese Voraussetzung bzw. Annahme bedarf natürlich, bezogen auf die jeweilige Handlung, einer besonderen Begründung, der wir uns in Kapitel V zuwenden...