Leben in der Kraft der Rituale - Religion und Spiritualität in Indien

von: Michael Brück, Regina Brück

Verlag C.H.Beck, 2011

ISBN: 9783406612435 , 320 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 17,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Leben in der Kraft der Rituale - Religion und Spiritualität in Indien


 

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Rituale als Übergang und Durchbruch


Ritualtheorien


Rituale prägen das Leben des Individuums wie der Gemeinschaft, und wir kennen keine menschliche Gesellschaft, in der Rituale nicht eine kulturgestaltende Rolle spielen. Rituale sind Rhythmisierungen von Ereignissen, und fast alles, was menschliche Lebenserfahrung ausmacht, kann durch Wiederholung rhythmisiert und ritualisiert werden. Ritualisierung tritt aber nicht erst im Rahmen sozialer Interaktion auf, sondern ist angelegt in der Art und Weise, wie Menschen die Welt wahrnehmen, im Bewusstseinsprozess also. Denn das menschliche Bewusstsein muss bei der Fülle von Eindrücken, die es zu verarbeiten hat, auswählen. Dabei ordnet es in zeitlich und räumlich strukturierten «Bündeln», die wiederum semantische Hierarchien ermöglichen. Nur dadurch können überhaupt Begriffe gebildet werden, das heißt, allein durch mentale Strukturierung kann etwas als etwas wahrgenommen werden. So ist beispielsweise Rhythmisierung die Voraussetzung dafür, nicht nur Geräusche wahrzunehmen, sondern Klänge zu erkennen, Farben in Qualitäten zu unterscheiden, ähnliche Formen einander zuzuordnen, kurz: mental eine geordnete Welt zu erschaffen. Einige Rhythmen sind kosmologisch vorgegeben, wie etwa die Rhythmen des Jahres oder von Tag und Nacht, andere sind biologisch bestimmt wie die Rhythmen von Schlafen und Wachen oder der Herz- und Atemrhythmus.

Im Ritual werden die Rhythmen von Raum und Zeit nachvollzogen und in menschlichem Erleben und Handeln abgebildet, und zwar auf individueller wie sozialer Ebene. Das wichtigste Medium der Ritualpraxis ist die Körpersprache. Rituale sind kollektiver Ausdruck dieser Sprache, sie sind Rhetoriken des Körpers, die sich in individueller und sozialer Gestaltung wechselseitig ausformen.

Solche Rhythmisierungen und Ritualisierungen sind somit Ausdruck primärer mentaler Strukturen, die im Übrigen nicht nur menschliches, sondern wahrscheinlich auch tierisches Wahrnehmen, Fühlen und Handeln prägen. Ohne diese Funktion wäre strukturiertes Erinnern und damit personale Identität undenkbar. Rituale dienen aber auch dazu, Störungen dieser rhythmisierten Weltwahrnehmung zu kompensieren, etwa wenn Schicksalsschläge die gewohnten Lebensbahnen erschüttern oder unvorhersehbare Ereignisse die Planungen und vermeintlichen Sicherheiten durchkreuzen.

Können aber alle Ritualisierungen im kulturanthropologischen Sinn als Rituale verstanden werden, nämlich als wiederholbare und dauerhafte Inszenierungen von Identitätsstiftung? Oder müssen nicht manche «Rituale» als versteckte oder offene Zwangshandlungen interpretiert werden?

Eine Unterscheidung von Ritual und Zwangshandlung ist fundamental für das Verständnis von Ritualen. Außerdem muss uns die Abgrenzung religiöser von nicht-religiösen Ritualen interessieren, auch wenn dies nicht eindeutig möglich ist, weil der Religionsbegriff in den Kulturen bekanntlich sehr verschieden gefasst werden kann. Dementsprechend haben die Kulturwissenschaften ganz unterschiedliche Ritualtheorien hervorgebracht, sodass man nicht nur von einer unüberschaubaren Fülle von Ritualen, sondern auch von Ritualtheorien ausgehen muss.[1]

Ein gewisser Konsens besteht heute darin, dass Rituale Formen der Inszenierung und Bewältigung von «Liminalität» sind, dass sie also Schwellensituationen bewusst machen und/oder erzeugen. Diese Schwellen können zeitlicher oder räumlicher Art sein. Zeitlich handelt es sich individuell um Übergangsrituale (rites de passage) von einem Lebenszustand in einen anderen, wie etwa Kindheit, Jugend, Reife, Alter oder Tod, und kollektiv um die zeitliche Ordnung gesellschaftlich akzeptierter Organisation, also beispielsweise den Festkalender, das Kirchenjahr, die Rhythmen von Herrschaftslegitimation (Inthronisierungen, Wahlen) oder arbeitsteiliger Organisation (Arbeitszeit gegenüber Freizeit). Räumlich werden durch Rituale Orte auf eine sinnstiftende Geographie bezogen, wie etwa die rituelle Vergegenwärtigung von Theophanien, die einen Ort «heiligen». Die Verknüpfung irdischer räumlicher Gegebenheiten mit einer Himmelsgeometrie verleiht dem scheinbar Zufälligen Bedeutung oder macht die geglaubte hintergründige Realität offenbar. Rituale inszenieren einen Weltzusammenhang und lassen das Zufällige als notwendig erscheinen. Dazu gehört auch, dass das Einzelschicksal im kollektiven Zusammenhang Sinn erfährt. Indem der Ritus vollzogen wird, zerfällt das Leben nicht mehr in unzusammenhängende Momente, sondern strukturiert sich entsprechend einer im Ritual selbst durch Wiederholung gesetzten Gesetzmäßigkeit. Diese Gesetzmäßigkeit ist es, die Religionen als «göttliche Schöpfungsordnung» bezeichnen. Im Ritual vergewissert sich der Mensch auch eines transzendenten Ursprungs und Ziels. Diese Transzendenz kann, muss aber nicht metaphysisch verstanden werden. Viele Rituale begnügen sich mit einer Verknüpfung der Ereignisse, die das Zufällige in eine sinnstiftende Erzählung einordnet.

Ritual ist Inszenierung gegen den Zufall, Einordnung bis hin zum Zwang, Erschaffung von Sicherheit und Gewissheit, die im Vollzug des Rituals habituiert wird und gerade auch indem sie unausgesprochen bleibt, Wirkung entfaltet. Denn das explizit gedeutete Ritual unterliegt immer der Reduktion auf Eindeutigkeit, einer von der Erfahrung und dem Denken abhängigen Perspektive. Implizites Wissen aber, die je konkrete existentielle Gewissheit, die sich im Ritual artikuliert, bleibt für viele Deutungen offen. Gewissheit ist nicht Resultat des Wissens, sondern Voraussetzung für das Vertrauen in die Verlässlichkeit von Wissen. «Gewissheit» ist eine präkognitive Qualität, die durch ritualisierte Abläufe erzeugt wird. In diesem Sinne ist bereits die Sprache und ihr Gebrauch ein ritueller Rahmen der Kommunikation von Individuen in einem Zusammenhang (der semantischen und grammatikalischen Ordnung). Diese sprachliche Ordnung ist der Rahmen, in dem personale Identität gewonnen werden kann, aber sie bleibt bei allen Möglichkeiten zu individueller Gestaltung an diesen Rahmen gebunden. Personale Identität ist nur möglich durch die Anerkennung eines kulturellen Rahmens, der durch Rituale immer wieder neu stabilisiert werden muss.

Rituale bestehen also in der Inszenierung von und Teilhabe an Ordnung, Zusammenhang und Einheit, aber dies geschieht paradoxerweise durch das scheinbare Gegenteil von umfassender Ordnung, nämlich durch Unterbrechung. Denn Rituale heben sich vom Alltäglichen ab und unterbrechen den Zeitfluss und das Raumgefühl durch Verschiebung des raumzeitlichen Erlebens in eine Ausnahmesituation. Rituale machen einerseits die «verborgene Regel» offenkundig, sie stellen andererseits die Ausnahme dar. Das scheinbare Paradox löst sich so auf: In der Ausnahme, in der Unterbrechung des Gewohnten, zeigt sich das, was dem Gewohnten zugrunde liegt und Wohnen, also Gewohnheit im Leben, überhaupt erst ermöglicht: eine verborgene und dem ersten Blick nicht erkennbare Ordnung.

Im Ritual werden kognitive und emotionale Sehnsüchte in Aktion ausgelebt, was prekär wäre, wenn nicht durch die Ritualisierung Verlässlichkeit bzw. soziale Akzeptanz durch Verallgemeinerung erzeugt würde. Mehr noch, Rituale antworten auf das psychologische Bedürfnis nach Gewissheit. Denn alle Erfahrungen, wie die von Sinn, Einheit oder Geborgenheit, sind zunächst subjektiv und bleiben dem Zweifel unterworfen. Das Individuum kann für sich selbst nicht wissen, ob eine Erfahrung und die damit verbundene Einsicht «echt», «gültig» und «real» ist. Erfahrungen und Einsichten bedürfen der Bestätigung, indem sie als kohärent bewertet werden. Das ist der Fall, wenn Übereinstimmung mit dem bereits als Wissen akzeptierten Gedächtnisinhalt oder mit dem, was in der Gesellschaft gültig ist, besteht. Kollektive Rituale sichern die Kohärenz und Gewissheit in beiden Perspektiven, und dies ist der psychologische Stabilitätsgewinn, der dem Individuum aus der Teilhabe an Ritualen erwächst.

Symbolisierung


Der Unterschied von Ritual und Zwang liegt im Symbol. Symbolisierung ist die Leistung des menschlichen Denkens schlechthin, sie ist das, was Kultur ermöglicht. Im Symbol schafft sich der Mensch einen Abstand zum unmittelbaren Affekt auf sinnliche Eindrücke, weil eine Abstraktion vom Sinneseindruck möglich wird. Durch Symbolisierung entsteht das, was wir Intention zur Unmittelbarkeit nennen wollen. Sie unterscheidet sich vom unmittelbaren und unwillkürlichen Reflex auf eine Sinnesempfindung durch die gezielte Aufmerksamkeit. Um ein Beispiel zu nennen: Ein starker akustischer Reiz, ein plötzlicher Knall, lenkt den Blick unwillkürlich in die vermutete Richtung. Hingegen ruft ein Türgeräusch, das mit der emotional besetzten Erwartung einer Person (Freund oder Feind) verknüpft ist, eine gezielte aufmerksame Reaktion, eine komplexe und gewusste bzw. «vermittelte Unmittelbarkeit» hervor, die auf Symbolisierung und Gedächtnis beruht. Denn Erwartung ist in symbolischer Form gegenwärtig: Das Etwas wird als ein bestimmtes Etwas wahrgenommen. Der Abstand wird noch einmal verstärkt...