Klassiker des ökonomischen Denkens Band 2 - Von Vilfredo Pareto bis Amartya Sen

von: Heinz D. Kurz

Verlag C.H.Beck, 2011

ISBN: 9783406615429 , 388 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 10,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Klassiker des ökonomischen Denkens Band 2 - Von Vilfredo Pareto bis Amartya Sen


 

Hans-Jürgen Wagener

Vilfredo Pareto


(1848–1923)

1. Leben


Vilfredo Federico Damaso Pareto wurde am 15. Juli 1848 in Paris geboren.[1] Sein Geburtsjahr 1848 reiht ihn ein in jene Generation, die aus der Ökonomie eine exakte Wissenschaft machen wollte: Alfred Marshall (1842–1922), Francis Ysidro Edgeworth (1845–1926), John Bates Clark (1847–1938–1926) haben zusammen mit Pareto das Fundament der modernen Mikroökonomie gelegt, das erst in den 30er Jahren des 20. Jahrhundert weiter vertieft wurde. Nur unwesentlich älter waren Léon Walras (1834–1910), William Stanley Jevons (1835–1882) und Carl Menger (1840–1921), die das Grenznutzenprinzip – wonach nicht der durchschnittliche Nutzen, sondern der Nutzen der letzten eingesetzten Einheit in ökonomischen Entscheidungen wichtig ist – zur Grundlage des ökonomischen Denkens gemacht hatten. Mit Ausnahme der Österreicher hatten sie alle Mathematik studiert oder eine starke Affinität zum mathematischen Argument. So war es auch für Pareto unumstößlich, daß sich die Komplexität der ökonomischen Zusammenhänge nur mit diesem Instrument erfassen lasse.

Sein Vater Raffaele Pareto (1812–1882) trug zwar den Titel eines Marchese di Parigi, war aber ein gutbürgerlicher Ingenieur und Republikaner, was ihn in den 1830er Jahren ins Pariser Exil getrieben hatte, von wo er erst 1852 wieder nach Italien zurückkehrte. Das Adelsprädikat, das nach dem Tod des Vaters auf Vilfredo Pareto überging, hatte Napoleon dem Großvater verliehen. Die Mutter Marie Pareto (1816–1889), geborene Metenier, war Französin. Pareto selbst heiratete erst nach dem Tode seiner Mutter, in erster Ehe Alessandrina Bakounine (1860–1940, nicht verwandt mit dem Anarchisten), von der er sich 1901 trennte, nachdem sie mit dem Koch durchgebrannt war. Die Scheidung war einem italienischen Staatsbürger nicht möglich, und erst 1922 nahm Pareto die Staatsbürgerschaft des Freistaats Fiume an, um kurz vor seinem Tod die langjährige Lebensgemeinschaft mit Jeanne Régis (1879–1948), der Mutter seiner Tochter, zu legalisieren.

Mit 16 machte Pareto in Florenz Abitur und begann ein Studium der Mathematik und Physik in Turin. Nach drei Jahren schloß er dieses ab und setzte seine Ausbildung am gleichen Ort mit dem Studium der Ingenieurswissenschaft fort, das 1869 mit einer Dissertation den Abschluß fand, Thema: Principj fondamentali della teoria della elasticità de’ corpi solidi e ricerche sulla integrazione delle equazioni differenziale che ne differiscono l’equilibrio (Pareto, 1869/1952). Diese eingehende Beschäftigung mit der klassischen Mechanik und ihrem Grundkonzept, dem Gleichgewicht, hatte einen tiefgreifenden Einfluß auf Paretos späteres Herangehen an die theoretische Ökonomie.

Von 1870 bis 1890 arbeitete Pareto zuerst als Ingenieur in einem Eisenbahnunternehmen, dann in der eisenschaffenden Industrie, zuletzt als Generaldirektor der Ferriere Italiane, der Italienischen Eisenwerke. Das Unternehmen war unterkapitalisiert, und Pareto versuchte auf verschiedenen Wegen, das Kapital für die notwendigen Investitionen zu beschaffen, um konkurrenzfähig produzieren zu können. Als seine Spekulationen an den Londoner Börsen zu erheblichen Verlusten führten, legte man ihm den Rücktritt nahe – eines der zahlreichen Beispiele für Ökonomen, die als Spekulanten erfolglos waren. Die Erfahrung wird seine spätere Abneigung gegen Spekulation gefördert haben. Weitere Mißerfolge stellten sich bei gleichzeitigen Bemühungen um eine politische Karriere ein. Er brachte es nicht über den Stadtrat von San Giovanni in Valdarno, dem Sitz der Firma, in der er von 1873–1880 arbeitete, hinaus. Zwei Versuche, sich ins Parlament wählen zu lassen, scheiterten.

So begann 1890 ein neues Leben für Pareto. Im vorangegangenen Dezember hatte er geheiratet, nun lernte er Maffeo Pantaleoni (1857–1924) kennen, der zwar jünger als er, aber bereits angesehener Professor der Politischen Ökonomie war, und mit dem ihn bis zu seinem Tod eine enge Freundschaft verband. Die Briefe Paretos an Pantaleoni sind ein wichtiges Dokument für die Entwicklung seines sozialwissenschaftlichen Denkens (Pareto, 1960).[2] Zwar hatte sich Pareto schon zuvor mit ökonomischen Fragen beschäftigt und gelegentlich Aufsätze veröffentlicht, doch jetzt hatte er Zeit und stürzte sich unter Anleitung Pantaleonis in die Rezeption der neuesten Theorien, vor allem der Schriften Walras’ und des Lehrbuchs von Pantaleoni (1889), und entfaltete eine rege Publikationstätigkeit. Politisch wichtig war ihm vor allem der Kampf gegen Protektionismus und Militarismus.

Schon 1891 kam Pareto auf Vermittlung Pantaleonis mit Walras zusammen. Die beiden hatten Gefallen aneinander gefunden, was jedoch nicht von Dauer sein sollte. Und als Pantaleoni erfuhr, daß Walras aus gesundheitlichen Gründen seinen Lehrstuhl aufgeben wolle, empfahl er ihm Pareto als seinen Nachfolger. Dieser hatte gerade damit begonnen, im Giornale degli Economisti seine erste größere theoretische Arbeit auf Grundlage der Walrasianischen Theorie in fünf Folgen zu veröffentlichen (Considerazioni sui principii fondamentali dell’ economia politica pura, Pareto, 1892–93/2007). Im April 1893 erfolgte die Ernennung zum außerordentlichen Professor an der Universität Lausanne, ein Jahr später zum Ordinarius. Seine Vorlesungen faßte Pareto in seinem ersten Buch Cours d’économie politique (Pareto, 1896–97/1964) zusammen. Die Lehre empfand Pareto allerdings als lästiges Übel, sein eigentliches Interesse galt der Forschung, der Entwicklung der Theorie.

Dazu sah er Gelegenheit, als er 1898 von einem Onkel ein Millionenvermögen erbte, das ihm eine unabhängige Existenz ermöglichte. Damit baute er sich in Céligny im Kanton Genf, wo die Steuern niedriger waren als im Waadtland, die Villa Angora, in der er mit Jeanne Régis und zahlreichen Angorakatzen bis zu seinem Tod lebte. Die Universität Lausanne war zwar bereit, sein Lehrdeputat zu reduzieren, doch dem Wunsch der Emeritierung gab sie erst 1911 statt. Die vermehrte Zeit zum Forschen schlug sich 1902–3 in Les systèmes socialistes (Pareto, 1902–03/1965) und 1906 in seinem ökonomischen Hauptwerk Manuale di economia politica nieder, das zumeist in der erweiterten und verbesserten französischen Übersetzung zitiert wird (Pareto, 1906/1909). Nach der Emeritierung konzentrierte er sich ganz auf sein zweites, soziologisches Hauptwerk, den Trattato di sociologia generale (Pareto, 1916/1935), der 1916 erschien. Bis zu seinem Tod am 19. August 1923 blieb er intensiv tätig, allerdings erfüllt von einem tiefen Pessimismus und mehr und mehr zum mürrischen Sonderling werdend.

Pareto wird immer wieder mit dem Faschismus in Verbindung gebracht. Schuld daran ist wohl Luigi Amorosos (1886–1965) hervorragender Econometrica-Aufsatz von 1938. Im letzten Absatz preist der römische Mathematiker, zur damaligen Zeit ein gläubiger Faschist, Pareto als den Schöpfer eines neuen Mythos und eines anti-demokratischen, anti-humanitären, anti-progressiven und antievolutionären neuen Glaubens: «Bevor die geistige Revolution in den Massen vollzogen wurde, wurde sie in ihm vollzogen ohne erklärte Absicht von seiner Seite; ich möchte fast sagen, gegen seinen Willen.» (Amoroso, 1938, S. 20f.). Es ist schon ein starkes Stück, jemandem, der sein ganzes Leben lang die Fahne der positiven Wissenschaft hoch gehalten hat, Mystizismus zu attestieren. Doch ganz aus der Luft gegriffen sind die Charakterisierungen Amorosos nicht. Paretos Einstellung war anti-demokratisch, er sah im humanitären Sozialismus ein Zeichen von Dekadenz und gab sich anti-progressiv, wenn Fortschritt eine Entwicklung zum Sozialismus bedeutete. Auch die alten Eliten in Italien waren dekadent und das hieß für ihn ablösungsreif. Mussolini und seiner Bewegung gegenüber blieb Pareto jedoch skeptisch. Er hat nur die allerersten Anfänge erlebt, doch warnte er da bereits vor ausländischen Abenteuern, vor Autarkiebestrebungen und der Einschränkung der Pressefreiheit (Pareto, 1960, Bd. III, S. 504). Seine alte Abneigung gegen Protektionismus und Militarismus hatte er nicht vergessen. Gegen eine Diktatur hatte Pareto grundsätzlich keine Einwände, nur müsse sie auf Konsens beruhen – ein typisches paretianisches Paradox: die demokratisch legitimierte Diktatur. Kurzum, die Faschisten mochten mit Amoroso (und übrigens auch Mussolini) in Pareto einen geistigen Lehrmeister und Wegbereiter sehen, er hätte gewiss ihre Politik mit der gleichen Schärfe gegeißelt, die derjenigen ihrer Vorgänger zuteil geworden war.

2. Werk


Es ist üblich, Pareto in den Ökonomen und den Soziologen zu teilen. Der erstere sei von 1890 bis 1909 tätig gewesen, der letztere danach. Das kommt vielleicht dem neoklassischen Hang zu einer aus dem sozialwissenschaftlichen Kontext herausgelösten Ökonomie entgegen, entspricht aber nicht den Intentionen und der Theorie Paretos, der eine integrierte Sozialwissenschaft vor Augen hatte. Es entspricht auch nicht der zeitlichen Verteilung seines Interesses....