Die Analphabetin, die rechnen konnte - Roman

von: Jonas Jonasson

carl’s books, 2013

ISBN: 9783641083083 , 464 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Die Analphabetin, die rechnen konnte - Roman


 

2. KAPITEL

Davon, wie es in einem anderen Teil der Welt zuging, als alles quasi ins Gegenteil umschlug

Nombeko wurde einen Tag nach ihrem fünfzehnten Geburtstag überfahren. Doch sie überlebte. Es sollte besser für sie kommen. Und schlechter. Vor allem aber anders.

Zu den Männern, die später noch ihren Weg kreuzen sollten, gehörte Ingmar Qvist aus Södertälje, Schweden, neuntausendfünfhundert Kilometer entfernt, definitiv nicht. Aber sein Schicksal sollte sie dennoch mit voller Wucht treffen.

Es ist schwierig, genau zu bestimmen, wann Ingmar den Verstand verlor, denn das war ein schleichender Prozess. Sicher ist, dass das Ganze im Herbst 1947 schon gut ins Rollen gekommen war. Und dass weder er noch seine Frau verstehen wollten, was los war.

Ingmar und Henrietta heirateten, als fast auf der ganzen Welt noch Krieg herrschte, und bezogen ein Pächterhäuschen in den Wäldern bei Södertälje knapp dreißig Kilometer südlich von Stockholm.

Er war im niederen Staatsdienst, sie eine strebsame Schneiderin, die ihr Gewerbe zu Hause ausübte.

Zum ersten Mal begegneten sie sich vor Saal 2 des Gerichts Södertälje, wo ein Streit zwischen Ingmar und Henriettas Vater verhandelt wurde, weil Erstgenannter eines Nachts auf eine Wand des Parteilokals der Kommunisten in meterhohen Buchstaben die Parole »Lang lebe der König!« gemalt hatte. Kommunismus und Königshäuser vertragen sich im Allgemeinen ja nicht so gut, daher gab es natürlich schon im Morgengrauen ein Riesengeschrei, als der starke Mann der Kommunisten in Södertälje – Henriettas Vater – die Bescherung entdeckte.

Ingmar wurde rasch gefasst, sogar sehr rasch, weil er sich nämlich nach vollbrachter Tat auf eine Parkbank in unmittelbarer Nähe des Polizeigebäudes schlafen gelegt hatte, Farbe und Pinsel im Arm.

Im Gericht hatte sich Elektrizität zwischen dem Angeklagten Ingmar und der Zuschauerin Henrietta aufgebaut. Wahrscheinlich lag es auch ein bisschen daran, dass sie sich zur verbotenen Frucht hingezogen fühlte, aber vor allem daran, dass Ingmar so … voller Leben war. Im Gegensatz zu ihrem Vater, der nur herumlief und darauf wartete, dass alles endgültig in die Binsen ging, damit er und der Kommunismus endlich ans Ruder kamen, zumindest in Södertälje. Ihr Vater war schon immer von revolutionärer Gesinnung gewesen, war aber obendrein verbittert und finster geworden, nachdem er am 7. April 1937 die schwedische Radiolizenz Nummer neunhundertneunundneunzigtausendneunhundertneunundneunzig gezeichnet hatte. Tags darauf feierte man einen Schneider in Hudiksvall, dreihundertdreißig Kilometer entfernt, weil er die millionste Lizenz gezeichnet hatte. Der Schneider wurde nicht nur berühmt (er durfte im Radio auftreten!), sondern erhielt zur Erinnerung auch noch einen Silberpokal im Wert von sechshundert Kronen. Und Henriettas Vater guckte in die Röhre.

Dieses Erlebnis konnte er nie verwinden. Er verlor seine (immer schon begrenzte) Fähigkeit, die Dinge mit einem gewissen Humor zu nehmen, was ihm am allerwenigsten glückte, als er die Huldigung an König Gustaf V. an der Wand des kommunistischen Parteilokals sah. Er vertrat die Partei höchstpersönlich vor Gericht und forderte achtzehn Jahre Gefängnis für Ingmar Qvist, welcher aber nur zu einem Bußgeld von fünfzehn Kronen verurteilt wurde.

Es waren der Widrigkeiten so viele im Leben von Henriettas Vater. Erst das mit der Radiolizenz. Dann die relative Fehlkalkulation im Gericht Södertälje. Obendrein seine Tochter, die sich diesem Königstreuen prompt in die Arme warf. Und dann auch noch der verdammte Kapitalismus, der ja wohl grundsätzlich auf die Füße zu fallen schien.

Als Henrietta außerdem beschloss, Ingmar kirchlich zu heiraten, brach der Kommunistenführer von Södertälje für immer mit seiner Tochter, woraufhin Henriettas Mutter mit Henriettas Vater brach und auf dem Bahnhof von Södertälje einen neuen Mann kennenlernte, einen deutschen Militärattaché, mit dem sie kurz vor Kriegsende nach Berlin zog. Man hat nie wieder von ihr gehört.

Henrietta wollte Kinder, am liebsten so viele wie möglich. Das hielt Ingmar prinzipiell auch für eine gute Idee, nicht zuletzt, weil er den Produktionsprozess an sich sehr schätzte. Zum Beispiel ihr allererstes Mal, im Auto von Henriettas Vater, zwei Tage nach der Gerichtsverhandlung. Das war vielleicht ein Ding, auch wenn Ingmar das Abenteuer damit bezahlte, dass er sich im Keller seiner Tante verstecken musste, während sein zukünftiger Schwiegervater ganz Södertälje nach ihm absuchte. Ingmar hätte das benutzte Kondom eben nicht im Auto vergessen dürfen.

Tja, aber passiert war passiert, und es war doch immerhin ein Segen, dass er diesen Karton mit amerikanischen Militärkondomen gefunden hatte, denn die Dinge mussten ja in der richtigen Reihenfolge geschehen, damit nichts Falsches dabei herauskam.

Womit Ingmar nicht meinte, dass er zuerst Karriere machen und ein solides Familieneinkommen sichern wollte. Er arbeitete in der Post von Södertälje, oder bei der Königlich Schwedischen Post, wie er selbst immer sagte. Sein Lohn war durchschnittlich und es sah ganz so aus, als würde das auch so bleiben.

Henrietta verdiente fast doppelt so viel wie ihr Mann, denn sie war geschickt und flink mit Nadel und Faden und hatte einen großen, treuen Kundenkreis. Die Familie hätte gut leben können, wäre da nicht Ingmar gewesen mit seinem Talent, Henriettas Ersparnisse immer schneller durchzubringen.

Kinder gern, wie gesagt, aber zuerst musste Ingmar seine Lebensaufgabe erfüllen, und die erforderte seine volle Konzentration. Bis diese Aufgabe erfüllt war, durfte es keine Nebenprojekte geben, die mit der Sache nichts zu tun hatten.

Henrietta protestierte gegen den Sprachgebrauch ihres Mannes. Kinder waren das Leben und die Zukunft, keine Nebenprojekte.

»Wenn das so ist, dann kannst du deinen Karton mit den Soldatenkondomen mitnehmen und auf dem Küchensofa schlafen«, erklärte sie.

Ingmar wand sich. Natürlich hatte er nicht gemeint, dass Kinder nebensächlich waren, es war eben nur so, dass … ach, Henrietta wusste doch Bescheid. Die Sache mit Seiner Majestät dem König. Ingmar musste diese Sache einfach zuerst erledigen. Es würde ja auch nicht ewig dauern.

»Bitte, liebste, beste Henrietta. Können wir nicht auch heute Nacht zusammen schlafen? Und vielleicht ein bisschen für die Zukunft üben?«

Und natürlich schmolz Henriettas Herz. Wie schon so oft in der Vergangenheit und wie noch so oft in der Zukunft.

Was Ingmar seine Lebensaufgabe nannte, war das Projekt, dem König die Hand zu schütteln. Es hatte mit dem Wunsch angefangen, sich dann aber zu einem unverrückbaren Ziel entwickelt. Wann genau es in reine Besessenheit umschlug, war wie gesagt nicht leicht zu bestimmen. Da war es leichter zu erklären, wann und wo das Ganze begonnen hatte.

Am Samstag, dem 16. Juni 1928, wurde Seine Majestät der König Gustaf V. siebzig Jahre alt. Der damals vierzehnjährige Ingmar Qvist fuhr mit seinen Eltern nach Stockholm, um erst vor dem königlichen Schloss ein Fähnchen zu schwenken und anschließend in den Skansen zu gehen – wo man Bären und Wölfe hielt!

Doch die Pläne mussten ein wenig abgeändert werden. Wie sich herausstellte, herrschte am Schloss viel zu großes Gedränge, also stellte sich die Familie in ein paar hundert Meter Entfernung an die Straße, über die angeblich die königliche Kutsche kommen sollte, der offene Landauer mit dem König und seiner Victoria.

Und so war es auch. Worauf sich alles viel schöner entwickelte, als Ingmars Eltern es sich hätten ausmalen können. Denn direkt neben der Familie Qvist standen ungefähr zwanzig Schüler des Internats Lundsberg, die hier warteten, um Seiner Majestät einen Blumenstrauß zu überreichen und für die Unterstützung zu danken, die die Schule nicht zuletzt dem Engagement von Kronprinz Gustaf Adolf zu verdanken hatte. Es war so vereinbart, dass der Landauer hier kurz anhalten und der König aussteigen, den Strauß entgegennehmen und sich bei den Kindern bedanken sollte.

Alles lief wie geplant, der König bekam seine Blumen, aber als er sich umdrehte, um wieder einzusteigen, fiel sein Blick auf Ingmar. Und er blieb stehen.

»Was für ein hübsches Kerlchen«, sagte er, machte zwei Schritte auf den Jungen zu und zauste ihm das Haar. »Warte, hier hab ich was für dich«, sagte er und zog aus der Innentasche seiner Jacke eine Karte mit Jubiläumsbriefmarken, die gerade zum Ehrentag des Königs erschienen waren.

Er reichte dem jungen Ingmar die Briefmarken, lächelte und meinte: »Du bist mir ja wirklich ein Zuckerstückchen!« Dann zauste er ihm noch einmal die Haare, bevor er wieder in die Kutsche zu seiner Königin stieg, die ihn schon wütend anfunkelte.

»Hast du dich auch ordentlich bedankt, Ingmar?«, fragte seine Mutter, als sie sich davon erholt hatte, dass Seine Majestät der König ihren Sohn berührt – und ihm auch noch ein Geschenk gemacht hatte.

»Äh … nee«, stotterte Ingmar, der wie vom Donner gerührt mit seinen Briefmarken dastand. »Nee, ich hab gar nix gesagt. Er war irgendwie … zu fein.«

Die Briefmarken wurden natürlich Ingmars allerliebster Besitz. Und zwei Jahre später fing er in der Post von Södertälje an. Zunächst auf dem rangniedrigsten Posten in der Buchhaltung – um sechzehn Jahre später auch nicht einen Schritt weitergekommen zu sein.

Ingmar war unendlich stolz auf den großen, stattlichen Monarchen. Jeden Tag schaute Gustaf V. majestätisch haarscharf an ihm...