Kuss der Finsternis

von: Kresley Cole

LYX, 2011

ISBN: 9783802588051 , 448 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Kuss der Finsternis


 

1

Schloss Gornyi, Russland

Gegenwart

Zum zweiten Mal in ihrem Leben zögerte Kaderin die Kaltherzige, einen Vampir zu töten.

Im letzten Moment eines lautlosen, tödlichen Hiebs hielt sie inne, sodass ihr Schwert nur wenige Zentimeter über dem Hals ihres Opfers verharrte – sie hatte bemerkt, dass er seinen Kopf in die Hände stützte.

Sie sah, wie sich sein riesiger Körper anspannte. Als Vampir wäre es ein Leichtes für ihn, sich zu translozieren – einfach zu verschwinden. Stattdessen hob er sein Gesicht, um sie mit dunkelgrauen Augen anzublicken – so grau wie der Himmel, kurz bevor ein Sturm losbrach. Überraschenderweise zeigten sie keinerlei Spuren jener Rotfärbung, die ein sicheres Zeichen für die unersättliche Blutgier eines Vampirs war. Das bedeutete, dass er nie so lange von einem Lebewesen getrunken hatte, bis es tot war. Noch nicht.

Mit diesen Augen sah er sie flehentlich an, und ihr wurde klar, dass er sich nach dem Ende sehnte. Er wollte den Todesstoß, den auszuführen sie eigens in sein baufälliges Schloss gekommen war.

Ohne den geringsten Laut zu verursachen, hatte sie ihm aufgelauert und sich auf einen Kampf mit einem bösartigen Raubtier vorbereitet. Kaderin war zusammen mit einigen anderen Walküren in Schottland gewesen, als sie den Anruf erhalten hatten, dass in Russland ein Vampir in einem Schloss hause und ein Dorf terrorisiere. Nur zu gern hatte sie sich freiwillig gemeldet, um den Blutsauger zu vernichten. In ihrem Koven war sie die erfolgreichste Vampirjägerin. Sie widmete ihr Leben einer einzigen Aufgabe: die Erde von Vampiren zu befreien.

In Schottland hatte sie gerade – vor diesem Ruf nach Russland – drei von ihnen umgebracht.

Also, wieso zögerte sie jetzt? Warum zog sie langsam ihr Schwert zurück? Er wäre doch nur einer von Tausenden, die sie bereits getötet hatte; auch ihm würde Kaderin die Fänge herausbrechen und sie zu den anderen auf ihre Trophäenschnur fädeln.

Als sie das letzte Mal gezögert hatte, hatte dies zu einer dermaßen grauenhaften Tragödie geführt, dass ihr Herz für alle Zeit gebrochen war.

Mit tiefer, rauer Stimme fragte der Vampir: „Wieso zögerst du?“ Der Klang seiner eigenen Worte schien ihn zu erschrecken.

Ich weiß nicht, wieso. Unbekannte Empfindungen durchzuckten ihren Körper. Ihr Magen zog sich zusammen. Ihre Lunge lechzte nach Luft, als ob sich ein Band fest um ihre Brust gelegt hätte. Ich begreife einfach nicht, wieso.

Draußen wehte der Wind, glitt über die Berge und seufzte durch den hohen Saal dieser düsteren Vampirhöhle. Unsichtbare Risse in den Wänden ließen die eisige Morgenluft eindringen. Als er sich nun erhob und zu seiner vollen imposanten Größe aufrichtete, fing ihre Klinge das flackernde Licht der Kerzen ein und erhellte seine Gestalt.

Das ernste Gesicht war hager und kantig. Andere Frauen würden es wahrscheinlich für attraktiv halten. Sein schwarzes Hemd war zerschlissen und stand offen, sodass seine Brust und ein Großteil seines wohlgeformten Oberkörpers zu sehen waren. Abgetragene Jeans saßen tief auf seiner schlanken Hüfte. Der Wind zerrte an seinen Hemdschößen und zerwühlte sein dichtes schwarzes Haar. Außergewöhnlich gut aussehend … Aber das sind die Vampire, die ich töte, schließlich oft.

Sein Blick richtete sich auf die Spitze ihres Schwerts. Dann, als ob er die Bedrohung durch ihre Waffe vollkommen vergessen hätte, musterte er ihr Gesicht, wobei seine Augen auf jedem Detail verweilten. Seine unverfrorene Begutachtung verunsicherte Kaderin, und sie umfasste den Schwertgriff mit aller Kraft – was sie sonst nie tat.

Ihr Schwert, das sie mit einer Diamantfeile zu meisterlicher Schärfe schliff, schnitt ohne große Anstrengung durch Knochen und Muskeln. Mit lockerem Handgelenk geführt, war sein Schwung so perfekt, als ob es eine Verlängerung ihres Armes wäre. Sie hatte es nie so fest gehalten.

Schlag ihm den Kopf ab. Ein Vampir weniger. Ein winzig kleiner Schritt in dem Bemühen, diese Spezies in Schach zu halten.

„Wie ist dein Name?“ Seiner Sprechweise nach zu urteilen könnte er dem Adel angehören, doch zugleich nahm sie einen vertrauten Akzent wahr. Estnisch. Obwohl Estland im Osten an Russland grenzte und seine Einwohner manchmal für eine Art nordeuropäische Russen gehalten wurden, erkannte sie den Unterschied und fragte sich, was ihn so weit von seiner Heimat weggeführt hatte.

Sie neigte den Kopf zur Seite. „Warum willst du das wissen?“

„Ich möchte gern den Namen der Frau kennen, die mich von alldem erlösen wird.“

Er wünschte sich zu sterben. Nach allem, was sie durch seinesgleichen erlitten hatte, lag es ihr absolut fern, dem Vampir in irgendeiner Art und Weise gefällig zu sein. „Du gehst davon aus, dass ich dir den Todesstoß versetzen werde?“

„Sollte ich mich da irren?“ Er verzog leicht seine Lippen, aber wenn das ein Lächeln war, dann ein trauriges.

Wieder packte sie das Schwert fester. Natürlich würde sie es tun. Keine Frage. Töten war ihr einziger Lebenszweck. Es war ihr gleichgültig, ob seine Augen rot waren oder nicht. Irgendwann würde er trinken, um zu töten, und er würde der Blutgier erliegen.

Es gab keine Ausnahmen.

Er ging um einen Stapel gebundener Bücher herum – nur ein kleiner Teil von Hunderten von Bänden, die im ganzen Raum verstreut lagen, mit Titeln in russischer und, ja, estnischer Sprache – und lehnte seinen gewaltigen Körper gegen die baufällige Wand. Es sah wirklich nicht danach aus, als würde er auch nur einen Finger zu seiner Verteidigung rühren.

„Aber bevor du das tust, sprich noch einmal. Deine Stimme ist wunderschön. So schön wie dein Gesicht.“

Sie schluckte und bemerkte mit Schrecken, dass ihre Wangen heiß wurden. „Zu wem gehörst du …?“ Sie verstummte, als er die Augen schloss, als ob es reine Glückseligkeit bedeutete, ihrer Stimme zu lauschen. „Zu den Devianten?“

Er riss die Augen wieder auf und blickte sie zornig an. „Ich gehöre zu niemandem. Vor allem nicht zu ihnen.“

„Aber auch du warst einmal menschlich, oder nicht?“ Die Devianten waren eine Armee, beziehungsweise ein Orden, der aus gewandelten Menschen bestand. Sie weigerten sich, Blut von lebenden Wesen zu trinken, da sie glaubten, dass dieser Akt für die hemmungslose Gier nach Blut verantwortlich sei. Indem sie Abstinenz übten, hofften sie, nicht wie die wahnsinnigen Vampire der Horde zu enden. Die Walküren hielten ihre Aussichten eher für gering.

„Ja, aber ich habe keinerlei Interesse an diesem Orden. Und du? Du bist auch kein Mensch, oder?“

Sie ignorierte seine Frage. „Warum hältst du dich in diesem Schloss auf?“, erkundigte sie sich. „Du hast die Dorfbewohner in Angst und Schrecken versetzt.“

„Ich habe diesen Besitz auf dem Schlachtfeld gewonnen, und das vollkommen rechtmäßig, also bleibe ich. Und ich habe ihnen niemals auch nur das Geringste zuleide getan.“ Er wandte sich ab und murmelte: „Ich wünschte, ich würde ihnen keine Angst einjagen.“

Kaderin musste diese Tötung endlich hinter sich bringen. In nur drei Tagen würde sie bei der Talisman-Tour antreten, einer tödlichen Version der Unsterblichen von Das große Rennen. Neben der Jagd auf Vampire war die Tour das Einzige, wofür sie lebte, und sie musste sich noch um ihre Reisevorbereitungen kümmern und einige Vorräte und Material beschaffen. Trotzdem hörte sie sich sagen: „Sie haben mir erzählt, dass du allein hier lebst.“

Er sah sie an und nickte kurz. Sie spürte, dass diese Tatsache ihn in Verlegenheit brachte, als ob er sich schuldig fühlte, weil er keine Familie besaß.

„Seit wann?“

Er zog seine breiten Schultern mit gespielter Gleichgültigkeit hoch. „Ein paar Jahrhunderte.“

Wie mochte das sein, so lange in Einsamkeit zu leben?

„Die Menschen im Dorf haben mich gerufen“, fuhr sie fort, auch wenn sie ihm keine Erklärung schuldete. Die Bewohner dieses entlegenen Dorfes gehörten dem Mythos an – ein buntes Gemisch von Unsterblichen und Fabelwesen, die sich vor den Menschen verbargen. Viele von ihnen verehrten die Walküren und zollten ihnen Tribut, aber das war nicht der Grund, wieso Kaderin an diesen abgeschiedenen Ort gereist war.

Die Aussicht, auch nur einen einzigen Vampir töten zu können, hatte sie angezogen. „Sie haben mich angefleht, dich umzubringen.“

„Wann immer es dir beliebt.“

„Warum tötest du dich nicht selbst, wenn es das ist, was du willst?“, fragte sie.

„Das ist … kompliziert. Aber du bewahrst mich vor einem solchen Ende. Ich weiß, dass du eine ausgezeichnete Kriegerin bist …

„Woher weißt du, wer ich bin?“

Er wies mit einem Kopfnicken auf ihr Schwert. „Auch ich war einmal ein Krieger, und deine außergewöhnliche Waffe verrät viel.“

Die eine Sache, auf die sie stolz war – das Einzige in ihrem Leben, das ihr noch geblieben war und dessen Verlust sie nicht ertragen würde –, und ihm war seine Vortrefflichkeit aufgefallen.

Er näherte sich ihr und senkte seine Stimme. „Schlag zu, schönes Geschöpf. Sei gewiss, dass kein Ungemach über dich kommen kann, wenn du einen wie mich tötest. Es gibt keinen Grund zu zögern.“

Als ob...