Der Himmel aus Bronze - Die Steine des Gorr. Roman

von: Viola Alvarez

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2009

ISBN: 9783838700014 , 464 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Der Himmel aus Bronze - Die Steine des Gorr. Roman


 

Eins


Der Tod der Fünfzehn


Diese furchtbaren Bilder, wenn ich nachts die Augen schließe. Jede Nacht, immer noch.  

Fünfzehn Männer liegen in einer Reihe nebeneinander, wie zerbrochene Zweige. Als ob ein Kind mit ihnen gespielt hätte. Als hätte jemand an ihnen zu zählen geübt.  

Der Tod?  

In einer Reihe geradezu wie aufgebahrt. Schlafende Krieger, der lange Schlaf der Toten. Und alle glänzen sie. Sie glänzen vom Eis, das ihre Körper und Gesichter überzogen hat.  

Es sieht still aus, friedlich.  

Wenn nur das Geschrei nicht wäre. Gellendes Geschrei eines ganzen Dorfes. Ich höre die sich überschlagenden Stimmen: »Tod!«, kreischt es.  

Die zänkische Berra, sie wohnt ganz nahe am Morgentor und bildet sich viel darauf ein, alle Neuigkeiten zuerst zu wissen.  

»Der Tod ist gekommen«, schreit eine andere Frau, »der Tod ist vor unsere Tür gekommen!«  

Es ist das Jahr des Raben im zweiten Kreis des Wolfs.  

Die Alten sagten, dass dies ein Jahr der Kriege werden könnte, ein Jahr voll Übel.  

Wir haben viel von dem vergessen, was die Alten wussten; vergessen jeden Tag mehr – fast alle, fast alles.  

Ich bin Hayso. Mein Name birgt Gefahr für alle, die ihn hören.  

Der Morgen der fünfzehn Toten.  

Mir wird kalt, als ich mich vor die Tür schiebe.  

»Tod«, gellen weitere Schreie.  

Ich renne los, stolpernd, renne auf das Morgentor zu wie die anderen, und bleibe hinter ihnen zurück wie immer.  

Sie liegen vor dem Morgentor.  

Ich hätte eigentlich schneller da sein müssen, aber ich wohne nicht in der Hütte der Junggesellen. Noch nicht, sage ich mir vor. Jedoch im Innersten weiß ich, sie werden mich nie dort einziehen lassen. Meine Hoffnung ist längst Täuschung geworden.  

Aber manche Winter überlebt man nur mit Hoffnung. Und dieser Winter war der kälteste von allen.  

So kalt, als hätten die Götter gerade erst die Kälte erfunden. Als wäre sie noch unbenutzt, noch nicht erprobt in ihrer verheerenden Grausamkeit.  

Brennende Kälte, trocken, dass sie einen in der Nase sticht wie Hornnadeln in die Finger, wenn man nicht aufpasst beim Nähen. Oder auch, wenn man nicht gut sehen kann – wie ich.  

»Tod!« Lautere Schreie: »Tod!«  

Dabei schreien sie nicht aus Trauer, weil die Männer tot sind, denn keiner von uns kennt sie. Sie sind fremd, vollkommen fremd. Unbekannte Tote.  

Das Dorf trauert nicht. Die Menschen fürchten sich. Sie schreien, weil diese Fünfzehn fremd sind. Ja, und weil sie – vereist sind. Vereist, in diesem trockensten aller Winter. Es ist der Mond der weißen Nächte, aber seine Nächte sind diesmal nie weiß geworden. Keine Schneeflocke. Nur Kälte, unbarmherzige, nicht abbrechende Kälte. Die Götter schickten uns eine Botschaft. Eine Botschaft ihres Zorns.  

Ich schob mich unbemerkt durch die Schreienden, das war nicht schwer, denn niemand achtete je auf mich. Ich ging vorsichtig auf die Knie und kroch ganz nahe an die Toten heran. Ich musste an alles ganz nah herangehen, damit ich etwas sehen konnte. Die vereisten Toten, ihre Gesichter waren ernst und traurig.  

Es waren schöne Gesichter starker Männer. Ich beugte mich über einen von ihnen nahe herab, näher an sein Gesicht, und zuckte entsetzt zurück.  

Der Mann unter dem klaren Eis hatte keine Augäpfel mehr. Mein Herz stolperte, mir wurde schlecht. Ich beugte mich zitternd über den Toten neben ihm. Er auch nicht. Ich krabbelte auf allen vieren an der Reihe der Toten entlang. Keiner von ihnen. Fünfzehn Männer ohne Augen, blind in ihrem stillen Schlaf unter dem Eis.  

Jetzt wollte ich auch schreien, aber kein Laut kam aus meiner Kehle. Was hatten diese Männer, bevor sie starben, gesehen? Welches Bild hatte mit ihnen sterben sollen?  

Ein Mensch ohne Augen, es war die tiefste Blindheit, die ich mir vorstellen konnte. Offene, leere Höhlen, dunkel und dumpf in der Helle des Tages, ungeschützt und erbarmungslos gleichzeitig.  

Unter dem grellen Schreien der Dorfbewohner, das sich über mir formte, kroch ich herum und sah mir die Fünfzehn an.  

Sie waren sehr ähnlich, fast gleich gekleidet. Weiße Wolfsfänge auf dem Kopf, alle hell und sauber gekämmt. Sie trugen fein gewebte Hosen und Hemden aus gegerbtem Hirschleder darüber, keines geflickt.  

Nur die Gürtel, die sie trugen, waren unterschiedlich.  

Sie waren bestickt, bei jedem in einer anderen Farbe und mit anderen Zeichen. Die Zeichen waren zu klein für mich. Dennoch trank ich ihren Anblick geradezu in mich hinein.  

Auf der Stirn, genau in der Mitte über den leeren Augenhöhlen, trugen die Männer alle ein Mal.  

Es war ein Kreis, umgeben von kleinen Punkten. Ich versuchte, sie zu zählen, aber sie waren zu klein, verschwammen vor meinen unfähigen Augen, siedelten in ineinanderfließenden Gruppen an der Linie des Kreises. Innen? Außen? Wie viele? Ich konnte es nicht ausmachen, fünf, sechs …  

»Hayso!« Jemand rief meinen Namen. Es war meine Tante, die mich suchte. Ich duckte mich.  

Das Angstgeschrei verlangte nach einer Bahn, einem Gesang, in den es ufern könnte. Aber unsere Gesänge waren schon fast vergessen. Vergessen kommt schnell.  

Wenn es noch Älteste gegeben hätte, hätten sie es uns vielleicht erklären können, was es bedeutete, die Männer so zu finden, dachte ich. Sie hätten einen Schutzgesang gewusst oder einen Gegenzauber. Vielleicht …  

»Hayso!«, kreischte meine Tante. »Habt ihr den Jungen gesehen?«, fragte sie herum. Niemand machte sich die Mühe, ihr zu antworten. Ich hielt die Luft an und wartete.  

Es gab bei uns keine Ältesten mehr, keinen einzigen. Keine Seher, keine Knochenrenker, keine Sterndeuter, keine Kräuterweisen.  

Wir hätten gewarnt sein sollen; Zeichen der Götter:  

Zum Ende des letzten Sommers, bereits im Mond der Zweiten Frucht, hatte der große Ginsterbusch draußen am Abendtor zur Unzeit geblüht.  

Und Wynerr, der Alte, hatte gesagt: »Das ist ein schlechtes Zeichen. Wenn es im Mond der Zweiten Frucht noch eine Blüte gibt, kann nichts daraus gedeihen.«  

Zwei Tage später war Wynerr tot.  

Wynerr war unser Knochenrenker. Bald danach waren die anderen Weisen auch gestorben, noch bevor der Winter so kalt wurde, wie er jetzt war. In nur einem Herbst wurden wir zu einem Dorf ohne Älteste – und damit: ohne Geschichte. Und damit: ohne Zukunft.  

Jetzt wusste keiner irgendetwas, was zu sagen war zu den Fünfzehn. Schreien ist kein Sagen. Und die Gesänge konnte keiner ausführen, nicht ohne die Alten. Die Alten hatten gewartet, zu lange, sie hatten versäumt, sich rechtzeitig Nachfolger heranzubilden.  

Mein Dorf war ein dummes Dorf, das weiß ich jetzt. Dumm und ängstlich. Heute weiß ich, dass Angst nichts mit Klugheit oder Dummheit zu tun hat. Heute weiß ich, was geschehen war, um es dumm zu machen – und ängstlich.  

Heute weiß ich manches, was ich vielleicht lieber nicht wüsste. Die Götter haben mir keine Wahl gelassen.  

Ich denke an den halbblinden Jungen von damals, der ängstlich um die Toten herumschlich, versuchte, das Unbegreifliche zu begreifen: Hätte dieser Junge gewusst, welch unfassbares Geheimnis an seine Tür gekommen war, was hätte er getan? Wie viele Wege gibt es für uns? Einen? Mehrere?  

Auch wenn diese Bilder in fast jeder Nacht in meinem Schlaf wiederkehren: Es war kein Traum, damals.  

Fünfzehn fremde Männer, tot und mit Eis überzogen, lagen vor dem Morgentor. Das war die Wirklichkeit.  

Der Wächter der Zweiten Dunkelheit musste auf seiner Wache geschlafen haben, denn er hatte sie nicht kommen und nicht sterben sehen. Und den Zauber, der das Eis über sie ausleerte, hatte er auch nicht gesehen.  

Da kam Rinn.  

»Still«, befahl er, noch bevor er durchs Tor war. Er sah gar nicht weiter nach den Fünfzehn, schrie nur den Wächter an. »Hundsfott!«, brüllte er und schlug nach ihm.  

»Du hast geschlafen!« Rinns Schlag ging ins Leere, der Wächter hatte sich geduckt.  

Er warf sich auf den Boden und stammelte Entschuldigungen. »Ich habe nicht geschlafen. Es war ein Zauber, sieh doch! Eis! Wie können sie mit Eis überzogen sein?«  

Aber Rinn wollte nicht sehen. Er trat nach ihm und fluchte, als würde das helfen, das Geheimnis zu lüften.  

»Ich lass dich in Jauche ertränken«, drohte Rinn dem Wächter an und trat weiter.  

»Tod, der Tod ist gekommen, es sind die Krieger des Todes«, kreischte Berra, und die anderen Weiber fielen ein:  

»Krieger des Todes«, jaulten sie in Wechselgesängen.  

Rinn ließ schwitzend von dem Wächter ab, der rollte sich ächzend zur Seite und rannte in den Wald. Was sollte er auch machen? Gegen Rinn kam niemand an.  

Rinn war der Firstho der Dorfes. Kein wirklicher Häuptling, er nannte sich nur so seit dem Winterbeginn. Wir nannten ihn schließlich alle so. Niemand widersprach ihm, egal, was er tat oder sagte.  

Es widersprach ihm niemand, weil alle Angst...