Blinde Weide, schlafende Frau - Erzählungen

von: Haruki Murakami

DuMont Buchverlag , 2011

ISBN: 9783832186012 , 416 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Blinde Weide, schlafende Frau - Erzählungen


 

Blinde Weide, schlafende Frau (S.11-12)

Als ich die Augen schloss, traf mich der Duft des Windes. Ein Maiwind, üppig wie eine Frucht, mit rauer Schale, weichem Fruchtfleisch und zahllosen Samenkörnchen. Das Fruchtfleisch barst in der Luft, die Samen prasselten wie milder Schrot auf meine bloßen Arme und hinterließen einen Anflug von Schmerz.
»Wie spät ist es?«, fragte mich mein Cousin. Er war etwa zwanzig Zentimeter kleiner als ich und musste zu mir aufschauen, wenn er mit mir sprach.
Ich sah auf die Uhr. »Zwanzig nach zehn.«
»Geht deine Uhr richtig?«, fragte er.
»Ich glaube schon.«
Er ergriff mein Handgelenk und schaute auf die Uhr. Seine schlanken glatten Finger waren erstaunlich stark. »War die teuer?«
»Nein, ziemlich billig«, sagte ich und warf erneut einen Blick auf den Fahrplan.
Keine Antwort.
Als ich meinen Cousin ansah, schaute er verlegen zu mir auf. Die weißen Zähne in seinem geöffneten Mund wirkten wie verkümmerte Knochen.
»Sie war ganz billig«, sagte ich noch einmal sehr deutlich und sah ihm dabei ins Gesicht. »Es ist eine billige Uhr, aber sie geht genau.«
Mein Cousin nickte wortlos.

Mein Cousin hört auf dem rechten Ohr nicht gut. Gleich als er in die Schule kam, wurde er von einem Baseball am Ohr getroffen, und seitdem ist sein Gehör geschädigt, aber normalerweise beeinträchtigt ihn das nicht. Er geht auf eine normale Schule und führt ein vollkommen normales Leben. Im Klassenzimmer sitzt er immer ganz rechts in der ersten Reihe, damit er das linke Ohr dem Lehrer zuwenden kann. Seine Noten sind gar nicht übel. Allerdings gibt es Zeiten, in denen er Geräusche relativ gut hört, und Zeiten, in denen das nicht so ist. Sie wechseln wie Ebbe und Flut. Und sehr selten, zweimal im Jahr vielleicht, hört er mit beiden Ohren so gut wie nichts mehr. Es ist, als würde die Stille in seinem rechten Ohr so tief, dass sie für das linke jedes Geräusch verschluckt. Dann kann er natürlich kein normales Leben mehr führen und muss für eine Weile der Schule fern bleiben. Auch die Ärzte können sich nicht erklären, warum das auftritt. Sie haben einen solchen Fall noch nie erlebt, also können sie nichts dagegen unternehmen.

»Eine Uhr geht nicht unbedingt genauer, nur weil sie teuer war«, sagte mein Cousin, wie um sich selbst davon zu überzeugen. »Ich hatte mal eine ziemlich teure Uhr, aber sie ging ständig vor oder nach. Die habe ich bekommen, als ich auf die Mittelschule kam, aber nach einem Jahr hab ich sie verloren. Seitdem komme ich ohne Uhr aus. Sie kaufen mir keine mehr.«
»Ist das nicht unpraktisch, ohne Uhr?«, fragte ich.
»Was?«, fragte mein Cousin.
»Ob das nicht unpraktisch ist, so ohne Uhr?«, wiederholte ich und sah ihn dabei an.
»Eigentlich nicht«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Ich wohne ja nicht allein irgendwo in den Bergen. Es gibt immer jemanden, den ich nach der Uhrzeit fragen kann.«
»Stimmt auch wieder«, sagte ich.
Für eine Weile schwiegen wir.
Mir war klar, dass ich nett zu ihm sein und mit ihm plaudern sollte, um ihn ein bisschen aufzulockern, bevor wir im Krankenhaus ankamen. Aber ich hatte ihn vor fünf Jahren zum letzten Mal gesehen; in diesen fünf Jahren war aus einem Neunjährigen ein Vierzehnjähriger geworden, und ich war nun nicht mehr zwanzig, sondern fünfundzwanzig. Diese Zeitspanne hatte so etwas wie eine unsichtbare Barriere zwischen uns errichtet, die schwer zu überwinden war. Selbst wenn ich versuchte, etwas Notwendiges zu sagen, kamen mir die richtigen Worte nicht über die Lippen. Und jedes Mal, wenn ich dazu ansetzte, etwas zu sagen, und es dann doch wieder verschluckte, sah mein Cousin ein wenig verstört zu mir auf, das linke Ohr kaum merklich in meine Richtung geneigt.

»Wie spät ist es jetzt?«, fragte er.
»Zehn Uhr neunundzwanzig«, antwortete ich.
Als der Bus endlich in Sicht kam, war es zehn Uhr zweiunddreißig.