Brennender Midi / Gefährliche Côte Bleue - Zwei Provence-Krimis in einem eBook

von: Cay Rademacher

DuMont Buchverlag , 2019

ISBN: 9783832184872 , 624 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 14,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Brennender Midi / Gefährliche Côte Bleue - Zwei Provence-Krimis in einem eBook


 

Die Todgeweihten grüßen dich!

Man spürt den Tod, wie man den stechenden Blick eines Fremden zwischen den Schultern spürt, dachte Capitaine Roger Blanc. Er schlug den Kragen seiner Lederjacke hoch und sah sich unbehaglich um. Er fühlte sich wie im Innern eines Vulkans, dessen Krater allerdings einst von Menschen geschaffen worden war. Rings um ihn benetzte feiner Regen graue, altersschiefe Steine, die Reihe um Reihe gen Himmel wuchsen. Blanc stand erst seit ein, zwei Minuten zwischen den Sitzen inmitten des römischen Amphitheaters von Arles und wünschte sich doch schon wieder von hier fort.

In Arles hatten sich in der Antike Gladiatoren zum Vergnügen des Publikums bekämpft. Hier waren im Mittelalter Verbrecher auf alle erdenklichen Arten hingerichtet worden. Und heutzutage starben hier im Sommer schwarze Bullen bei den spanischen Stierkämpfen, die in Arles so selbstverständlich veranstaltet wurden, als würde die Provence immer noch dem König von Katalonien unterstehen. Die mürben Steine des Amphitheaters dünsteten Jahrhunderte des Todes aus.

Freitagnachmittag. Blanc verkroch sich tiefer in seine alte Lederjacke. Er zog sein Handy hervor und blickte auf das Display: 16. November, Punkt 16.00 Uhr. Der niedrige Himmel spannte sich über das hundert Meter weite Steinoval, grau und stumpf wie ein altes Tuch. Zwischen den steil ansteigenden Sitzreihen verloren sich nur wenige Besucher: Rentner aus Deutschland, Holland, Japan, Damen in grellvioletten Regenponchos und ihre Begleiter in himalajatauglichen Funktionsjacken, die ihre Spiegelreflexkameras gepackt hielten wie Faustfeuerwaffen. Als Blanc wenige Augenblicke zuvor über den Vorplatz gehastet war, die Hand am Schirm seiner Baseballcap gegen Windböen und Regenschauer, war er an einem langhaarigen jungen Gitarrenspieler vorbeigekommen, der unter einer Art Zelt hockte und schnelle Musik der Gitanes spielte, die er mit elektronischen Rhythmen aus einem Verstärker unterlegt hatte. Seine Melodien wehten bis in das antike Innere, ein seltsam deplatzierter Klang.

Und doch, dachte Blanc, trotz der eifrigen Rentner, trotz der leeren Steinstufen, der lächerlichen Musik, des Nieselregens: Man konnte im Amphitheater irgendwie noch immer die Hitze des Sommers ahnen, den flirrenden Sand der Arena, die Angstlustschreie der Zuschauer, den Geruch nach Blut.

Er wünschte, Aveline hätte einen anderen Treffpunkt vorgeschlagen.

Ein gestohlenes Wochenende in Arles: Der Flic und die Richterin, ein unter dem Allerweltsnamen »Dupont« reserviertes Hotelzimmer, Hoffnung auf ein paar Stunden Leidenschaft – ein schäbiger Ehebruch. Mehr als dreieinhalb Milliarden Frauen lebten auf der Welt, und keine war für ihn gefährlicher als Aveline Vialaron-Allègre. Blanc wusste nicht mehr, wie oft er sich schon geschworen hatte, ihre hoffnungslose Affäre zu beenden. Doch dann musste er bloß ihre Stimme im Handy hören oder bei einer zufälligen Begegnung auf den Fluren des Justizpalastes von Aix-en-Provence ihren Duft einatmen, und ihn schwindelte.

Das Novemberwochenende war wie ein unverhofftes Geschenk über Blanc gekommen. Avelines Mann war nicht, wie sonst oft, aus Paris in den Süden gekommen. Der Staatssekretär hatte rechtzeitig genug die Seiten gewechselt und sich Macrons neuer Partei angeschlossen. So war er einer der wenigen Politiker, der von der Flutwelle der Wahlen im Frühsommer nicht aus Ministerien und dem Parlament gespült worden war, im Gegenteil: Jean-Charles Vialaron-Allègre galt als einer der erfahrensten Köpfe der neuen Regierung und damit als graue Eminenz im Innenministerium. Nur beglich er dafür den Preis, den jeder entrichten musste, dessen Macht wuchs: Er bezahlte mit seiner Zeit. Vialaron-Allègre musste das ganze Wochenende über in der Hauptstadt mit dem Premier und dem Innenminister am Text eines neuen Antiterrorgesetzes feilen.

Da Aveline am Gericht gerade Ermittlungen gegen einen Islamisten führte, sollte sie ihre Ergebnisse am Montagmorgen im Innenministerium vortragen. Von Freitagnachmittag, wenn sie den Justizpalast in Aix-en-Provence verließ, bis Sonntagabend, wenn sie den Zug Richtung Paris besteigen würde, wäre Aveline deshalb, wie sie Blanc in einer SMS geschrieben hatte, »vom Radarschirm verschwunden«.

Sie hatte dieses Treffen vorgeschlagen: Arles lag gut vierzig Kilometer von ihrem Haus in Caillouteaux und Blancs heruntergekommener Ölmühle in Sainte-Françoise-la-Vallée entfernt. Nah genug, um rasch dort hinzufahren, aber nicht so nahe, dass sie fürchten mussten, dort einem Nachbarn oder Kollegen über den Weg zu laufen. Außerdem waren die Monumente von Arles bei Touristen so beliebt, dass selbst an düsteren Herbsttagen viele Besucher durch die Gassen strömten, genug jedenfalls, dass zwei Besucher mehr nicht auffielen. Und Arles hatte einen TGV-Bahnhof mit einer direkten Verbindung in die Hauptstadt. Erst am Sonntag um kurz nach acht würde Avelines Zug nach Paris abfahren.

Auch Blanc war mit der Eisenbahn gekommen. Sein alter Renault Espace war vor einigen Tagen wieder einmal kollabiert. Er hatte ihn seinem Nachbarn Jean-François Riou zum Herumbasteln in die Garage gestellt. Riou hatte das Gesicht verzogen, aber versprochen, den Minivan irgendwann in den nächsten Tagen wieder zum Laufen zu bringen. Für sein Rendezvous hatte Blanc notgedrungen den Zug von Miramas nach Arles nehmen und deshalb rechtzeitig aufbrechen müssen. Freitagmittag, so früh war er nie zuvor von der Arbeit verschwunden. Den meisten Kollegen auf der Gendarmeriestation von Gadet schien das aber nicht aufgefallen zu sein.

Sein Freund und Partner Marius Tonon war seit zwei Wochen offiziell im Urlaub, tatsächlich jedoch auf Entziehungskur, was außer Blanc allerdings kaum jemand wusste. Und selbst er hatte nicht einmal eine Telefonnummer; er vermutete, dass sie die Alkoholiker in der Entgiftungsklinik isolierten und es Marius deshalb verboten war, sich zu melden. Manchmal fragte er sich, ob sein Kollege den Kampf gegen seine Dämonen je gewinnen und tatsächlich irgendwann zurückkehren würde. Zugleich freute er sich, dass Marius nach Jahren der Sucht zumindest diesen Schritt endlich gewagt hatte.

In Gadet gab es deshalb nur eine Kollegin, in deren Büro er zum Abschied vorbeigesehen hatte. Fabienne Souillard hatte von ihrem Computermonitor aufgeblickt, ihn erstaunt angesehen und bloß halb im Scherz gefragt: »Hast du ein Date?«

Blanc hatte etwas von »Familienangelegenheiten« gemurmelt, was genau genommen ja nicht einmal gelogen war.

Nun zog er wieder sein Nokia hervor und checkte Anrufe und Meldungen: nichts von Fabienne. Gut so, alles ruhig auf der Gendarmerie, niemand würde ihn zurückbeordern. Nichts von seinen Kindern Eric und Astrid, und dieses eine Mal erleichterte es ihn, dass sie sich nicht sonderlich für ihn interessierten. Nichts von Riou oder einem anderen Nachbarn. Sie waren vom Radarschirm verschwunden, Aveline und er.

Er sah sich suchend um. Vorhin, als er das Monument betreten hatte, war ihm eine Schautafel aufgefallen, die einen alten Stich zeigte. Im Mittelalter war das Amphitheater eine Stadt in der Stadt gewesen, Dutzende winzige Häuser waren in, auf und vor dem Oval gewuchert wie Pilze auf einem umgestürzten Baum. Im 19. Jahrhundert hatten Denkmalschützer diese Häuser abgerissen, um das antike Skelett freizulegen. Nur drei eckige Wachtürme aus dem Mittelalter hatten sie stehen lassen, drei wuchtige Zacken auf einer steinernen Krone. Blanc blickte zum höchsten Turm – von dort würde er einen besseren Überblick haben. Vielleicht schlenderte Aveline schon hier herum und er entdeckte sie bloß nicht. Er ging durch die Sitzreihen, nickte einem erschöpften älteren Ehepaar zu, das sich auf den unbequemen Plätzen niedergelassen hatte. Über die von all den Bau- und Abrissarbeiten der Jahrhunderte aufgerissenen Steinstufen hatte man für die Stierkämpfe moderne Sitzreihen gespannt, eine gerüstartige Konstruktion aus hölzernen, braun gebeizten Bänken, die auf Stahlrohre geschraubt worden waren. Blanc ging über diese Anlage, mit jedem noch so vorsichtigen Schritt knarzte und vibrierte das riesige Gestell. Endlich erreichte er die schief getretenen steinernen Treppenstufen, die ihn bis auf den Turm hinaufführten.

Blanc blickte schließlich vom höchsten Punkt des Amphitheaters auf die Dächer von Arles. An einem altersgebeugten Haus gegenüber der Arena hing ein Balkon am obersten Stockwerk. Er war so schmal, dass dort nur ein winziger Tisch und zwei Bistrostühle Platz fanden, die dem Novemberregen trotzten. Einen flüchtigen Moment träumte er davon, mit Aveline auf so einem winzigen Balkon zu sitzen, an einem klaren Sommermorgen, zwei dampfende Kaffeeschüsseln in den Händen und die alte Stadt zu ihren Füßen. Er konnte sie auf dem Vorplatz nirgendwo ausmachen. Er schlenderte zur gegenüberliegenden Seite des Turms und musterte aus großer Höhe das Innere des Amphitheaters.

Doch auch hier hielt er vergebens nach einer schlanken Gestalt Ausschau, nach schwarzen Haaren, olivenfarbener Haut, nach einem raschen, selbstsicheren Gang, nach einer Gauloises in der feingliedrigen Hand, der linken, Aveline war Linkshänderin, und sie kümmerte sich nicht um Rauchverbote in öffentlichen Räumen. Er wusste nicht, was sie tragen würde, aber ihre Kleidung wäre ohne Zweifel eleganter als die funktionale Buntheit der anderen Besucher. Blanc war blond, über einsneunzig groß, und sein Körper war von unzähligen Laufkilometern bis auf Knochen und Muskeln ausgewrungen worden. Sie waren Exoten zwischen den älteren Bildungstouristen.

Irgendwann musste Aveline doch kommen, durch irgendeine Gasse der Altstadt musste sie schlendern. Sein Blick schweifte über die...