Der Verräter - Thriller

von: Ingar Johnsrud

Blanvalet, 2019

ISBN: 9783641186975 , 672 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 4,99 EUR

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Der Verräter - Thriller


 

2

Acht Wochen später

Als der liebe Gott dem Menschen die Trostlosigkeit zeigen wollte, schuf er den schneefreien Februar in Oslo.

Ein Stein hatte sich unter seiner Schuhsohle verkeilt, als Polizeihauptkommissar Fredrik Beier den Mittelaltersaal von Schloss Akershus betrat. Geräuschvoll machte er sich auf den Holzdielen bemerkbar.

Die Festtafel war für zweiundsiebzig Personen gedeckt. Viele der Gäste hatten bereits Platz genommen, unter Porträts von Feldmarschällen und verstorbenen Monarchen. Sein Namensvetter, der dänische König Frederik IV., glotzte arrogant vom Rücken eines sich aufbäumenden Pferdes herab. Weiter vorn entdeckte er Kafa Iqbals dunklen Locken­kopf und musste feststellen, dass die zur Uniform gehörende Mütze die Kollegin besser kleidete als ihn. Fredrik erinnerte sich nicht daran, wann er die Galauniform der Polizei zum letzten Mal getragen hatte, oder die zur Ausstattung gehörenden stumpfen Schuhe, vermutete jedoch, dass es anlässlich einer Beerdigung war.

Er erkannte den Minister und weitere hochrangige Leute aus dem Justizministerium, die Chefs des Polizeidirektorats, Polizeipräsident Trond Anton Neme sowie den geschniegelten Leiter des Dezernats für Gewaltverbrechen, Polizeidirektor Sebastian Koss. Kafa hatte einen Stuhl he­rvorgezogen, und Fredrik begriff, dass sie seine Tischnachbarin sein würde.

»Das ist ja ein höllischer Lärm, Beier. Versuchst du, dich durch das Fundament zu graben?«

Die Stimme gehörte einem kräftigen Kerl mit rundem grauweißem Gesicht und struppigen Haaren, die unter der Mütze hervorlugten und der ihm am Tisch direkt gegenübersaß.

»Franke«, sagte Fredrik und nickte kurz. »Ich dachte, du wärst heute Abend für den Abwasch eingeteilt?«

Franke Nore lachte dunkel und klopfte seiner Tischnachbarin, einem schmächtigen Spatz aus dem Ministerium, etwas zu heftig auf den Arm.

»Dreißig Jahre in Uniform«, sagte er, mit einem vielsagenden Blick auf den Orden an seiner Brust. »Sie müssen wissen, Fräulein, als ich in der Abteilung anfing, dachten wir ein Computervirus wäre eine Geschlechtskrankheit. Und die Diskette das Symptom.« Er lachte aus vollem Hals und reckte sich nach dem Begrüßungsdrink. »Ich habe ge­sehen, wie aus Laufburschen Mafiabosse wurden, Finanzjongleure mit Golduhr und Kokainbart, die als aidskranke Heroinwracks endeten.« Seine Hand zitterte leicht, als er das Glas an die Lippen setzte.

»Sie hatten sicher eine lange und interessante Karriere«, erwiderte die Frau. »Aber jetzt gehen Sie vermutlich bald in Rente?«

»Ja, das hoffen die Schweine«, antwortete Franke und legte den Arm auf ihre Stuhllehne.

»Sie wird um Jahre gealtert sein, bevor der Abend vorbei ist«, flüsterte Kafa. Fredrik grinste und löste den Kieselstein mit der Silbergabel aus der Schuhsohle.

Beinahe vier Jahre waren inzwischen seit der ersten Begegnung der beiden Ermittler vergangen. Kafa war Expertin für religiösen Fundamentalismus bei der Sicherheitspolizei gewesen und hatte ihn bei den Ermittlungen zu dem Massaker an einer christlichen Sekte unterstützt. Später hatte sie sich beim Dezernat für Gewaltverbrechen, Fredriks Abteilung, beworben, wo sie seither arbeitete. Das war der Grund, warum sie hier saßen, im Romerikssaal der Festung. Vor gut einem Jahr hatten Fredrik und Kafa einen Terroranschlag auf den Ministerpräsidenten des Landes, Simon Riebe, abgewendet. Heute Abend hatten Riebe und die Regierung als Dank zum Abendessen eingeladen. Erscheinen war Pflicht. Da Wahljahr war, hatte der Ministerpräsident außerdem dafür gesorgt, dass eine erkleckliche Anzahl an Wirtschaftsbossen, Politikern und Journalisten anwesend war.

Als Riebe den Saal betrat, verebbten die Gespräche allmählich. Er nutzte die Tür am unteren Ende des Saals und nahm sich auf seinem Weg ausreichend Zeit. Wer keinen Händedruck abbekam, dem wurde entweder ein keckes Zwinkern oder wenigstens ein Kopfnicken zuteil, abhängig davon, ob der Ministerpräsident den Betreffenden als einen Sympathisanten oder einen potenziellen Störfaktor betrachtete. Auf halbem Wege hielt Riebe inne. Der Mann, der sich erhob und seine Hand ergriff, war allen bekannt: der Chef der Arbeiterpartei, Trym Dahl. Fredrik stellte fest, wie ähnlich sich die beiden Männer waren, der Ministerpräsident und der Oppositionsführer: beide Ende Fünfzig, leicht ergraut und mit hagerem Gesicht, so wie man sie auf Fotos von Marathonläufern sieht, die ein Stück hinter der Dreißig-Kilometer-Grenze an Herzinfarkt sterben. Sie trugen dunkle, schmal geschnittene Anzüge. Riebes Krawatte war privatisierungsblau, Dahls in Arbeiterblut getaucht.

»Hauptkommissar«, nickte Riebe Fredrik zu, als er an ihnen vorbeiging und Kafa die Hand entgegenstreckte. »Und Iqbal, wenn mir das Erinnerungsvermögen keinen Streich spielt? Ist mit Ihrer Tochter alles in Ordnung?«

Kafa schüttelte verwundert den Kopf. »Der Name stimmt, aber ich habe keine Tochter«, sagte sie schnell. Der Ministerpräsident sah auf. »Entschuldigen Sie. Zu viele Gesichter, wissen Sie. Auf jeden Fall möchte ich mich bei Ihnen für Ihren Einsatz fürs Vaterland bedanken. Heute Abend sind wir hier, um Sie zu feiern.« Er schlug die Hacken zusammen, positionierte sich hinter der hohen Lehne des Stuhls am Ende des Tisches und wartete darauf, dass im Saal vollständig Ruhe einkehrte.

Nach dem Hauptgang fand Fredrik endlich Gelegenheit, sich aus dem Staub zu machen. Im Fackelschein tanzten die Schatten über den Hof der Festung, während der Paraffingeruch in der Nase stach. Die steinernen Wände verstärkten das Geräusch seiner Schritte, und er hielt erst an, als er die Brücke über den Wallgraben außerhalb der Festungsmauer überquert hatte. Er legte den Kopf in den Nacken und lauschte dem Singen einer Schnur, die gegen einen Fahnenmast peitschte. Der Himmel war dunkel, der Mond, wie mit einem Fettstift hinter die Wolkendecke gemalt, zeigte sich lediglich als schlanke Silhouette. Dicke Flocken landeten auf seinen Wangen und legten sich ihm auf die Brillengläser. Erbarmte sich der Schnee endlich dieser Stadt?

Auf der Holzbrücke hinter ihm war der Klang hoher Absätze zu vernehmen.

»Fredrik Beier?«

Er senkte das Kinn und drehte sich um. Die Frau, die ihm die Hand entgegenstreckte, hatte ein schmales, hübsches Gesicht. Die blonden Haare reichten ihr bis über die Schultern, und er wusste, dass er sie schon einmal gesehen hatte.

»Ja?«

»Ich habe gesehen, dass Sie zu den Ehrengästen gehören und gehofft, Sie hier zu treffen.« Ihre Hand war knochig, wie die einer alten Frau, auch wenn sie wohl kaum die Dreißig überschritten hatte. »Benedikte Stoltz«, sagte sie und schob den Unterkiefer beharrlich nach vorn.

Jetzt wusste Fredrik, woher er sie kannte. Benedikte Stoltz war Reporterin bei TV 2. Er hatte sie in einer Dokumentation über Korruption in der Entwicklungshilfe gesehen. Sie hatte einen riesigen Aufruhr zur Folge gehabt.

»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte er. »Ich bin jedoch nicht befugt, mit Journalisten zu sprechen.«

»Es heißt, Sie sind ein ehrlicher Bulle.«

Fredrik war groß gewachsen, fast eins neunzig, jedoch brauchte er den Nacken nicht zu beugen, um ihr in die Augen zu sehen. »Sind Sie deshalb hier? Um nach ehr­lichen Leuten zu suchen?« Er lachte trocken. »Sie wissen, dass der Saal dort drinnen bis zum Bersten mit Politikern gefüllt ist?«

Sie lachte nicht. »Sie sind der Sohn von Ken Beier, richtig?«

Fredrik neigte den Kopf zur Seite. Was war das hier? Sein Vater war vor über zwanzig Jahren gestorben. Ein Bürokrat, der sein Leben hinter einem Schreibtisch verbracht hatte.

»Ihr Vater hat für die Amerikaner gearbeitet, wenn ich mich nicht irre? Bei der Botschaft?«

»Ja?«

»Ich arbeite an einer Aufstellung. Es geht um ein Militärprojekt, eine Kooperation zwischen norwegischen und amerikanischen Behörden während des Kalten Krieges. In diesem Zusammenhang ist der Name Ihres Vaters aufgetaucht. Ich versuche zu verstehen, worin seine Arbeit bestanden hat.«

Fredrik lächelte höflich und gab ihr ein Zeichen, dass er zur Feier zurückmüsse. Ein kühler Luftzug begleitete sie entlang der Wände der überdachten Toreinfahrt.

»Sorry, ich weiß nicht, was mein Vater genau getrieben hat, aber glauben Sie mir, er war kein spannender Typ. Ich vermute, Sie jagen den falschen Ken Beier.«

»Vielleicht«, entgegnete die Journalistin. »Vielleicht. Sagt Ihnen der Name Ravnli etwas?«

»Nein.«

Auf der Schlosstreppe standen drei Männer im Anzug und rauchten. Sie mussten das Geräusch ihrer Schritte gehört haben, zumal einer von ihnen, ein dicker Kerl mittleren Alters mit hervortretenden Augen und geröteten Wangen, in ihre Richtung starrte. Dann ballte er die Faust und reckte seinen fetten Mittelfinger in die Höhe.

»Scheiße«, sagte Fredrik. »Hat der Drecksack mir gerade den Finger gezeigt?«

»Die Geste hat vermutlich mir gegolten«, beruhigte ihn Benedikte trocken. »Wir hatten vorhin eine kleine Meinungsverschiedenheit.«

»Eine Meinungsverschiedenheit?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Einfach eine Diskussion. Wissen Sie, wer das ist?«

»Nein«, sagte Fredrik.

»Henry Falck, stellvertretender Direktor der Unternehmensberatung Faarmand-Bernier. Er arbeitet an einem Projekt für die Behörden, aber keiner rückt damit heraus, worum es sich dabei handelt. Das ganze Projekt unterliegt strengster Geheimhaltung. Gerüchten zufolge bahnt sich ein Skandal an.«

»Und Sie sind hier um … ein bisschen zu spionieren. Ich...